Nach fast fünfzig Jahren als Ehefrau und Mutter ist Enid Lambert entschlossen, ihr Leben ein wenig zu genießen. Alles könnte so angenehm sein, gemütlich, harmonisch - einfach schön. Doch die Parkinsonsche Krankheit hat ihren Mann Alfred immer fester im Griff, und die drei Kinder haben das traute Familienheim längst verlassen - um ihre eigenen tragikomischen Malaisen zu durchleben. Der älteste, Gary, stellvertretender Direktor einer Bank und Familienvater, steckt in einer Ehekrise und versucht mit aller Macht, seine Depressionen kleinzureden. Der mittlere, Chip, steht am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Literaturprofessor, aber Liebestollheit wirft ihn aus der Bahn, und er findet sich in Litauen wieder als verlängerter Arm eines Internet-Betrügers. Und das jüngste der Lambert-Kinder, die erfolgreiche Meisterköchin Denise, sinkt ins Bett eines verheirateten Mannes und setzt so, in den Augen der Mutter zumindest, Jugend und Zukunft aufs Spiel. In dem Wunsch, es sich endli
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2002Jeder Satz ein Abenteuer im Wald
Warum man Jonathan Franzen genial nennen möchte: "Die Korrekturen" sind ein Juwel im abgetragenen Gewand des Familienromans
Ein Roman, der es sich zum Ziel gesetzt hat, auf achthundert Seiten jeder seiner zahllosen, detailliert gezeichneten Figuren ein Übermaß an Zuwendung, Verständnis, Liebe und Gerechtigkeit entgegenzubringen, müßte eigentlich einem umgestürzten Honigtopf gleichen: Zäh, süß und behäbig sucht sich eine klebrige Masse ihren Weg, Zuckerlava, vor der sich jeder Leser in Sicherheit bringen muß, will er nicht darin erstarren und zu Tode karamelisiert werden.
Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" ist ein solches Buch. Aber man überlebt diese achthundert Seiten nicht nur unversehrt, sondern geht mit jenem eigentümlichen Gefühl aus der Lektüre hervor, das nur große Literatur wecken kann: Man fühlt sich beschenkt und bereichert, auch wenn man eigentlich nichts, wovon man gerade gelesen hat, selbst erleben möchte.
Das gilt natürlich besonders für die zahlreichen seelischen und körperlichen Gebrechen, die in diesem Buch eine große Rolle spielen. Wenn es stimmt, daß fast jeder von uns früher oder später die Alzheimersche Krankheit bekommen würde, die meisten aber sterben, bevor sie ausbricht, sollte Franzens Roman "Die Korrekturen" von jedermann gelesen werden. Beklemmender, genauer und anrührender ist wohl noch nie beschrieben worden, wie ein Mensch sein Gedächtnis, seinen Verstand, seine Umwelt und schließlich auch sich selbst verliert, wie es sich anfühlen mag, wenn die eigene Persönlichkeit nicht mehr ist als ein Gesicht, dem man auf der Straße in der Menge begegnet: Es kommt einem bekannt vor, aber es könnte ebensogut eine Verwechslung sein.
Und auch die Worte gehen verloren: "Dann begann er einen Satz: ,Ich habe -', doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, daß die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, daß es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes . . ."
Es ist ein verwirrter alter Vogelfänger, von dem hier ganz am Anfang des Buches die Rede ist in einem Satz, der noch weitergeht, sich über weit mehr als eine Seite erstreckt und an dessen Ende sich die vermißten Wort doch noch einfinden: ". . . ,habe gepackt', hörte er sich sagen." Aber es ist Donnerstag, und die Reise soll erst am Sonntag beginnen.
Mit den Brotkrumen aus Grimms Märchen gibt dieser Satz die Richtung vor, in die die Reise des alten Mannes führen wird: in ein Kinder- und Märchenland, heiter und schrecklich zugleich, wo man verletzlich und wehrlos lebt, unbekümmert und gejagt von den schrecklichsten Furien. Alfreds Krankengeschichte ist die Geschichte von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Die tyrannische, engstirnige, bigotte, rassistische, ultrakonservative, von ihrer Familie gehaßte und gefürchtete Figur im Zentrum dieses erstaunlichen Buches ist der an Parkinson und Alzheimer erkrankte Alfred Lambert, ein hünenhafter Eisenbahningenieur, der sein Leben auf dem Reißbrett entwarf, ein grausamer Pedant, unerschütterlich in seinem Entschluß, nie das eingefahrene Gleis zu verlassen. Schon der gesunde Alfred war eine Geißel seiner Familie, aber der kranke Al ist schlicht unerträglich. Gesund erinnerte er an die schrecklichen alten Männer Thomas Bernhards: starrsinnig, mit einem guten Schuß Bösartigkeit versehen, egoman, selbstgerecht und aus falsch verstandener Prinzipientreue zur Grausamkeit neigend. Ein Ekel aus Einsamkeit, Welthaß und Verzweiflung. Der kranke Al ist all dies noch immer und zudem ein jammervoller Lear auf der Heide: eine verlassene, verlorene Kinderseele.
Daß dieser Alfred von seiner Frau Enid und seinen drei Kindern Gary, Chip und Denise geliebt wird, ist eines jener profanen Mirakel, wie sie in den schlimmsten Familien vorkommen. Aber daß der Leser Mitleid entwickelt und schließlich eine Empfindung verspürt, die über Sympathie noch hinausgeht, ist eines jener Wunder, wie sie nur große Literatur vollbringt. Kein Zweifel, Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" wird dem Ruf, der ihm aus Amerika vorauseilte, gerecht: Franzen braucht den Vergleich mit DeLillo oder Gaddis nicht zu scheuen, auch wenn er noch nicht mit ihnen auf einer Stufe steht.
Auf fast achthundert Seiten erzählt "Die Korrekturen" eine Familiengeschichte, die weit mehr mit der Erzähltradition des neunzehnten Jahrhunderts zu tun hat als mit der Postmoderne, der die beiden ersten, bislang unübersetzten Bücher des jungen Amerikaners verpflichtet waren: "The Twenty-Seventh City" (1988) und "Strong Motion" von 1992. Franzen selbst hat diese Bücher, die zwar von den Kritikern gelobt wurden, aber kaum Leser fanden, später als Umwege verstanden: Es waren sozialkritische, gesellschaftlich engagierte Bücher, die vor den Familiengeschichten, die in ihnen steckten, panisch flüchteten.
Und auch die Arbeit an "Die Korrekturen" verlief nicht auf geraden Gleisen: Jahrelang schrieb Franzen für den Papierkorb, bevor er Form und Tonfall gefunden hatte, die ihm angemessen schienen: den panoramatischen Familienroman, erzählt von einem agil-beweglichen allwissenden Erzähler, hochkomisch und brutal, sarkastisch und zart. Franzen läßt keinen Winkel im Seelenleben seiner Figuren unberührt, aber je schonungsloser er deren Ängste, Nöte und Defekte zeigt, desto sicherer können sie sein, mit Milde betrachtet zu werden: von ihrem Erzähler ebenso wie von dessen Lesern.
Die Erzählweise ist realistisch, aber immer bereit zu einem kleinen Ausflug: nostalgische Schlenker in die Gefilde der Postmoderne, Reminiszenzen an die Montagetechnik der klassischen Moderne, zuweilen exzessiver Gebrauch von Fachtermini der verschiedensten Sonderwelten, darunter Biowissenschaften, Eisenbahnbau, Investmentbanking. Franzen versammelt nicht alles Wissen seiner Zeit, aber er widmet sich ausführlich jenen Themen, die mit seinen Figuren verknüpft sind: Gentechnik, Aktienboom und Börsenkrach, der Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften und die Entfesselung des Kapitalismus, die Internetrevolution und die Tyrannei der political correctness. Deren Opfer wird Chip, der jüngste Sohn von Alfred und Enid Lambert, aufgewachsen in St. Jude, einer Kleinstadt im Mittleren Westen, dem letzten Refugium echter amerikanischer Werte, der family values. Ehre, Treue, Hilfsbereitschaft, soziales Engagement, Tradition sind nur einige Säulen, auf denen hier die Gemeinschaft noch immer zu ruhen scheint.
Die Handlung setzt ein, als Chips Leben den Tiefpunkt erreicht hat: Die Unikarriere ist ruiniert, die anstehende Ernennung zum Professor fiel einer Affäre mit einer Studentin zum Opfer. Chip wird von der Uni gejagt, seine Versuche, das Desaster in einen Triumph zu verwandeln, indem er das Erlebte in einem Drehbuch verarbeitet, scheinen wenig erfolgversprechend. Das Skript besteht vor allem aus einem sechsseitigen Anfangsmonolog über Phallusängste im Drama der Tudorzeit und etliche an die weibliche Brust gerichtete Adorationsszenen. Eine einzige Peinlichkeit, wie dem Autor in einem lichten Moment aufgeht. Auf die Sprünge geholfen hat ihm dabei seine Freundin Julia, die das geschmacklose Skript zum Anlaß nimmt, ihren chronisch mittellosen Freund zu verlassen. Nun beginnt eine groteske Jagd nach dem Manuskript, denn Chip will einige Korrekturen vornehmen, bevor die Produzentin das Machwerk lesen kann.
Korrekturversuche durchziehen das Buch bis zum bitteren Ende, das ironisch und hoffnungsvoll zugleich ist. Korrekturen sind die unablässigen Verbesserungsversuche im Leben von Franzens Figuren. Fehler sollen revidiert, Schwächen behoben, Untugenden ausgemerzt werden: das Leben, ein Dauerlauf auf dem Korrekturband. Daß dieses Bild nicht mehr recht funktioniert, weil es kaum noch Schreibmaschinen gibt, paßt zu Alfreds Sicht auf die Welt: Liebgewordene Gegenstände verschwinden, die Dingwelt verändert sich unablässig, das Bewährte wird gegen das Neue, Minderwertige ausgetauscht - ein Korrekturprozeß, der dringend der Korrektur bedürfte.
Daß Gary, der älteste Sohn der Lamberts, sein Leben als Korrektur der Ehe seiner Eltern anlegt und als Sohn eines Eisenbahningenieurs seine späte Erfüllung in einer Modelleisenbahn findet, zeigt, wie groß die Gefahr ist, daß der Korrekturversuch die Karikatur zeitigt. Und es zeigt, von welcher Art Franzens Humor ist: Fast immer hält er die schlimmstmögliche, lächerlichste Wendung für die beste Pointe. Schon hundert Seiten bevor Starköchin Denise mit der Frau ihres Geldgebers Ray ein Verhältnis beginnt, weiß man, was passieren wird. Ebenso weiß man, daß Denise am Ende doch noch mit Ray ins Bett geht, weil dies die effektvollste Weise ist, das Verhältnis mit Rays Frau Robin zu beenden. Am Ende ist Denise ihren Job, ihre Geliebte und ihren Geldgeber los. Geschieden war sie natürlich vorher schon.
Franzen hat einen ausgeprägten Hang zu billigen Effekten, die er jedoch so inszeniert, daß man sie ihm nicht übelnimmt. Er scheut weder die Nähe zur Seifenoper noch zum Slapstick. Chip etwa wirkt über weite Strecken des Buches wie eine Erfindung Woody Allens. Wer dessen Bücher gelesen hat, wird manches wiedererkennen, vor allem jene Haltung, der das Versagen als einzig denkbare Lebensform erscheint und die die Niete in einen Adelsstand eigener Art erhebt. Aber jener Chip, der seine Eltern zum Essen einlädt und sie ungerührt sitzenläßt, um seinem Skript hinterherzujagen, später mit dem Exmann seiner Exfreundin von Litauen aus Rache am Kapitalismus nehmen will, indem er amerikanische Kleinanleger per Internet in betrügerische Geschäfte verwickelt und bei der Ausreise beinahe von der Miliz erschossen wird, jener notorisch unzuverlässige Chip erscheint am Ende wider Erwarten doch zum letzten gemeinsamen Weihnachtsfest der Familie in St. Jude.
Das Fest, Mutter Enids letzter großer Wunsch an die Kinder, ist die Klammer, mit der Franzen sein ausuferndes Werk zusammenhält, um dann sorgfältig und in aller Seelenruhe die einzelnen Motivfäden zu vernähen, bis der Roman, seinem Umfang zum Trotz, am Ende kompakt und geschlossen wirkt wie ein Rollbraten. Und das ist wahrlich keine kleine Leistung.
Das wichtigste dieser Leitmotive ist dabei natürlich der Begriff der Korrektur. In den verschiedensten Zusammenhängen wird er als Selbstmanipulation entworfen. Die Pillen, die ihm seine Studentin gibt, bevor sie mit Chip ins Bett geht, sind dieselben, die Enid vom Arzt auf der Luxus-Kreuzfahrt bekommt und die schließlich Al von seinem Leid befreien sollen. Gemütsaufheller, die den labilen Chip in Euphorie und die verbitterte Enid in Zufriedenheit versetzen. Nur bei Al helfen sie nicht. Er hatte mit seinen Forschungen im Hobbykeller wichtige Grundlagen für den Pharmakonzern gelegt und wird nun mit einem Butterbrot abgespeist, während der Investmentbanker Gary Tausende an den Aktien des Unternehmens verdient, das seinen Vater betrogen hat.
Vor dem Hintergrund der Biotechnik erscheint der Begriff der Korrektur als Chiffre für den Glauben an die Perfektionierbarkeit des Menschen. Die Vorstufe dazu ist ein als unablässiger Optimierungsprozeß verstandenes Leben. Hier schimmert Franzens Neigung zur Sozialkritik durch das abgetragene Gewand des Familienromans. Aber wohl nirgendwo funkelt diese Neigung so hell wie in einer Szene der Kreuzfahrt-Passagen. Während Enid einem schmierigen Börsenguru lauscht, der über den Sturz der Aktienkurse referiert und den reichen Rentnern auf dem Luxusschiff verraten will, wie man die Kurskorrekturen der Börse überlebt, kippt Alfred vom Oberdeck in die See. Franzen berechnet, daß Enid, in Gedanken beim freien Fall der Kurswerte, etwa vier Zehntelsekunden Zeit hat, um in dem "werthaltigen Etwas", das am Fenster vorbeirauscht, ihren Mann zu erkennen, Zeit genug, um den Ausdruck auf dem Gesicht dieses Ehemannes wahrzunehmen: ". . . die beinahe jugendliche Schönheit, den sonderbaren Frieden, denn wer hätte je geahnt, mit welcher Anmut der wütende Mann fallen würde?" Es liegt an Szenen wie dieser, wenn man Jonathan Franzen genial nennen möchte.
Jonathan Franzen: "Die Korrekturen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 782 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum man Jonathan Franzen genial nennen möchte: "Die Korrekturen" sind ein Juwel im abgetragenen Gewand des Familienromans
Ein Roman, der es sich zum Ziel gesetzt hat, auf achthundert Seiten jeder seiner zahllosen, detailliert gezeichneten Figuren ein Übermaß an Zuwendung, Verständnis, Liebe und Gerechtigkeit entgegenzubringen, müßte eigentlich einem umgestürzten Honigtopf gleichen: Zäh, süß und behäbig sucht sich eine klebrige Masse ihren Weg, Zuckerlava, vor der sich jeder Leser in Sicherheit bringen muß, will er nicht darin erstarren und zu Tode karamelisiert werden.
Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" ist ein solches Buch. Aber man überlebt diese achthundert Seiten nicht nur unversehrt, sondern geht mit jenem eigentümlichen Gefühl aus der Lektüre hervor, das nur große Literatur wecken kann: Man fühlt sich beschenkt und bereichert, auch wenn man eigentlich nichts, wovon man gerade gelesen hat, selbst erleben möchte.
Das gilt natürlich besonders für die zahlreichen seelischen und körperlichen Gebrechen, die in diesem Buch eine große Rolle spielen. Wenn es stimmt, daß fast jeder von uns früher oder später die Alzheimersche Krankheit bekommen würde, die meisten aber sterben, bevor sie ausbricht, sollte Franzens Roman "Die Korrekturen" von jedermann gelesen werden. Beklemmender, genauer und anrührender ist wohl noch nie beschrieben worden, wie ein Mensch sein Gedächtnis, seinen Verstand, seine Umwelt und schließlich auch sich selbst verliert, wie es sich anfühlen mag, wenn die eigene Persönlichkeit nicht mehr ist als ein Gesicht, dem man auf der Straße in der Menge begegnet: Es kommt einem bekannt vor, aber es könnte ebensogut eine Verwechslung sein.
Und auch die Worte gehen verloren: "Dann begann er einen Satz: ,Ich habe -', doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, daß die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, daß es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes . . ."
Es ist ein verwirrter alter Vogelfänger, von dem hier ganz am Anfang des Buches die Rede ist in einem Satz, der noch weitergeht, sich über weit mehr als eine Seite erstreckt und an dessen Ende sich die vermißten Wort doch noch einfinden: ". . . ,habe gepackt', hörte er sich sagen." Aber es ist Donnerstag, und die Reise soll erst am Sonntag beginnen.
Mit den Brotkrumen aus Grimms Märchen gibt dieser Satz die Richtung vor, in die die Reise des alten Mannes führen wird: in ein Kinder- und Märchenland, heiter und schrecklich zugleich, wo man verletzlich und wehrlos lebt, unbekümmert und gejagt von den schrecklichsten Furien. Alfreds Krankengeschichte ist die Geschichte von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Die tyrannische, engstirnige, bigotte, rassistische, ultrakonservative, von ihrer Familie gehaßte und gefürchtete Figur im Zentrum dieses erstaunlichen Buches ist der an Parkinson und Alzheimer erkrankte Alfred Lambert, ein hünenhafter Eisenbahningenieur, der sein Leben auf dem Reißbrett entwarf, ein grausamer Pedant, unerschütterlich in seinem Entschluß, nie das eingefahrene Gleis zu verlassen. Schon der gesunde Alfred war eine Geißel seiner Familie, aber der kranke Al ist schlicht unerträglich. Gesund erinnerte er an die schrecklichen alten Männer Thomas Bernhards: starrsinnig, mit einem guten Schuß Bösartigkeit versehen, egoman, selbstgerecht und aus falsch verstandener Prinzipientreue zur Grausamkeit neigend. Ein Ekel aus Einsamkeit, Welthaß und Verzweiflung. Der kranke Al ist all dies noch immer und zudem ein jammervoller Lear auf der Heide: eine verlassene, verlorene Kinderseele.
Daß dieser Alfred von seiner Frau Enid und seinen drei Kindern Gary, Chip und Denise geliebt wird, ist eines jener profanen Mirakel, wie sie in den schlimmsten Familien vorkommen. Aber daß der Leser Mitleid entwickelt und schließlich eine Empfindung verspürt, die über Sympathie noch hinausgeht, ist eines jener Wunder, wie sie nur große Literatur vollbringt. Kein Zweifel, Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" wird dem Ruf, der ihm aus Amerika vorauseilte, gerecht: Franzen braucht den Vergleich mit DeLillo oder Gaddis nicht zu scheuen, auch wenn er noch nicht mit ihnen auf einer Stufe steht.
Auf fast achthundert Seiten erzählt "Die Korrekturen" eine Familiengeschichte, die weit mehr mit der Erzähltradition des neunzehnten Jahrhunderts zu tun hat als mit der Postmoderne, der die beiden ersten, bislang unübersetzten Bücher des jungen Amerikaners verpflichtet waren: "The Twenty-Seventh City" (1988) und "Strong Motion" von 1992. Franzen selbst hat diese Bücher, die zwar von den Kritikern gelobt wurden, aber kaum Leser fanden, später als Umwege verstanden: Es waren sozialkritische, gesellschaftlich engagierte Bücher, die vor den Familiengeschichten, die in ihnen steckten, panisch flüchteten.
Und auch die Arbeit an "Die Korrekturen" verlief nicht auf geraden Gleisen: Jahrelang schrieb Franzen für den Papierkorb, bevor er Form und Tonfall gefunden hatte, die ihm angemessen schienen: den panoramatischen Familienroman, erzählt von einem agil-beweglichen allwissenden Erzähler, hochkomisch und brutal, sarkastisch und zart. Franzen läßt keinen Winkel im Seelenleben seiner Figuren unberührt, aber je schonungsloser er deren Ängste, Nöte und Defekte zeigt, desto sicherer können sie sein, mit Milde betrachtet zu werden: von ihrem Erzähler ebenso wie von dessen Lesern.
Die Erzählweise ist realistisch, aber immer bereit zu einem kleinen Ausflug: nostalgische Schlenker in die Gefilde der Postmoderne, Reminiszenzen an die Montagetechnik der klassischen Moderne, zuweilen exzessiver Gebrauch von Fachtermini der verschiedensten Sonderwelten, darunter Biowissenschaften, Eisenbahnbau, Investmentbanking. Franzen versammelt nicht alles Wissen seiner Zeit, aber er widmet sich ausführlich jenen Themen, die mit seinen Figuren verknüpft sind: Gentechnik, Aktienboom und Börsenkrach, der Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften und die Entfesselung des Kapitalismus, die Internetrevolution und die Tyrannei der political correctness. Deren Opfer wird Chip, der jüngste Sohn von Alfred und Enid Lambert, aufgewachsen in St. Jude, einer Kleinstadt im Mittleren Westen, dem letzten Refugium echter amerikanischer Werte, der family values. Ehre, Treue, Hilfsbereitschaft, soziales Engagement, Tradition sind nur einige Säulen, auf denen hier die Gemeinschaft noch immer zu ruhen scheint.
Die Handlung setzt ein, als Chips Leben den Tiefpunkt erreicht hat: Die Unikarriere ist ruiniert, die anstehende Ernennung zum Professor fiel einer Affäre mit einer Studentin zum Opfer. Chip wird von der Uni gejagt, seine Versuche, das Desaster in einen Triumph zu verwandeln, indem er das Erlebte in einem Drehbuch verarbeitet, scheinen wenig erfolgversprechend. Das Skript besteht vor allem aus einem sechsseitigen Anfangsmonolog über Phallusängste im Drama der Tudorzeit und etliche an die weibliche Brust gerichtete Adorationsszenen. Eine einzige Peinlichkeit, wie dem Autor in einem lichten Moment aufgeht. Auf die Sprünge geholfen hat ihm dabei seine Freundin Julia, die das geschmacklose Skript zum Anlaß nimmt, ihren chronisch mittellosen Freund zu verlassen. Nun beginnt eine groteske Jagd nach dem Manuskript, denn Chip will einige Korrekturen vornehmen, bevor die Produzentin das Machwerk lesen kann.
Korrekturversuche durchziehen das Buch bis zum bitteren Ende, das ironisch und hoffnungsvoll zugleich ist. Korrekturen sind die unablässigen Verbesserungsversuche im Leben von Franzens Figuren. Fehler sollen revidiert, Schwächen behoben, Untugenden ausgemerzt werden: das Leben, ein Dauerlauf auf dem Korrekturband. Daß dieses Bild nicht mehr recht funktioniert, weil es kaum noch Schreibmaschinen gibt, paßt zu Alfreds Sicht auf die Welt: Liebgewordene Gegenstände verschwinden, die Dingwelt verändert sich unablässig, das Bewährte wird gegen das Neue, Minderwertige ausgetauscht - ein Korrekturprozeß, der dringend der Korrektur bedürfte.
Daß Gary, der älteste Sohn der Lamberts, sein Leben als Korrektur der Ehe seiner Eltern anlegt und als Sohn eines Eisenbahningenieurs seine späte Erfüllung in einer Modelleisenbahn findet, zeigt, wie groß die Gefahr ist, daß der Korrekturversuch die Karikatur zeitigt. Und es zeigt, von welcher Art Franzens Humor ist: Fast immer hält er die schlimmstmögliche, lächerlichste Wendung für die beste Pointe. Schon hundert Seiten bevor Starköchin Denise mit der Frau ihres Geldgebers Ray ein Verhältnis beginnt, weiß man, was passieren wird. Ebenso weiß man, daß Denise am Ende doch noch mit Ray ins Bett geht, weil dies die effektvollste Weise ist, das Verhältnis mit Rays Frau Robin zu beenden. Am Ende ist Denise ihren Job, ihre Geliebte und ihren Geldgeber los. Geschieden war sie natürlich vorher schon.
Franzen hat einen ausgeprägten Hang zu billigen Effekten, die er jedoch so inszeniert, daß man sie ihm nicht übelnimmt. Er scheut weder die Nähe zur Seifenoper noch zum Slapstick. Chip etwa wirkt über weite Strecken des Buches wie eine Erfindung Woody Allens. Wer dessen Bücher gelesen hat, wird manches wiedererkennen, vor allem jene Haltung, der das Versagen als einzig denkbare Lebensform erscheint und die die Niete in einen Adelsstand eigener Art erhebt. Aber jener Chip, der seine Eltern zum Essen einlädt und sie ungerührt sitzenläßt, um seinem Skript hinterherzujagen, später mit dem Exmann seiner Exfreundin von Litauen aus Rache am Kapitalismus nehmen will, indem er amerikanische Kleinanleger per Internet in betrügerische Geschäfte verwickelt und bei der Ausreise beinahe von der Miliz erschossen wird, jener notorisch unzuverlässige Chip erscheint am Ende wider Erwarten doch zum letzten gemeinsamen Weihnachtsfest der Familie in St. Jude.
Das Fest, Mutter Enids letzter großer Wunsch an die Kinder, ist die Klammer, mit der Franzen sein ausuferndes Werk zusammenhält, um dann sorgfältig und in aller Seelenruhe die einzelnen Motivfäden zu vernähen, bis der Roman, seinem Umfang zum Trotz, am Ende kompakt und geschlossen wirkt wie ein Rollbraten. Und das ist wahrlich keine kleine Leistung.
Das wichtigste dieser Leitmotive ist dabei natürlich der Begriff der Korrektur. In den verschiedensten Zusammenhängen wird er als Selbstmanipulation entworfen. Die Pillen, die ihm seine Studentin gibt, bevor sie mit Chip ins Bett geht, sind dieselben, die Enid vom Arzt auf der Luxus-Kreuzfahrt bekommt und die schließlich Al von seinem Leid befreien sollen. Gemütsaufheller, die den labilen Chip in Euphorie und die verbitterte Enid in Zufriedenheit versetzen. Nur bei Al helfen sie nicht. Er hatte mit seinen Forschungen im Hobbykeller wichtige Grundlagen für den Pharmakonzern gelegt und wird nun mit einem Butterbrot abgespeist, während der Investmentbanker Gary Tausende an den Aktien des Unternehmens verdient, das seinen Vater betrogen hat.
Vor dem Hintergrund der Biotechnik erscheint der Begriff der Korrektur als Chiffre für den Glauben an die Perfektionierbarkeit des Menschen. Die Vorstufe dazu ist ein als unablässiger Optimierungsprozeß verstandenes Leben. Hier schimmert Franzens Neigung zur Sozialkritik durch das abgetragene Gewand des Familienromans. Aber wohl nirgendwo funkelt diese Neigung so hell wie in einer Szene der Kreuzfahrt-Passagen. Während Enid einem schmierigen Börsenguru lauscht, der über den Sturz der Aktienkurse referiert und den reichen Rentnern auf dem Luxusschiff verraten will, wie man die Kurskorrekturen der Börse überlebt, kippt Alfred vom Oberdeck in die See. Franzen berechnet, daß Enid, in Gedanken beim freien Fall der Kurswerte, etwa vier Zehntelsekunden Zeit hat, um in dem "werthaltigen Etwas", das am Fenster vorbeirauscht, ihren Mann zu erkennen, Zeit genug, um den Ausdruck auf dem Gesicht dieses Ehemannes wahrzunehmen: ". . . die beinahe jugendliche Schönheit, den sonderbaren Frieden, denn wer hätte je geahnt, mit welcher Anmut der wütende Mann fallen würde?" Es liegt an Szenen wie dieser, wenn man Jonathan Franzen genial nennen möchte.
Jonathan Franzen: "Die Korrekturen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 782 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main