Als mit dem französischen Linguisten JP Masson und dem englischen Künstler Lloyd zwei Fremde im Sommer 1979 die abgelegene irische Insel im Atlantik betreten, wissen die Bewohnerinnen noch nicht, was sie davon halten sollen. Einerseits machen die beiden den Insulanern Versprechungen, andererseits
bringen sie doch Unruhe auf die unberührte Insel. Gerade, weil sie sich so spinnefeind sind. Lloyd…mehrAls mit dem französischen Linguisten JP Masson und dem englischen Künstler Lloyd zwei Fremde im Sommer 1979 die abgelegene irische Insel im Atlantik betreten, wissen die Bewohnerinnen noch nicht, was sie davon halten sollen. Einerseits machen die beiden den Insulanern Versprechungen, andererseits bringen sie doch Unruhe auf die unberührte Insel. Gerade, weil sie sich so spinnefeind sind. Lloyd geht es vornehmlich darum, die Klippen der Insel auf die Leinwand zu bringen, Masson setzt sich für den Erhalt der irischen Sprache ein. Insbesondere der 15-jährige James findet Zugang zum Maler, der ihn schon bald unter seine Fittiche nimmt und ihn von einer Künstlerkarriere in England träumen lässt. Doch im Hintergrund brodelt der Nordirland-Konflikt so heiß wie selten zuvor...
"Die Kolonie" ist der zweite Roman von Audrey Magee, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Nicole Seifert bei Nagel und Kimche erschienen ist. Mit ihm stand sie auf der Longlist für den Booker Prize 2022. Es ist ein hinreißender Roman geworden, der sowohl sprachlich überzeugt, aber auch in der Figurenzeichnung und inhaltlich keine Abstriche macht. In seiner Gesamtheit ist "Die Kolonie" wohl eines der stärksten Bücher der letzten Jahre.
Ungemein originell ist beispielsweise die auch graphisch unterschiedliche Darstellung der beiden Perspektiven Massons und Lloyds. Während beim Linguisten JP die Sprache fließt und sich einzelne Sätze schon einmal über ganze Seiten hinziehen, denkt Lloyd stets in Bildern und seine Kapitel sehen selbst wie kleine Kunstwerke aus. Da hängen Satzfragmente in der Luft oder die Zeile bricht einfach mal weg. Auch die Landschaftsbeschreibungen sind fantastisch. Magee und Übersetzerin Seifert erwecken die Insel zum Leben, ganz plastisch schildern sie Flora und Fauna dieser karg-schönen Insel. Und obwohl ich normalerweise kein Freund von zahlreichen Dialogen bin, sind diese in "Die Kolonie" bemerkenswert pointiert, immer wieder auch mal komisch und oft berührend.
Thematisch gelingt es der irischen Autorin sehr gut, das vermeintlich beschauliche Inselleben mit den immer zahlreicher werdenden Toten und Verletzten der nordirischen Troubles zu verbinden. Zunächst durch erschaudernd sachliche, historische Schilderungen von IRA-Attentaten und Gegenschlägen der Loyalisten. Später rücken diese fast unmerklich an die Insel heran, weil die Insulaner ständig Radio hören und sich mehr und mehr darüber unterhalten. Hauptgrund dafür ist, dass der Künstler Lloyd seinem begabten Schüler James den Floh ins Ohr gesetzt hat, ihn doch zu einer gemeinsamen Ausstellung nach London zu begleiten, wo Iren im Jahre 1979 verständlicherweise nicht gerade gern gesehen waren.
Dieser James ist übrigens ein Musterbeispiel für die exzellente Figurenzeichnung Magees. Klug und empathisch nähert sich die Autorin den nie schwarz-weiß dargestellten Charakteren, verzeiht ihnen auch ihre Fehler. Und vor allem verurteilt sie niemanden. James ist ein Junge von anrührender Ehrlichkeit, dessen Träume eines anderen, moderneren Lebens man nahezu durchgehend spüren kann. Und auch die beiden Fremden, bei denen man relativ schnell eine Egozentrik erkennt, haben im Grunde durchaus hehre Ansinnen. Während Lloyd die Ursprünglichkeit der Insel und ihrer Bewohnerinnen malerisch festhalten will, geht es Masson um den Erhalt der irischen Sprache.
Der Umgang mit dieser Minderheitensprache ist neben den Troubles ein zentrales Thema des Romans. Dramaturgisch setzt Magee sie bemerkenswert in Szene, lässt das Irische immer dann ohne Übersetzung für sich stehen, wenn Lloyd im Raum ist. Dadurch bekommt man als Leser nicht nur ein Gefühl für diese wundervolle Sprache, sondern auch die Gelegenheit sich mit ihr auseinanderzusetzen, indem man sich die Abschnitte selbst übersetzt. Und auch der Kolonialismus findet natürlich seinen Einzug in "Die Kolonie" - vor allem, aber nicht nur in den Auseinandersetzungen zwischen dem Franzosen JP und dem Engländer Lloyd.
Möchte man überhaupt etwas an diesem Gesamtkunstwerk kritisieren, dann ist es die Tatsache, dass bei der Schilderung der Troubles vornehmlich Taten der IRA und viel seltener die Kriminalität der Loyalisten dargestellt wird. Vielleicht ist dies aber auch der damaligen Nachrichtenlage geschuldet.
Insgesamt ist "Die Kolonie" ein herausragender Roman, dem es mit wunderbarer Sprache gelingt, komplexe Themen berührend und emotional darzustellen und dabei die Leserinnen zum Mitdenken auffordert. Reif für die Insel ist man nach der Lektüre ohnehin.