John R. Searle, einer der führenden Philosphen der USA, untersucht in diesem Buch diejenigen Bestandteile der Welt, die Tatsachen nur dank menschlicher Übereinkunft sind - wie Geld, Ehe, Eigentum oder Regierung. Solche Tatsachen haben eine objektive Existenz nur deshalb, weil wir glauben, daß sie existieren. Die Frage lautet indessen: Wie können biologische Lebewesen, wie wir es sind, eine objektive gesellschaftliche Realität schaffen?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.1997Das Rohe und das Gedachte
Geld nennt seinen eigenen Wert - Und John R. Searle will die Wirklichkeit nicht verdampfen sehen
John R. Searle ist der Dashiel Hammett der Philosophie. Wie in dessen hartgesottenen Kriminalromanen wird in Searles Analysen nicht lange um den heißen Brei herumgeredet; von Anfang bis Ende wird Klartext gesprochen. Und wenn es sein muß, wird auch schon einmal hart ausgeteilt oder scharf geschossen.
Searle machte sich zunächst in der Sprachphilosophie einen Namen: als einer der Begründer der Sprechakttheorie. Seit Mitte der siebziger Jahre hat er sich dann mehr und mehr der Philosophie des Geistes zugewandt, um die Theorie der Sprechhandlungen in eine umfassendere Theorie der Intentionalität einzubetten. Satzäußerungen und intentionale Geisteszustände verbindet es, daß sie auf Gegenstände und Sachverhalte gerichtet und so auf die Wirklichkeit bezogen sind. In den vieldiskutierten Büchern "Intentionalität" (1983; deutsch 1987) und "Die Wiederentdeckung des Geistes" (1992; deutsch 1993, siehe F.A.Z. vom 5. Oktober 1993) hat Searle seine Bewußtseinsphilosophieim Detail entwickelt. Dort ging es immer auch um die Frage, wie eine geistige Wirklichkeit, eine Welt des Bewußtseins und der Intentionalität in eine Welt hineinpasse, die von biologischen Wesen wie uns bevölkert ist und letztlich aus materiellen Partikeln besteht.
Wie im Laufe der Zeit immer deutlicher wurde, steht eine (moderate) naturalistische Grundüberzeugung hinter allen Arbeiten des amerikanischen Philosophen: Wir leben in genau einer Welt, und nicht in mehreren disparaten Reichen der Natur, des Geistes, des Sozialen et cetera. In seinem neuen Buch "The Construction of Social Reality", das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, wagt sich Searle an die Seinsweise sozialer und institutioneller Tatsachen, die ähnlich wie Sprache, Bedeutung und Geist prima facie Schwierigkeiten für das Weltbild eines Naturalisten aufwerfen. Die Ausgangssituation beschreibt er in seiner bewährt gradlinigen Art wie folgt: "Wir leben in einer Welt, die vollständig aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht. Einige von ihnen sind in Systemen organisiert. Einige dieser Systeme sind lebende Systeme, und einige dieser lebenden Systeme haben Bewußtsein entwickelt. Mit Bewußtsein einher geht Intentionalität, die Fähigkeit des Organismus, sich Gegenstände und Sachverhalte in der Welt zu repräsentieren." Die philosophische Leitfrage des neuen Buches muß vor diesem Hintergrund lauten: "Wie können wir im Rahmen dieser Ontologie die Existenz gesellschaftlicher Tatsachen erklären?" Oder etwas anschaulicher: "Wie kann es eine objektive Welt des Geldes, des Eigentums und der Ehe, von Regierungen, Wahlen, Footballspielen, Cocktailpartys und Gerichtshöfen geben in einer Welt, die gänzlich aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht und in der einige Teilchen zu Systemen organisiert sind, die bewußte biologische Lebewesen sind wie wir selbst?"
Wie Searle zu zeigen versucht, kann die Natur der gesellschaftlichen und institutionellen Realität im Rückgriff auf drei grundlegende Konzepte geklärt werden: die Zuweisung von Funktionen, kollektive Intentionalität und konstitutive Regeln. Funktionen sind seiner Ansicht nach keine immanenten Merkmale von Gegenständen, sondern existieren nur im Hinblick auf die Interessen von Benutzern und Beobachtern. Die Entwicklung von kollektiven Absichten und Anerkennungen ermöglicht nun insbesondere auch die kollektive Zuweisung von Funktionen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Zuschreibung eines allgemein anerkannten Status, mit dem eine Funktion verbunden ist. Die Form der Zuweisung neuer Statusfunktionen wird durch die Formel für konstitutive Regeln repräsentiert: "X zählt als Y in dem Kontext K." Um eines von Searles Lieblingsbeispielen zu benutzen: Vom "Bureau of Engraving and Printing" ausgegebene Scheine zählen als Geld in den Vereinigten Staaten. Solche Regeln regulieren nicht einfach Praxen oder soziale Institutionen, sie konstituieren sie.
Die institutionelle Wirklichkeit besteht demnach aus einer komplexen Menge von Funktionen, die gewissen Dingen zugewiesen werden, wobei die Phänomene diese Funktionen nicht schon aufgrund ihres materiellen Aufbaus ausüben können; wesentlich ist vielmehr die kollektive Akzeptanz des auferlegten Status. Aus diesen einfachen Bausteinen kann Searle eine allgemeine Theorie institutioneller Tatsachen von beträchtlicher Reichweite errichten: Sie umfaßt Einrichtungen wie die Ehe oder das Eigentum ebenso wie Sprachen, Regierungen oder die Menschenrechte.
Mit Searles Naturalismus war stets ein robuster Realismus verknüpft. So setzt gerade seine Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Unterscheidung zwischen sozialen und institutionellen Tatsachen einerseits und rohen Tatsachen andererseits voraus. Eine solche Unterscheidung und der mit ihr verbundene Realismus bezüglich roher Tatsachen waren in den letzten Jahrzehnten vielfältigen Zweifeln und Angriffen ausgesetzt. Den Schlußteil des Buches widmet Searle daher der Verteidigung eines externen Realismus, also der Auffassung, daß es eine Wirklichkeit gebe, die vollkommen unabhängig davon besteht, ob und wie wir sie denkend und sprechend repräsentieren. Gegen "phänomenalistische Idealisten", denen zufolge die Wirklichkeit samt und sonders aus Bewußtseinszuständen besteht, macht Searle geltend, daß mit dem normalen Verständnis von Äußerungen in einer öffentlichen Sprache Voraussetzungen einhergehen, die auf die Anerkennung einer von unseren Repräsentationen unabhängigen Seinsweise der Dinge hinauslaufen, kurz: auf einen Realismus. Gegen "Sozialkonstruktionisten", nach denen es überhaupt nur institutionelle Tatsachen gebe, da die gesamte Wirklichkeit unsere Schöpfung sei, erinnert er daran, "daß eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit eine Wirklichkeit voraussetzt, die von allen gesellschaftlichen Konstruktionen unabhängig ist, weil es etwas geben muß, woraus die Konstruktion konstruiert wird."
In diesen Abschnitten zeigt sich Searle wieder einmal im guten wie im schlechten als Mann fürs Grobe. Zwar beweist er in der weitverzweigten und oft undurchsichtigen Realismus-Antirealismus-Debatte ein gutes Gespür dafür, wo der Hund begraben liegt; aber mehr als einmal beschleicht einen denn doch der Verdacht, daß er es sich mit manchen seiner Gegner zu leicht macht. Wie dem auch sei, bei der Rezeption dieses Buches darf man in jedem Fall auf zweierlei gespannt sein: Wie wird das antirealistische Lager auf Searles Argumente und Provokationen reagieren? Und vor allem: Wie werden die Sozialwissenschaftler vom Fach Searles ebenso einfache wie nüchterne Analyse der logischen Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufnehmen? OLIVER R. SCHOLZ
John R. Searle: "Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit". Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997. 249 S., br., 24,80 DM.
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Geld nennt seinen eigenen Wert - Und John R. Searle will die Wirklichkeit nicht verdampfen sehen
John R. Searle ist der Dashiel Hammett der Philosophie. Wie in dessen hartgesottenen Kriminalromanen wird in Searles Analysen nicht lange um den heißen Brei herumgeredet; von Anfang bis Ende wird Klartext gesprochen. Und wenn es sein muß, wird auch schon einmal hart ausgeteilt oder scharf geschossen.
Searle machte sich zunächst in der Sprachphilosophie einen Namen: als einer der Begründer der Sprechakttheorie. Seit Mitte der siebziger Jahre hat er sich dann mehr und mehr der Philosophie des Geistes zugewandt, um die Theorie der Sprechhandlungen in eine umfassendere Theorie der Intentionalität einzubetten. Satzäußerungen und intentionale Geisteszustände verbindet es, daß sie auf Gegenstände und Sachverhalte gerichtet und so auf die Wirklichkeit bezogen sind. In den vieldiskutierten Büchern "Intentionalität" (1983; deutsch 1987) und "Die Wiederentdeckung des Geistes" (1992; deutsch 1993, siehe F.A.Z. vom 5. Oktober 1993) hat Searle seine Bewußtseinsphilosophieim Detail entwickelt. Dort ging es immer auch um die Frage, wie eine geistige Wirklichkeit, eine Welt des Bewußtseins und der Intentionalität in eine Welt hineinpasse, die von biologischen Wesen wie uns bevölkert ist und letztlich aus materiellen Partikeln besteht.
Wie im Laufe der Zeit immer deutlicher wurde, steht eine (moderate) naturalistische Grundüberzeugung hinter allen Arbeiten des amerikanischen Philosophen: Wir leben in genau einer Welt, und nicht in mehreren disparaten Reichen der Natur, des Geistes, des Sozialen et cetera. In seinem neuen Buch "The Construction of Social Reality", das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, wagt sich Searle an die Seinsweise sozialer und institutioneller Tatsachen, die ähnlich wie Sprache, Bedeutung und Geist prima facie Schwierigkeiten für das Weltbild eines Naturalisten aufwerfen. Die Ausgangssituation beschreibt er in seiner bewährt gradlinigen Art wie folgt: "Wir leben in einer Welt, die vollständig aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht. Einige von ihnen sind in Systemen organisiert. Einige dieser Systeme sind lebende Systeme, und einige dieser lebenden Systeme haben Bewußtsein entwickelt. Mit Bewußtsein einher geht Intentionalität, die Fähigkeit des Organismus, sich Gegenstände und Sachverhalte in der Welt zu repräsentieren." Die philosophische Leitfrage des neuen Buches muß vor diesem Hintergrund lauten: "Wie können wir im Rahmen dieser Ontologie die Existenz gesellschaftlicher Tatsachen erklären?" Oder etwas anschaulicher: "Wie kann es eine objektive Welt des Geldes, des Eigentums und der Ehe, von Regierungen, Wahlen, Footballspielen, Cocktailpartys und Gerichtshöfen geben in einer Welt, die gänzlich aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht und in der einige Teilchen zu Systemen organisiert sind, die bewußte biologische Lebewesen sind wie wir selbst?"
Wie Searle zu zeigen versucht, kann die Natur der gesellschaftlichen und institutionellen Realität im Rückgriff auf drei grundlegende Konzepte geklärt werden: die Zuweisung von Funktionen, kollektive Intentionalität und konstitutive Regeln. Funktionen sind seiner Ansicht nach keine immanenten Merkmale von Gegenständen, sondern existieren nur im Hinblick auf die Interessen von Benutzern und Beobachtern. Die Entwicklung von kollektiven Absichten und Anerkennungen ermöglicht nun insbesondere auch die kollektive Zuweisung von Funktionen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Zuschreibung eines allgemein anerkannten Status, mit dem eine Funktion verbunden ist. Die Form der Zuweisung neuer Statusfunktionen wird durch die Formel für konstitutive Regeln repräsentiert: "X zählt als Y in dem Kontext K." Um eines von Searles Lieblingsbeispielen zu benutzen: Vom "Bureau of Engraving and Printing" ausgegebene Scheine zählen als Geld in den Vereinigten Staaten. Solche Regeln regulieren nicht einfach Praxen oder soziale Institutionen, sie konstituieren sie.
Die institutionelle Wirklichkeit besteht demnach aus einer komplexen Menge von Funktionen, die gewissen Dingen zugewiesen werden, wobei die Phänomene diese Funktionen nicht schon aufgrund ihres materiellen Aufbaus ausüben können; wesentlich ist vielmehr die kollektive Akzeptanz des auferlegten Status. Aus diesen einfachen Bausteinen kann Searle eine allgemeine Theorie institutioneller Tatsachen von beträchtlicher Reichweite errichten: Sie umfaßt Einrichtungen wie die Ehe oder das Eigentum ebenso wie Sprachen, Regierungen oder die Menschenrechte.
Mit Searles Naturalismus war stets ein robuster Realismus verknüpft. So setzt gerade seine Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Unterscheidung zwischen sozialen und institutionellen Tatsachen einerseits und rohen Tatsachen andererseits voraus. Eine solche Unterscheidung und der mit ihr verbundene Realismus bezüglich roher Tatsachen waren in den letzten Jahrzehnten vielfältigen Zweifeln und Angriffen ausgesetzt. Den Schlußteil des Buches widmet Searle daher der Verteidigung eines externen Realismus, also der Auffassung, daß es eine Wirklichkeit gebe, die vollkommen unabhängig davon besteht, ob und wie wir sie denkend und sprechend repräsentieren. Gegen "phänomenalistische Idealisten", denen zufolge die Wirklichkeit samt und sonders aus Bewußtseinszuständen besteht, macht Searle geltend, daß mit dem normalen Verständnis von Äußerungen in einer öffentlichen Sprache Voraussetzungen einhergehen, die auf die Anerkennung einer von unseren Repräsentationen unabhängigen Seinsweise der Dinge hinauslaufen, kurz: auf einen Realismus. Gegen "Sozialkonstruktionisten", nach denen es überhaupt nur institutionelle Tatsachen gebe, da die gesamte Wirklichkeit unsere Schöpfung sei, erinnert er daran, "daß eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit eine Wirklichkeit voraussetzt, die von allen gesellschaftlichen Konstruktionen unabhängig ist, weil es etwas geben muß, woraus die Konstruktion konstruiert wird."
In diesen Abschnitten zeigt sich Searle wieder einmal im guten wie im schlechten als Mann fürs Grobe. Zwar beweist er in der weitverzweigten und oft undurchsichtigen Realismus-Antirealismus-Debatte ein gutes Gespür dafür, wo der Hund begraben liegt; aber mehr als einmal beschleicht einen denn doch der Verdacht, daß er es sich mit manchen seiner Gegner zu leicht macht. Wie dem auch sei, bei der Rezeption dieses Buches darf man in jedem Fall auf zweierlei gespannt sein: Wie wird das antirealistische Lager auf Searles Argumente und Provokationen reagieren? Und vor allem: Wie werden die Sozialwissenschaftler vom Fach Searles ebenso einfache wie nüchterne Analyse der logischen Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufnehmen? OLIVER R. SCHOLZ
John R. Searle: "Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit". Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997. 249 S., br., 24,80 DM.
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