Krebs wird in den nächsten Jahren zu einer unserer größten Herausforderungen - menschlich wie gesundheitspolitisch. Fast jeder zweite Deutsche wird im Alter betroffen sein, Wissenschaftler gehen von 40 Prozent mehr Krebsfällen bis 2030 aus. Dennoch herrscht bei dieser Volkskrankheit enorme Unaufgeklärtheit - von der viele profitieren: der graue Markt für obskure Mittel, die Krankenhäuser mit ihrer lukrativen Vorsorgepraxis und die Pharmaindustrie, für die Krebsmedikamente, deren Preise sie selbst festlegt, der größte Wachstumszweig sind.
Karl Lauterbach, Mediziner und Politiker, deckt auf, was im Gesundheitssystem schiefläuft: die ungerechte Zweiklassenmedizin gerade bei Krebs, die falschen finanziellen Anreize für die Kliniken und die Pharmaindustrie, mangelnde Transparenz, was Behandlungserfolge und -methoden betrifft. Zugleich weist Lauterbach auf zahlreiche Krebsmythen hin, erklärt, welche Früherkennungen sinnvoll sind, was das Risiko wirklich erhöht oder verringert. Und er zeigt, was geschehen muss, damit die Pharmaindustrie ihre Forschung wieder in den Dienst des Patienten statt nur des Profits stellt. Ein wichtiges, provokantes Buch, das eine längst fällige Debatte anstößt.
Karl Lauterbach, Mediziner und Politiker, deckt auf, was im Gesundheitssystem schiefläuft: die ungerechte Zweiklassenmedizin gerade bei Krebs, die falschen finanziellen Anreize für die Kliniken und die Pharmaindustrie, mangelnde Transparenz, was Behandlungserfolge und -methoden betrifft. Zugleich weist Lauterbach auf zahlreiche Krebsmythen hin, erklärt, welche Früherkennungen sinnvoll sind, was das Risiko wirklich erhöht oder verringert. Und er zeigt, was geschehen muss, damit die Pharmaindustrie ihre Forschung wieder in den Dienst des Patienten statt nur des Profits stellt. Ein wichtiges, provokantes Buch, das eine längst fällige Debatte anstößt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Im Würgegriff der Monopolisten
Das Milliardengeschäft mit dem Krebs und die Folgen: Karl Lauterbach sieht Deutschland auf dem Weg zu einer Krankheitsrepublik. Zwei Kriege drohen.
Von Joachim Müller-Jung
Gibt es ein Genug, wenn es um die Gesundheit geht, ein Bis-hierher-und-nicht-weiter? Können wir lernen, aufzuhören zu therapieren, nicht weil uns die medizinischen Mittel fehlen, sondern weil es schlichtweg zu teuer wird. Für den Kranken, vor allem aber auch für die Gesellschaft? Auf solche sehr grundsätzlichen und sehr dringenden und auch zutiefst menschlichen Fragen, die im gesundheitsökonomischen Umfeld mit hässlichen Begriffen wie Rationierung von Gesundheitsleistungen verknüpft sind, kann man auch bei dem Thema stoßen, das sich der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach vorgenommen hat. Die Krebsmedizin mit ihrem gewaltigen Expansionsdrang ist an diesem Punkt angekommen. Doch Lauterbach stellt ethische, grundsätzliche Zukunftsfragen der Medizin ganz gezielt hinter die politisch offenkundig dringlicheren Aspekte zurück.
So lautet also die spannendste Frage, die sich nach der Lektüre dieses Buches aufdrängt: Ist Karl Lauterbach ein unverbesserlicher Verschwörungstheoretiker oder der mutigste, entschiedenste, didaktisch ambitionierteste, prophetisch begabteste und am Ende vielleicht klügste Gesundheitspolitiker im Land? Karl Lauterbach, die medizinische Stimme der deutschen Sozialdemokratie, sieht, so viel steht fest, das Land im Krieg. In zwei bevorstehenden Kriegen genau genommen. Einerseits im Krieg, den alle gegen den Krebs führen, oder sagen wir: das halbe Volk, das mit Krebsleiden am eigenen Körper rechnen muss; und andererseits das ganze Volk im Krieg gegen die monströse Krake Krebsindustrie. Es ist, nicht zuletzt am Bucheinband, leicht zu erahnen: Lauterbach sieht schwarz für die Gesundheitsrepublik, die mit der Krebsepidemie eine Krankheitsrepublik zu werden verspricht.
Mit der Babyboomer-Generation, so die Ausgangsüberlegung Lauterbachs, kommt die zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsfraktion in ein Alter, in dem nun nicht nur die ersten Nachweltgedanken, sondern auch konkrete und sehr bedrohliche Überlebensängste allmählich Raum greifen. Schon bald werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen, die allermeisten jenseits des Renteneintrittsalters, die Diagnose Krebs erhalten. Millionen Krebspatienten und Krebsüberlebender werden unter uns leben. Die Krankenhäuser sind heute schon voll von ihnen, in vielen Kliniken ist bald jeder Zweite ein Krebspatient. Lauterbach hat diese zum großen Teil demographisch bedingte - Stichwort: alternde Gesellschaft - und unvermeidliche Entwicklung zusammengebracht mit der medizinisch-pharmakologischen Entwicklung, die ebenso unvermeidlich zu sein scheint: Die Herausbildung eines Krankheitsmarktes, der die steigende Nachfrage nach hoffentlich besseren Diagnosen und erfolgreicheren Therapien teuer bedient.
Hundert- bis hundertfünfzigtausend Euro jährlich kosten viele der inzwischen mehr als ein Dutzend neuen Krebstherapien. Lauterbach erläutert die Wirkweisen ebenso wie die Geschichte dieser neuen Mittel in einer bemerkenswerten Breite. Im Prinzip glaubt er daran, dass die neue Generation an Arzneien "in wenigen Jahrzehnten" Krebs heilen kann, ebenso wie er Vorbeugung, Aufklärung und wissenschaftlich fundierte Früherkennung schätzt.
Allerdings werden die neuen Krebsmittel - wie manche Früherkennungsmaßnahmen - unter dem Label "individualisierte Medizin" so heftig beworben, dass Lauterbach darin eine geradezu unethische, obszöne Marketingstrategie der Konzerne sieht. Verantwortlich macht er dafür das heute noch krasse Missverhältnis von Preis und Nutzen der Mittel. Ein paar Wochen mehr Lebenserwartung im Schnitt, fragwürdige Lebensqualitätsgewinne, und das zu einem Preis, so Lauterbach, für den man gut und gerne drei Pflegekräfte im Jahr bezahlen könnte, das sei nicht nur für ein maßvoll wirtschaftendes Gesundheitssystem eine Schande. Das ist für ihn auch moralisch immer weniger zu ertragen. Lauterbach buchstabiert die Zukunft "im Würgegriff" der Pharmaindustrie durch und weiß doch durch seinen Umgang mit der Gesundheitslobby, dass sein Lamento auf Seiten der Angeprangerten mit Genugtuung aufgenommen werden dürfte.
Denn die wenigen großen Pharmakonzerne, die das Geld und die Organisation besitzen, die mehr als dreihundert Krebsmedikamente in der Pipeline weiterzuentwickeln, haben die sicherste Zukunft, die man sich in der Branche denken kann. Sie sind annähernd Monopolisten. Sie setzen die Preise für zugelassene neue Medikamente so hoch fest, wie sie sie in den Verhandlungen mit den Krankenkassen durchsetzen zu können meinen. Die Einnahmen gehen dann bei den zu erwartenden Umsätzen weit über den Deckungsbeitrag der Forschungs- und Entwicklungskosten hinaus.
An der Stelle hätte Lauterbach das Rad weiter drehen können, er hätte sich fragen und den Leser darüber unterrichten können, was die Krankenkassenverbände hindert, die Kosten für die seiner Überzeugung nach fragwürdigen neuen Krebsmittel nicht zu ersetzen, was die Argumente der Industrie sind und wie der Prozess des Aushandelns eigentlich abläuft. Brisante Insiderinformationen scheint Lauterbach zu meiden - oder man übersieht sie, weil alles den Klischees entspricht.
Lauterbach hätte auch, weil das medizinischer Alltag ist, auf seine eigenen Beobachtungen zurückkommen müssen. Krebs, so heißt es sinngemäß an vielen Stellen des Buches, ist die am meisten gefürchtete Krankheit und deshalb das von den Menschen unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu bekämpfende Schicksal schlechthin. Das hat viel mit eigenen Erfahrungen und solchen bei Angehörigen zu tun, doch auch mit der Erwartungshaltung an die Medizin, speziell bei der Babyboomer-Generation. Genauso entscheidend aber ist die Erwartungshaltung, die die Gesundheitsindustrie, die Medizin und die Forschung und nicht zuletzt die Gesundheitspolitik seit Generationen schürt - Lauterbach selbst ist ein Kind des von Nixon regelrecht befohlenen "War on Cancer".
Lauterbach lässt keinen Zweifel daran, dass er den Weg der Krebsmedizin in einen Forschungsindustriekomplex für falsch hält. Er macht Vorschläge, wie Verbraucherschutz und Politik das Heft in die Hand nehmen könnten, um gerechtere Preise und aufgeklärte Patienten zu bekommen. Man wird sehen, wie groß seine Überzeugungskraft in Berlin und Brüssel ist.
Karl Lauterbach: "Die Krebsindustrie". Wie eine Krankheit Deutschland erobert.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Milliardengeschäft mit dem Krebs und die Folgen: Karl Lauterbach sieht Deutschland auf dem Weg zu einer Krankheitsrepublik. Zwei Kriege drohen.
Von Joachim Müller-Jung
Gibt es ein Genug, wenn es um die Gesundheit geht, ein Bis-hierher-und-nicht-weiter? Können wir lernen, aufzuhören zu therapieren, nicht weil uns die medizinischen Mittel fehlen, sondern weil es schlichtweg zu teuer wird. Für den Kranken, vor allem aber auch für die Gesellschaft? Auf solche sehr grundsätzlichen und sehr dringenden und auch zutiefst menschlichen Fragen, die im gesundheitsökonomischen Umfeld mit hässlichen Begriffen wie Rationierung von Gesundheitsleistungen verknüpft sind, kann man auch bei dem Thema stoßen, das sich der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach vorgenommen hat. Die Krebsmedizin mit ihrem gewaltigen Expansionsdrang ist an diesem Punkt angekommen. Doch Lauterbach stellt ethische, grundsätzliche Zukunftsfragen der Medizin ganz gezielt hinter die politisch offenkundig dringlicheren Aspekte zurück.
So lautet also die spannendste Frage, die sich nach der Lektüre dieses Buches aufdrängt: Ist Karl Lauterbach ein unverbesserlicher Verschwörungstheoretiker oder der mutigste, entschiedenste, didaktisch ambitionierteste, prophetisch begabteste und am Ende vielleicht klügste Gesundheitspolitiker im Land? Karl Lauterbach, die medizinische Stimme der deutschen Sozialdemokratie, sieht, so viel steht fest, das Land im Krieg. In zwei bevorstehenden Kriegen genau genommen. Einerseits im Krieg, den alle gegen den Krebs führen, oder sagen wir: das halbe Volk, das mit Krebsleiden am eigenen Körper rechnen muss; und andererseits das ganze Volk im Krieg gegen die monströse Krake Krebsindustrie. Es ist, nicht zuletzt am Bucheinband, leicht zu erahnen: Lauterbach sieht schwarz für die Gesundheitsrepublik, die mit der Krebsepidemie eine Krankheitsrepublik zu werden verspricht.
Mit der Babyboomer-Generation, so die Ausgangsüberlegung Lauterbachs, kommt die zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsfraktion in ein Alter, in dem nun nicht nur die ersten Nachweltgedanken, sondern auch konkrete und sehr bedrohliche Überlebensängste allmählich Raum greifen. Schon bald werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen, die allermeisten jenseits des Renteneintrittsalters, die Diagnose Krebs erhalten. Millionen Krebspatienten und Krebsüberlebender werden unter uns leben. Die Krankenhäuser sind heute schon voll von ihnen, in vielen Kliniken ist bald jeder Zweite ein Krebspatient. Lauterbach hat diese zum großen Teil demographisch bedingte - Stichwort: alternde Gesellschaft - und unvermeidliche Entwicklung zusammengebracht mit der medizinisch-pharmakologischen Entwicklung, die ebenso unvermeidlich zu sein scheint: Die Herausbildung eines Krankheitsmarktes, der die steigende Nachfrage nach hoffentlich besseren Diagnosen und erfolgreicheren Therapien teuer bedient.
Hundert- bis hundertfünfzigtausend Euro jährlich kosten viele der inzwischen mehr als ein Dutzend neuen Krebstherapien. Lauterbach erläutert die Wirkweisen ebenso wie die Geschichte dieser neuen Mittel in einer bemerkenswerten Breite. Im Prinzip glaubt er daran, dass die neue Generation an Arzneien "in wenigen Jahrzehnten" Krebs heilen kann, ebenso wie er Vorbeugung, Aufklärung und wissenschaftlich fundierte Früherkennung schätzt.
Allerdings werden die neuen Krebsmittel - wie manche Früherkennungsmaßnahmen - unter dem Label "individualisierte Medizin" so heftig beworben, dass Lauterbach darin eine geradezu unethische, obszöne Marketingstrategie der Konzerne sieht. Verantwortlich macht er dafür das heute noch krasse Missverhältnis von Preis und Nutzen der Mittel. Ein paar Wochen mehr Lebenserwartung im Schnitt, fragwürdige Lebensqualitätsgewinne, und das zu einem Preis, so Lauterbach, für den man gut und gerne drei Pflegekräfte im Jahr bezahlen könnte, das sei nicht nur für ein maßvoll wirtschaftendes Gesundheitssystem eine Schande. Das ist für ihn auch moralisch immer weniger zu ertragen. Lauterbach buchstabiert die Zukunft "im Würgegriff" der Pharmaindustrie durch und weiß doch durch seinen Umgang mit der Gesundheitslobby, dass sein Lamento auf Seiten der Angeprangerten mit Genugtuung aufgenommen werden dürfte.
Denn die wenigen großen Pharmakonzerne, die das Geld und die Organisation besitzen, die mehr als dreihundert Krebsmedikamente in der Pipeline weiterzuentwickeln, haben die sicherste Zukunft, die man sich in der Branche denken kann. Sie sind annähernd Monopolisten. Sie setzen die Preise für zugelassene neue Medikamente so hoch fest, wie sie sie in den Verhandlungen mit den Krankenkassen durchsetzen zu können meinen. Die Einnahmen gehen dann bei den zu erwartenden Umsätzen weit über den Deckungsbeitrag der Forschungs- und Entwicklungskosten hinaus.
An der Stelle hätte Lauterbach das Rad weiter drehen können, er hätte sich fragen und den Leser darüber unterrichten können, was die Krankenkassenverbände hindert, die Kosten für die seiner Überzeugung nach fragwürdigen neuen Krebsmittel nicht zu ersetzen, was die Argumente der Industrie sind und wie der Prozess des Aushandelns eigentlich abläuft. Brisante Insiderinformationen scheint Lauterbach zu meiden - oder man übersieht sie, weil alles den Klischees entspricht.
Lauterbach hätte auch, weil das medizinischer Alltag ist, auf seine eigenen Beobachtungen zurückkommen müssen. Krebs, so heißt es sinngemäß an vielen Stellen des Buches, ist die am meisten gefürchtete Krankheit und deshalb das von den Menschen unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu bekämpfende Schicksal schlechthin. Das hat viel mit eigenen Erfahrungen und solchen bei Angehörigen zu tun, doch auch mit der Erwartungshaltung an die Medizin, speziell bei der Babyboomer-Generation. Genauso entscheidend aber ist die Erwartungshaltung, die die Gesundheitsindustrie, die Medizin und die Forschung und nicht zuletzt die Gesundheitspolitik seit Generationen schürt - Lauterbach selbst ist ein Kind des von Nixon regelrecht befohlenen "War on Cancer".
Lauterbach lässt keinen Zweifel daran, dass er den Weg der Krebsmedizin in einen Forschungsindustriekomplex für falsch hält. Er macht Vorschläge, wie Verbraucherschutz und Politik das Heft in die Hand nehmen könnten, um gerechtere Preise und aufgeklärte Patienten zu bekommen. Man wird sehen, wie groß seine Überzeugungskraft in Berlin und Brüssel ist.
Karl Lauterbach: "Die Krebsindustrie". Wie eine Krankheit Deutschland erobert.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Auf die Überzeugungskraft des Autors in Berlin und Brüssel ist Rezensent Joachim Müller-Jung jetzt schon gespannt. Ob Karl Lauterbach mit seinen Vorschlägen für eine gerechtere Preispolitik bei den Krebsmitteln und für aufgeklärte Patienten Gehör finden wird, würde er gerne wissen. Das Buch jedenfalls öffnet ihm die Augen über den Zusammenhang von alternder Gesellschaft und Herausbildung eines Marktes. Wie die Pharmaindustrie laut Lauterbach mit der explodierenden Zahl der Krebspatienten umgeht, lässt dem Rezensenten die Haare zu Berge stehen. Oder ist Lauterbach am Ende nur ein Verschwörungstheoretiker, der den Expansionsdrang und die Preistreiberei der Krebsmedizin maßlos übertreibt? So gern der Rezensent das glauben würde, zumal der Autor Insiderinformationen eher meidet und nicht fragt, wieso etwa die Kassen nicht handeln, am Ende scheint Müller-Jung doch zumindest alarmiert von der Schwarzmalerei des Autors: Die Krankheitsrepublik Deutschland - sie kommt!
© Perlentaucher Medien GmbH
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Im Würgegriff der Monopolisten
Das Milliardengeschäft mit dem Krebs und die Folgen: Karl Lauterbach sieht Deutschland auf dem Weg zu einer Krankheitsrepublik. Zwei Kriege drohen.
Von Joachim Müller-Jung
Gibt es ein Genug, wenn es um die Gesundheit geht, ein Bis-hierher-und-nicht-weiter? Können wir lernen, aufzuhören zu therapieren, nicht weil uns die medizinischen Mittel fehlen, sondern weil es schlichtweg zu teuer wird. Für den Kranken, vor allem aber auch für die Gesellschaft? Auf solche sehr grundsätzlichen und sehr dringenden und auch zutiefst menschlichen Fragen, die im gesundheitsökonomischen Umfeld mit hässlichen Begriffen wie Rationierung von Gesundheitsleistungen verknüpft sind, kann man auch bei dem Thema stoßen, das sich der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach vorgenommen hat. Die Krebsmedizin mit ihrem gewaltigen Expansionsdrang ist an diesem Punkt angekommen. Doch Lauterbach stellt ethische, grundsätzliche Zukunftsfragen der Medizin ganz gezielt hinter die politisch offenkundig dringlicheren Aspekte zurück.
So lautet also die spannendste Frage, die sich nach der Lektüre dieses Buches aufdrängt: Ist Karl Lauterbach ein unverbesserlicher Verschwörungstheoretiker oder der mutigste, entschiedenste, didaktisch ambitionierteste, prophetisch begabteste und am Ende vielleicht klügste Gesundheitspolitiker im Land? Karl Lauterbach, die medizinische Stimme der deutschen Sozialdemokratie, sieht, so viel steht fest, das Land im Krieg. In zwei bevorstehenden Kriegen genau genommen. Einerseits im Krieg, den alle gegen den Krebs führen, oder sagen wir: das halbe Volk, das mit Krebsleiden am eigenen Körper rechnen muss; und andererseits das ganze Volk im Krieg gegen die monströse Krake Krebsindustrie. Es ist, nicht zuletzt am Bucheinband, leicht zu erahnen: Lauterbach sieht schwarz für die Gesundheitsrepublik, die mit der Krebsepidemie eine Krankheitsrepublik zu werden verspricht.
Mit der Babyboomer-Generation, so die Ausgangsüberlegung Lauterbachs, kommt die zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsfraktion in ein Alter, in dem nun nicht nur die ersten Nachweltgedanken, sondern auch konkrete und sehr bedrohliche Überlebensängste allmählich Raum greifen. Schon bald werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen, die allermeisten jenseits des Renteneintrittsalters, die Diagnose Krebs erhalten. Millionen Krebspatienten und Krebsüberlebender werden unter uns leben. Die Krankenhäuser sind heute schon voll von ihnen, in vielen Kliniken ist bald jeder Zweite ein Krebspatient. Lauterbach hat diese zum großen Teil demographisch bedingte - Stichwort: alternde Gesellschaft - und unvermeidliche Entwicklung zusammengebracht mit der medizinisch-pharmakologischen Entwicklung, die ebenso unvermeidlich zu sein scheint: Die Herausbildung eines Krankheitsmarktes, der die steigende Nachfrage nach hoffentlich besseren Diagnosen und erfolgreicheren Therapien teuer bedient.
Hundert- bis hundertfünfzigtausend Euro jährlich kosten viele der inzwischen mehr als ein Dutzend neuen Krebstherapien. Lauterbach erläutert die Wirkweisen ebenso wie die Geschichte dieser neuen Mittel in einer bemerkenswerten Breite. Im Prinzip glaubt er daran, dass die neue Generation an Arzneien "in wenigen Jahrzehnten" Krebs heilen kann, ebenso wie er Vorbeugung, Aufklärung und wissenschaftlich fundierte Früherkennung schätzt.
Allerdings werden die neuen Krebsmittel - wie manche Früherkennungsmaßnahmen - unter dem Label "individualisierte Medizin" so heftig beworben, dass Lauterbach darin eine geradezu unethische, obszöne Marketingstrategie der Konzerne sieht. Verantwortlich macht er dafür das heute noch krasse Missverhältnis von Preis und Nutzen der Mittel. Ein paar Wochen mehr Lebenserwartung im Schnitt, fragwürdige Lebensqualitätsgewinne, und das zu einem Preis, so Lauterbach, für den man gut und gerne drei Pflegekräfte im Jahr bezahlen könnte, das sei nicht nur für ein maßvoll wirtschaftendes Gesundheitssystem eine Schande. Das ist für ihn auch moralisch immer weniger zu ertragen. Lauterbach buchstabiert die Zukunft "im Würgegriff" der Pharmaindustrie durch und weiß doch durch seinen Umgang mit der Gesundheitslobby, dass sein Lamento auf Seiten der Angeprangerten mit Genugtuung aufgenommen werden dürfte.
Denn die wenigen großen Pharmakonzerne, die das Geld und die Organisation besitzen, die mehr als dreihundert Krebsmedikamente in der Pipeline weiterzuentwickeln, haben die sicherste Zukunft, die man sich in der Branche denken kann. Sie sind annähernd Monopolisten. Sie setzen die Preise für zugelassene neue Medikamente so hoch fest, wie sie sie in den Verhandlungen mit den Krankenkassen durchsetzen zu können meinen. Die Einnahmen gehen dann bei den zu erwartenden Umsätzen weit über den Deckungsbeitrag der Forschungs- und Entwicklungskosten hinaus.
An der Stelle hätte Lauterbach das Rad weiter drehen können, er hätte sich fragen und den Leser darüber unterrichten können, was die Krankenkassenverbände hindert, die Kosten für die seiner Überzeugung nach fragwürdigen neuen Krebsmittel nicht zu ersetzen, was die Argumente der Industrie sind und wie der Prozess des Aushandelns eigentlich abläuft. Brisante Insiderinformationen scheint Lauterbach zu meiden - oder man übersieht sie, weil alles den Klischees entspricht.
Lauterbach hätte auch, weil das medizinischer Alltag ist, auf seine eigenen Beobachtungen zurückkommen müssen. Krebs, so heißt es sinngemäß an vielen Stellen des Buches, ist die am meisten gefürchtete Krankheit und deshalb das von den Menschen unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu bekämpfende Schicksal schlechthin. Das hat viel mit eigenen Erfahrungen und solchen bei Angehörigen zu tun, doch auch mit der Erwartungshaltung an die Medizin, speziell bei der Babyboomer-Generation. Genauso entscheidend aber ist die Erwartungshaltung, die die Gesundheitsindustrie, die Medizin und die Forschung und nicht zuletzt die Gesundheitspolitik seit Generationen schürt - Lauterbach selbst ist ein Kind des von Nixon regelrecht befohlenen "War on Cancer".
Lauterbach lässt keinen Zweifel daran, dass er den Weg der Krebsmedizin in einen Forschungsindustriekomplex für falsch hält. Er macht Vorschläge, wie Verbraucherschutz und Politik das Heft in die Hand nehmen könnten, um gerechtere Preise und aufgeklärte Patienten zu bekommen. Man wird sehen, wie groß seine Überzeugungskraft in Berlin und Brüssel ist.
Karl Lauterbach: "Die Krebsindustrie". Wie eine Krankheit Deutschland erobert.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Milliardengeschäft mit dem Krebs und die Folgen: Karl Lauterbach sieht Deutschland auf dem Weg zu einer Krankheitsrepublik. Zwei Kriege drohen.
Von Joachim Müller-Jung
Gibt es ein Genug, wenn es um die Gesundheit geht, ein Bis-hierher-und-nicht-weiter? Können wir lernen, aufzuhören zu therapieren, nicht weil uns die medizinischen Mittel fehlen, sondern weil es schlichtweg zu teuer wird. Für den Kranken, vor allem aber auch für die Gesellschaft? Auf solche sehr grundsätzlichen und sehr dringenden und auch zutiefst menschlichen Fragen, die im gesundheitsökonomischen Umfeld mit hässlichen Begriffen wie Rationierung von Gesundheitsleistungen verknüpft sind, kann man auch bei dem Thema stoßen, das sich der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach vorgenommen hat. Die Krebsmedizin mit ihrem gewaltigen Expansionsdrang ist an diesem Punkt angekommen. Doch Lauterbach stellt ethische, grundsätzliche Zukunftsfragen der Medizin ganz gezielt hinter die politisch offenkundig dringlicheren Aspekte zurück.
So lautet also die spannendste Frage, die sich nach der Lektüre dieses Buches aufdrängt: Ist Karl Lauterbach ein unverbesserlicher Verschwörungstheoretiker oder der mutigste, entschiedenste, didaktisch ambitionierteste, prophetisch begabteste und am Ende vielleicht klügste Gesundheitspolitiker im Land? Karl Lauterbach, die medizinische Stimme der deutschen Sozialdemokratie, sieht, so viel steht fest, das Land im Krieg. In zwei bevorstehenden Kriegen genau genommen. Einerseits im Krieg, den alle gegen den Krebs führen, oder sagen wir: das halbe Volk, das mit Krebsleiden am eigenen Körper rechnen muss; und andererseits das ganze Volk im Krieg gegen die monströse Krake Krebsindustrie. Es ist, nicht zuletzt am Bucheinband, leicht zu erahnen: Lauterbach sieht schwarz für die Gesundheitsrepublik, die mit der Krebsepidemie eine Krankheitsrepublik zu werden verspricht.
Mit der Babyboomer-Generation, so die Ausgangsüberlegung Lauterbachs, kommt die zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsfraktion in ein Alter, in dem nun nicht nur die ersten Nachweltgedanken, sondern auch konkrete und sehr bedrohliche Überlebensängste allmählich Raum greifen. Schon bald werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen, die allermeisten jenseits des Renteneintrittsalters, die Diagnose Krebs erhalten. Millionen Krebspatienten und Krebsüberlebender werden unter uns leben. Die Krankenhäuser sind heute schon voll von ihnen, in vielen Kliniken ist bald jeder Zweite ein Krebspatient. Lauterbach hat diese zum großen Teil demographisch bedingte - Stichwort: alternde Gesellschaft - und unvermeidliche Entwicklung zusammengebracht mit der medizinisch-pharmakologischen Entwicklung, die ebenso unvermeidlich zu sein scheint: Die Herausbildung eines Krankheitsmarktes, der die steigende Nachfrage nach hoffentlich besseren Diagnosen und erfolgreicheren Therapien teuer bedient.
Hundert- bis hundertfünfzigtausend Euro jährlich kosten viele der inzwischen mehr als ein Dutzend neuen Krebstherapien. Lauterbach erläutert die Wirkweisen ebenso wie die Geschichte dieser neuen Mittel in einer bemerkenswerten Breite. Im Prinzip glaubt er daran, dass die neue Generation an Arzneien "in wenigen Jahrzehnten" Krebs heilen kann, ebenso wie er Vorbeugung, Aufklärung und wissenschaftlich fundierte Früherkennung schätzt.
Allerdings werden die neuen Krebsmittel - wie manche Früherkennungsmaßnahmen - unter dem Label "individualisierte Medizin" so heftig beworben, dass Lauterbach darin eine geradezu unethische, obszöne Marketingstrategie der Konzerne sieht. Verantwortlich macht er dafür das heute noch krasse Missverhältnis von Preis und Nutzen der Mittel. Ein paar Wochen mehr Lebenserwartung im Schnitt, fragwürdige Lebensqualitätsgewinne, und das zu einem Preis, so Lauterbach, für den man gut und gerne drei Pflegekräfte im Jahr bezahlen könnte, das sei nicht nur für ein maßvoll wirtschaftendes Gesundheitssystem eine Schande. Das ist für ihn auch moralisch immer weniger zu ertragen. Lauterbach buchstabiert die Zukunft "im Würgegriff" der Pharmaindustrie durch und weiß doch durch seinen Umgang mit der Gesundheitslobby, dass sein Lamento auf Seiten der Angeprangerten mit Genugtuung aufgenommen werden dürfte.
Denn die wenigen großen Pharmakonzerne, die das Geld und die Organisation besitzen, die mehr als dreihundert Krebsmedikamente in der Pipeline weiterzuentwickeln, haben die sicherste Zukunft, die man sich in der Branche denken kann. Sie sind annähernd Monopolisten. Sie setzen die Preise für zugelassene neue Medikamente so hoch fest, wie sie sie in den Verhandlungen mit den Krankenkassen durchsetzen zu können meinen. Die Einnahmen gehen dann bei den zu erwartenden Umsätzen weit über den Deckungsbeitrag der Forschungs- und Entwicklungskosten hinaus.
An der Stelle hätte Lauterbach das Rad weiter drehen können, er hätte sich fragen und den Leser darüber unterrichten können, was die Krankenkassenverbände hindert, die Kosten für die seiner Überzeugung nach fragwürdigen neuen Krebsmittel nicht zu ersetzen, was die Argumente der Industrie sind und wie der Prozess des Aushandelns eigentlich abläuft. Brisante Insiderinformationen scheint Lauterbach zu meiden - oder man übersieht sie, weil alles den Klischees entspricht.
Lauterbach hätte auch, weil das medizinischer Alltag ist, auf seine eigenen Beobachtungen zurückkommen müssen. Krebs, so heißt es sinngemäß an vielen Stellen des Buches, ist die am meisten gefürchtete Krankheit und deshalb das von den Menschen unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu bekämpfende Schicksal schlechthin. Das hat viel mit eigenen Erfahrungen und solchen bei Angehörigen zu tun, doch auch mit der Erwartungshaltung an die Medizin, speziell bei der Babyboomer-Generation. Genauso entscheidend aber ist die Erwartungshaltung, die die Gesundheitsindustrie, die Medizin und die Forschung und nicht zuletzt die Gesundheitspolitik seit Generationen schürt - Lauterbach selbst ist ein Kind des von Nixon regelrecht befohlenen "War on Cancer".
Lauterbach lässt keinen Zweifel daran, dass er den Weg der Krebsmedizin in einen Forschungsindustriekomplex für falsch hält. Er macht Vorschläge, wie Verbraucherschutz und Politik das Heft in die Hand nehmen könnten, um gerechtere Preise und aufgeklärte Patienten zu bekommen. Man wird sehen, wie groß seine Überzeugungskraft in Berlin und Brüssel ist.
Karl Lauterbach: "Die Krebsindustrie". Wie eine Krankheit Deutschland erobert.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main