Von den antiken Anfängen der Medizin bis in die Gegenwart, von der »wandernden Gebärmutter« bis zur Entdeckung von Autoimmunerkrankungen und Endometriose: Die englische Feministin Elinor Cleghorn präsentiert eine bahnbrechende und aufwühlende Kulturgeschichte über das Verhältnis von Frauen, Krankheit und Medizin.
Elinor Cleghorn, selbst an der Autoimmunerkrankung Lupus erkrankt, hat sich nach einer nervenaufreibenden Diagnose-Odyssee auf die Suche nach den Wurzeln der patriarchalen Mythen begeben, die unsere westliche Medizin bis heute prägen. Anhand einer Fülle von historischem Material rekonstruiert sie, wie stark die Medizin als Wissenschaft und Institution von kulturellen und gesellschaftspolitischen Umständen beeinflusst ist. Denn die Tatsache, dass Frauen als das schwächere Geschlecht galten und auf die soziale Aufgabe der Mutterschaft reduziert wurden, formte auch den medizinischen Blick auf Frauen und Weiblichkeit über die Jahrhunderte. Von der »wandernden Gebärmutter« über die »Hysterie« bis hin zum sich nur äußerst langsam wandelnden Verständnis für Menstruation und Menopause - all diese Diagnosen und Entwicklungen zeugen von einer männlich geprägten, nicht selten sexistischen Medizin.
Feminist_innen erheben seit Langem ihre Stimme gegen diesen patriarchalen Zugriff auf ihren Körper und kämpfen für eine bessere Aufklärung über weibliche Gesundheit. Wer verstehen will, warum dieser Kampf wichtig und notwendig ist, findet in Elinor Cleghorns augenöffnendem Buch die Antwort.
Elinor Cleghorn, selbst an der Autoimmunerkrankung Lupus erkrankt, hat sich nach einer nervenaufreibenden Diagnose-Odyssee auf die Suche nach den Wurzeln der patriarchalen Mythen begeben, die unsere westliche Medizin bis heute prägen. Anhand einer Fülle von historischem Material rekonstruiert sie, wie stark die Medizin als Wissenschaft und Institution von kulturellen und gesellschaftspolitischen Umständen beeinflusst ist. Denn die Tatsache, dass Frauen als das schwächere Geschlecht galten und auf die soziale Aufgabe der Mutterschaft reduziert wurden, formte auch den medizinischen Blick auf Frauen und Weiblichkeit über die Jahrhunderte. Von der »wandernden Gebärmutter« über die »Hysterie« bis hin zum sich nur äußerst langsam wandelnden Verständnis für Menstruation und Menopause - all diese Diagnosen und Entwicklungen zeugen von einer männlich geprägten, nicht selten sexistischen Medizin.
Feminist_innen erheben seit Langem ihre Stimme gegen diesen patriarchalen Zugriff auf ihren Körper und kämpfen für eine bessere Aufklärung über weibliche Gesundheit. Wer verstehen will, warum dieser Kampf wichtig und notwendig ist, findet in Elinor Cleghorns augenöffnendem Buch die Antwort.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kritikerin Felicitas Witte, selbst Medizinerin, ärgert sich, dass Elinor Cleghorn in ihrem Buch über angebliche Frauenfeindlichkeit in der Medizin auf Emotionalisierung setzt und nicht auf eine solide Faktenbasis. So findet sie dann auch viele Falschbehauptungen, die sie ausführlich korrigiert, etwa, dass Gicht keine Lebensstil-, sondern meist eine Erbkrankheit ist. Ein kritischer Blick darauf, ob Frauen in der Medizin heute benachteiligt und nicht ernst genommen werden, hätte die Rezensentin durchaus interessiert, aber Cleghorn kann ihr mit veralteten Quellen oder ohne Nachweis aufgestellten Behauptungen keine zufriedenstellende Antwort geben. Für die Autorin scheint die patriarchal bedingte Unterdrückung der Frau auch im medizinischen Kontext klar zu sein, seufzt die Rezensentin, die sich weniger Gefühl und mehr Wissenschaft gewünscht hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2023Seht nur die Patriarchen!
Wie Bücher über ärztliche Praxis nicht ausfallen sollten: Elinor Cleghorn wettert gegen androzentrische Medizin
Dürfen wir vermuten, dass Elinor Cleghorn nur noch zu Ärztinnen und nicht mehr zu Ärzten geht? Schließlich trägt ihr Buch den Untertitel "Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen". Darin beschreibt sie, wie die Medizin seit der Antike Frauen benachteiligt habe, dass Frauen Opfer einer "männerdominierten medizinischen Orthodoxie" gewesen seien und dieses Erbe bis heute eine effektive und rasche Diagnose und Behandlung von Frauen verhindere.
Cleghorn echauffiert sich über eine "androzentrische Medizin" und Ärzte, die die Symptome von Frauen jahrhundertelang vor allem als körperliche Zeichen psychischer Probleme angesehen hätten. Sie bringt eine Fülle von Informationen aus der Geschichte der Medizin und über den Alltag kranker Frauen heute. Zwar führt sie etliche Quellen an, doch mehr wissenschaftliche Sorgfalt hätte dem Buch gutgetan. Manches, was die Autorin schreibt, ist falsch.
So wird beispielsweise der hippokratische Eid heute nicht mehr "standardmäßig" von angehenden Ärztinnen und Ärzten geleistet. In Deutschland gehört er gar nicht mehr zum Studienabschluss, in den USA und in England wird eine modifizierte Version oder keine aufgesagt. Marie Gillain Boivin war keine Gynäkologin, sondern eine Hebamme. Affektive Störungen sind keine "Diagnosekategorie einander überlappender körperlicher und psychischer Störungen". Vielmehr werden darunter depressive und manische Erkrankungen zusammengefasst. Auch ist es nicht korrekt, dass mit Blick auf Herzkrankheiten, bestimmte Krebsarten und Aids/HIV Studien zu den spezifischen Auswirkungen auf den weiblichen Körper fehlen würden. Es gibt hier eine Vielzahl von Untersuchungen, die explizit Frauen betreffen. Und Gicht ist keine "dieser altmodischen Krankheiten, die durch zu viel Käse und Alkohol entstehen". Einer Gicht liegt in den meisten Fällen eine erblich bedingte Ausscheidungsschwäche für Harnsäure in der Niere zugrunde, seltener sind Ernährungsgewohnheiten oder ein angeborener Enzymdefekt die Ursache. Ein Gichtanfall mit akut entzündetem Gelenk wiederum kann dann durch ein Übermaß an Alkohol und eine Mahlzeit mit zu viel Fisch, Fleisch oder Meeresfrüchten ausgelöst werden.
Die Autorin verliert sich allzu oft in detaillierten emotionsheischenden Erzählungen über die Leiden von Frauen und Mädchen. Da ist etwa die ältere Frau mit der "wandernden Gebärmutter" im antiken Griechenland, die Vierzigjährige im siebzehnten Jahrhundert, die junge Leute verhext haben soll, was angeblich zu Anfällen führte, oder das siebzehnjährige Kindermädchen mit Panikattacken im achtzehnten Jahrhundert, die als "Hysterie mit eindeutig seelischer Ursache" missgedeutet wurden.
Es stimmt zwar, dass Frauen mehr über Schmerzen berichten als Männer. Aber dass Frauen mit ihren Schmerzen allein gelassen werden, wie Cleghorn schreibt, ist nicht belegt. Die Studien, die sie bezüglich der Versorgung mit Schmerzmitteln zitiert, sind Jahrzehnte alt. Es wäre interessant zu erfahren, wie sich die Situation heute darstellt. Was Cleghorn unter "schwachen Beruhigungsmitteln" versteht, erklärt sie nicht. Falls sie damit pflanzliche Mittel wie Baldrian, Melisse oder Hopfen meint, gehören diese in der Tat nicht zur Standardtherapie chronischer Schmerzen. Antidepressiva wirken aber durchaus gegen bestimmte Formen chronischer Schmerzen, etwa diabetisch bedingte Nervenschmerzen, Fibromyalgie oder Rückenschmerzen. Cleghorn bleibt auch den Beweis schuldig, dass, wie sie behauptet, die Schmerzen von Frauen eher auf eine emotionale oder psychische Ursache zurückgeführt werden als auf eine körperliche.
Kritisch scheint Cleghorn auch die hormonelle Verhütung zu sehen. Sie behauptet, bis heute kenne man nicht alle Auswirkungen der Präparate und Pillen-Anwenderinnen seien immer noch Versuchsobjekte. Das gilt allerdings für so gut wie alle Medikamente. Es ist unmöglich, sämtliche Auswirkungen einer Arznei zu kennen.
Es ist richtig, wie Cleghorn darlegt, dass es Jahre dauerte, bis die Nebenwirkungen der Pille im Beipackzettel erwähnt wurden. Jedoch lässt sie unerwähnt, dass die Pille zu den sichersten und beliebtesten Verhütungsmitteln überhaupt gehört; in Deutschland nutzt sie rund jede dritte Frau. Dass sich seit Jahrzehnten Mythen um die Pille ranken, wie Cleghorn schreibt, lässt sich nicht nachvollziehen.
Die Autorin leidet unter Lupus erythematodes, einer seltenen Autoimmunkrankheit. Ihre Symptome seien sieben Jahre lang als harmlos abgetan und mit Fehldiagnosen erklärt worden. Tatsächlich dauert es gerade bei seltenen Krankheiten mitunter länger, bis die Diagnose gestellt wird. Ob das aber daran liegt, dass "patriarchalisch denkende" Ärzte die Klagen der Frauen nicht ernst nehmen, bleibt fraglich. Bekannt ist dagegen, dass die Diagnose einer Depression bei Männern seltener gestellt wird, weil diese offenbar unter anderen Symptomen als Frauen leiden, die im "typisch weiblichen" Kriterienkatalog für eine Depression nicht aufgenommen sind.
Ein wesentliches Manko ist, dass Cleghorn ihre Einschätzungen nicht ausreichend mit validen Zahlen und Studien belegt. Viele der zitierten Studien entsprechen nicht dem Standard, der für Fachzeitschriften üblich ist. Vor allem die medizinischen Untersuchungen sind veraltet - etwa die von ihr "bahnbrechend" genannte Studie zu chronischen Schmerzen von 2001 oder der Bericht zur globalen Gesundheit von 2014. Ein Blick in die aktuelle Fachliteratur hätte genügt, um Dutzende neuerer Studien zu finden, die sich mit Frauen in der Medizin auseinandersetzen und ein anderes Bild der aktuellen Situation vermitteln. Lieber prangert die Autorin immer wieder das "medizinische Establishment" an, das Frauen mit Ablehnung und Zweifel begegne. Mehr Wissenschaft statt polarisierender Worte hätte dem Buch gutgetan. FELICITAS WITTE
Elinor Cleghorn: "Die kranke Frau". Wie Sexismus, Mythen & Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen.
Aus dem Englischen von J. Elze und A. Emmert. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022. 496 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Bücher über ärztliche Praxis nicht ausfallen sollten: Elinor Cleghorn wettert gegen androzentrische Medizin
Dürfen wir vermuten, dass Elinor Cleghorn nur noch zu Ärztinnen und nicht mehr zu Ärzten geht? Schließlich trägt ihr Buch den Untertitel "Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen". Darin beschreibt sie, wie die Medizin seit der Antike Frauen benachteiligt habe, dass Frauen Opfer einer "männerdominierten medizinischen Orthodoxie" gewesen seien und dieses Erbe bis heute eine effektive und rasche Diagnose und Behandlung von Frauen verhindere.
Cleghorn echauffiert sich über eine "androzentrische Medizin" und Ärzte, die die Symptome von Frauen jahrhundertelang vor allem als körperliche Zeichen psychischer Probleme angesehen hätten. Sie bringt eine Fülle von Informationen aus der Geschichte der Medizin und über den Alltag kranker Frauen heute. Zwar führt sie etliche Quellen an, doch mehr wissenschaftliche Sorgfalt hätte dem Buch gutgetan. Manches, was die Autorin schreibt, ist falsch.
So wird beispielsweise der hippokratische Eid heute nicht mehr "standardmäßig" von angehenden Ärztinnen und Ärzten geleistet. In Deutschland gehört er gar nicht mehr zum Studienabschluss, in den USA und in England wird eine modifizierte Version oder keine aufgesagt. Marie Gillain Boivin war keine Gynäkologin, sondern eine Hebamme. Affektive Störungen sind keine "Diagnosekategorie einander überlappender körperlicher und psychischer Störungen". Vielmehr werden darunter depressive und manische Erkrankungen zusammengefasst. Auch ist es nicht korrekt, dass mit Blick auf Herzkrankheiten, bestimmte Krebsarten und Aids/HIV Studien zu den spezifischen Auswirkungen auf den weiblichen Körper fehlen würden. Es gibt hier eine Vielzahl von Untersuchungen, die explizit Frauen betreffen. Und Gicht ist keine "dieser altmodischen Krankheiten, die durch zu viel Käse und Alkohol entstehen". Einer Gicht liegt in den meisten Fällen eine erblich bedingte Ausscheidungsschwäche für Harnsäure in der Niere zugrunde, seltener sind Ernährungsgewohnheiten oder ein angeborener Enzymdefekt die Ursache. Ein Gichtanfall mit akut entzündetem Gelenk wiederum kann dann durch ein Übermaß an Alkohol und eine Mahlzeit mit zu viel Fisch, Fleisch oder Meeresfrüchten ausgelöst werden.
Die Autorin verliert sich allzu oft in detaillierten emotionsheischenden Erzählungen über die Leiden von Frauen und Mädchen. Da ist etwa die ältere Frau mit der "wandernden Gebärmutter" im antiken Griechenland, die Vierzigjährige im siebzehnten Jahrhundert, die junge Leute verhext haben soll, was angeblich zu Anfällen führte, oder das siebzehnjährige Kindermädchen mit Panikattacken im achtzehnten Jahrhundert, die als "Hysterie mit eindeutig seelischer Ursache" missgedeutet wurden.
Es stimmt zwar, dass Frauen mehr über Schmerzen berichten als Männer. Aber dass Frauen mit ihren Schmerzen allein gelassen werden, wie Cleghorn schreibt, ist nicht belegt. Die Studien, die sie bezüglich der Versorgung mit Schmerzmitteln zitiert, sind Jahrzehnte alt. Es wäre interessant zu erfahren, wie sich die Situation heute darstellt. Was Cleghorn unter "schwachen Beruhigungsmitteln" versteht, erklärt sie nicht. Falls sie damit pflanzliche Mittel wie Baldrian, Melisse oder Hopfen meint, gehören diese in der Tat nicht zur Standardtherapie chronischer Schmerzen. Antidepressiva wirken aber durchaus gegen bestimmte Formen chronischer Schmerzen, etwa diabetisch bedingte Nervenschmerzen, Fibromyalgie oder Rückenschmerzen. Cleghorn bleibt auch den Beweis schuldig, dass, wie sie behauptet, die Schmerzen von Frauen eher auf eine emotionale oder psychische Ursache zurückgeführt werden als auf eine körperliche.
Kritisch scheint Cleghorn auch die hormonelle Verhütung zu sehen. Sie behauptet, bis heute kenne man nicht alle Auswirkungen der Präparate und Pillen-Anwenderinnen seien immer noch Versuchsobjekte. Das gilt allerdings für so gut wie alle Medikamente. Es ist unmöglich, sämtliche Auswirkungen einer Arznei zu kennen.
Es ist richtig, wie Cleghorn darlegt, dass es Jahre dauerte, bis die Nebenwirkungen der Pille im Beipackzettel erwähnt wurden. Jedoch lässt sie unerwähnt, dass die Pille zu den sichersten und beliebtesten Verhütungsmitteln überhaupt gehört; in Deutschland nutzt sie rund jede dritte Frau. Dass sich seit Jahrzehnten Mythen um die Pille ranken, wie Cleghorn schreibt, lässt sich nicht nachvollziehen.
Die Autorin leidet unter Lupus erythematodes, einer seltenen Autoimmunkrankheit. Ihre Symptome seien sieben Jahre lang als harmlos abgetan und mit Fehldiagnosen erklärt worden. Tatsächlich dauert es gerade bei seltenen Krankheiten mitunter länger, bis die Diagnose gestellt wird. Ob das aber daran liegt, dass "patriarchalisch denkende" Ärzte die Klagen der Frauen nicht ernst nehmen, bleibt fraglich. Bekannt ist dagegen, dass die Diagnose einer Depression bei Männern seltener gestellt wird, weil diese offenbar unter anderen Symptomen als Frauen leiden, die im "typisch weiblichen" Kriterienkatalog für eine Depression nicht aufgenommen sind.
Ein wesentliches Manko ist, dass Cleghorn ihre Einschätzungen nicht ausreichend mit validen Zahlen und Studien belegt. Viele der zitierten Studien entsprechen nicht dem Standard, der für Fachzeitschriften üblich ist. Vor allem die medizinischen Untersuchungen sind veraltet - etwa die von ihr "bahnbrechend" genannte Studie zu chronischen Schmerzen von 2001 oder der Bericht zur globalen Gesundheit von 2014. Ein Blick in die aktuelle Fachliteratur hätte genügt, um Dutzende neuerer Studien zu finden, die sich mit Frauen in der Medizin auseinandersetzen und ein anderes Bild der aktuellen Situation vermitteln. Lieber prangert die Autorin immer wieder das "medizinische Establishment" an, das Frauen mit Ablehnung und Zweifel begegne. Mehr Wissenschaft statt polarisierender Worte hätte dem Buch gutgetan. FELICITAS WITTE
Elinor Cleghorn: "Die kranke Frau". Wie Sexismus, Mythen & Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen.
Aus dem Englischen von J. Elze und A. Emmert. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022. 496 S., geb., 25,- Euro.
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»Dieses Buch macht wütend und ist wichtig, damit sich endlich was ändert.« Christine Ellinghaus myself 20230201