In den »Kosaken« findet Tolstojs Suchen nach den wahren Prinzipien des Daseins und nach moralischer Selbstvervollkommnung erstmals entschiedenen Ausdruck. Als ein Leitmotiv durchzieht das nun entromantisierte Thema von der Gegenüberstellung des natürlichen und des zivilisierten Menschen sein Erzählwerk.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.19961863
Leo Tolstoi "Die Kosaken"
Wir haben diese ausladenden Werke Tolstois gesehen, "Krieg und Frieden", "Anna Karenina", aber davor, in seinen Anfängen, hatte er ein ebenso phantastisches Werk über den Kaukasus geplant, den wilden Süden Rußlands, übriggeblieben ist davon ein kleiner Roman, "Die Kosaken". Ein junger Adliger fährt aus dem Moskauer Winter in den Frühling am Terek, dem Grenzfluß zwischen den Kosaken und dem Tschetschenen; der Sommer kommt, ein berauschender Sommer, niemals hat es einen solchen Sommer gegeben zuvor für uns, die Luft ist voll von dem Gesang und Geräusch von Vögeln, die der junge Mann nie gehört hat und die wir niemals hören werden; der junge Mann, ihn trifft derselbe Zauber wie uns, lernt leben, lernt lieben - ein schönes Mädchen, einem jungen Kosaken versprochen, unbegreiflich lebendig aber auch ihm gegenüber, sieht für ihn aus wie alles, was seine Welt an Hinreißendem nicht mehr hat. Ein Tschetschene wird erschossen, als er über den Fluß will, seine Leute, entsetzlich ruhig, holen den Leichnam ab; bald darauf geht eine Gruppe junger Kosaken, darunter der Freund des verführerischen Mädchens, über den Fluß, gegen die Tschetschenen; sie gehen dorthin, wie in alten Geschichten diese das Leben verlachenden jungen Helden hinübergehen zu den anderen, ehe die anderen genauso kommen werden. Es gibt ein schreckliches Gemetzel, die Kosaken siegen, aber der junge Mann jener Schönen ist tot. Man bringt ihn zurück, das junge Mädchen zeigt nun, daß sie nur diesen einen wollte; es wird Herbst, der junge Mann aus Moskau geht wieder zurück - dies war das Leben (und ist es für uns), aber seines (wie unseres, wenn wir nicht lesend die Wahrheit finden) ist ein anderes. Niemals wird er, niemals werden wir das Schreien der fremden Vögel in den wollüstig einschläfernden heißen Mittagsstunden am Terek vergessen, unter den Bergen des Kaukasus diese mond- und sternbeschienenen Nächte, und dieses schöne Mädchen aus der anderen Welt. (Leo Tolstoi: "Die Kosaken. Und andere Erzählungen", herausgegeben von Gisela Drohla. Insel Verlag, Frankfurt a. M. und Leipzig, 1993. 477 S., br., 22,80.) R.V.
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Leo Tolstoi "Die Kosaken"
Wir haben diese ausladenden Werke Tolstois gesehen, "Krieg und Frieden", "Anna Karenina", aber davor, in seinen Anfängen, hatte er ein ebenso phantastisches Werk über den Kaukasus geplant, den wilden Süden Rußlands, übriggeblieben ist davon ein kleiner Roman, "Die Kosaken". Ein junger Adliger fährt aus dem Moskauer Winter in den Frühling am Terek, dem Grenzfluß zwischen den Kosaken und dem Tschetschenen; der Sommer kommt, ein berauschender Sommer, niemals hat es einen solchen Sommer gegeben zuvor für uns, die Luft ist voll von dem Gesang und Geräusch von Vögeln, die der junge Mann nie gehört hat und die wir niemals hören werden; der junge Mann, ihn trifft derselbe Zauber wie uns, lernt leben, lernt lieben - ein schönes Mädchen, einem jungen Kosaken versprochen, unbegreiflich lebendig aber auch ihm gegenüber, sieht für ihn aus wie alles, was seine Welt an Hinreißendem nicht mehr hat. Ein Tschetschene wird erschossen, als er über den Fluß will, seine Leute, entsetzlich ruhig, holen den Leichnam ab; bald darauf geht eine Gruppe junger Kosaken, darunter der Freund des verführerischen Mädchens, über den Fluß, gegen die Tschetschenen; sie gehen dorthin, wie in alten Geschichten diese das Leben verlachenden jungen Helden hinübergehen zu den anderen, ehe die anderen genauso kommen werden. Es gibt ein schreckliches Gemetzel, die Kosaken siegen, aber der junge Mann jener Schönen ist tot. Man bringt ihn zurück, das junge Mädchen zeigt nun, daß sie nur diesen einen wollte; es wird Herbst, der junge Mann aus Moskau geht wieder zurück - dies war das Leben (und ist es für uns), aber seines (wie unseres, wenn wir nicht lesend die Wahrheit finden) ist ein anderes. Niemals wird er, niemals werden wir das Schreien der fremden Vögel in den wollüstig einschläfernden heißen Mittagsstunden am Terek vergessen, unter den Bergen des Kaukasus diese mond- und sternbeschienenen Nächte, und dieses schöne Mädchen aus der anderen Welt. (Leo Tolstoi: "Die Kosaken. Und andere Erzählungen", herausgegeben von Gisela Drohla. Insel Verlag, Frankfurt a. M. und Leipzig, 1993. 477 S., br., 22,80.) R.V.
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