In der spirituellen und kontemplativen Unbehaustheit der modernen westlichen Welt erkennt René Guénon eine Leerstelle, die nur der Osten zu füllen vermag, indem er dem Westen zu einer Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen verhilft. Wahre Erkenntnis lässt sich nicht über den Intellekt, die Ratio oder den Diskurs erlangen, sondern ist das Produkt eines Sich-Einlassens auf das Unwandelbare. Nur das Bewusstsein eines höheren Prinzips erlaubt die Über windung der Fragmentierung, die in allen Lebensbereichen, vor allem aber auch in den Wissenschaften des modernen Westens, Einzug gehalten hat. Die moderne Philosophie hat keinen Erkenntnisgewinn aufzuweisen, denn sie besteht nur aus Mehrdeutigkeiten und schlecht gestellten Fragen. In seiner Kritik des Individualismus ist Guénon brandaktuell: Leidenschaftlich wendet er sich gegen das Streben nach Profitmaximierung, materiellem Fortschritt und individueller Selbstverwirklichung. Den Vorrang des Materialismus und der Beforschung der sinnlich erfahrbaren Welt vor allem anderen verachtet er zutiefst - und weist einen anderen Weg: gegen den Imperativ des westlichen Denkens und für ein Aufgehen des Einzelnen in Kultur und Spiritualität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2020Die Hyperboräer wussten noch Bescheid
Ganz alt muss die Weisheit sein: René Guénons Beschwörung spiritueller Urzeit neu übersetzt
René Guénon (1886 bis 1951) ist einer jener Autoren, deren Werke nachhaltig wirken, aber nur von einem kleinen Kreis vertieft Interessierter zur Kenntnis genommen werden. Doch zu dieser Leserschaft zählten immerhin Autoren wie Mircea Eliade, André Breton, Antonin Artaud und Raymond Queneau. Guénon publizierte zu Lebzeiten siebzehn Bücher und eine Vielzahl kleinerer Texte, die sich Fragen der Metaphysik, der Esoterik und der Kritik an der Moderne widmen. Spirituelle Symbolwelten und Fragen der Initiation, die östlichen Religionen und die islamische Mystik stehen im Zentrum seiner zumeist nicht ohne Mühsal zu lesenden Werke. Seit 1930 lebte Guénon in Kairo, konvertierte zum Islam und verschrieb sich dem Sufismus.
Nun erscheint Guénons "Die Krise der modernen Welt" siebzig Jahre nach der ersten deutschen Ausgabe in einer neuen und gelungenen Übersetzung. Das Bändchen passt wohl zu aktuellen Stimmungslagen und auch zu einem Programmsegment des Verlags Matthes & Seitz, das etwas kokett auf der Grenze zwischen Konservativer Revolution 2.0 und Neomystik balanciert.
Für Guénon hat die "Krise der modernen Welt" begonnen, als das kritisch-philosophische Denken einsetzte und das Mythische, Spirituelle sich vom Profanen trennte. Dies sei im sechsten Jahrhundert vor Christus geschehen, als die Griechen zu philosophieren begannen, Rom in seine historisch fassbare Ära eintrat, sich in China Taoismus und Konfuzianismus bildeten, in Indien der Buddhismus entstand. Man stutzt ob dieser Bewertung: Ist dies nicht Karl Jaspers' "Achsenzeit"? Traten hier nicht die religiösen und philosophischen Konzepte auf den Plan, die uns bis heute prägen? War dies nicht die Morgenröte der geschichtlichen Welt? Andererseits haben ja aber auch Horkheimer und Adorno im alten Griechenland die ersten Ursachen des Unheils der Gegenwart gesucht: Bereits in der Gestalt des Odysseus zeige sich, wie die Überwindung des Mythos durch das aufgeklärte Kalkül des Intellekts alle Schrecken und Rückschritte des historischen Prozesses vorbereite.
In der damaligen Umbruchzeit erfolgte für Guénon die Spaltung einer ursprünglichen menschlichen Spiritualität in eine esoterische, nur wenigen Eingeweihten zugängliche Lehre und eine allgemeine, exoterische religiöse Praxis. Auch sei damals die wahre "Tradition" verdrängt worden - ein Wissen, das nicht zwischen profan und sakral unterschied. Die altindischen Veden sind für Guénon noch letzte Texte solch "sakraler" oder "traditioneller" Wissenschaft. Der Ursprung dieser uralten Tradition aber liege noch weiter zurück, bei den "Atlantern" oder den "Hyperboräern". Guénon verweist hier auf Fiktionen einer untergegangenen Rasse von Übermenschen, die im Okkultismus der Jahrhundertwende Konjunktur hatten. Sein Traditionsbegriff fußt auf der seit Jahrhunderten durch die europäische Ideengeschichte geisternden Vorstellung einer verschütteten Ewigen Weisheit.
Im Katholizismus sieht Guénon den einzigen Ort, an dem noch Reste der alten, wahren Tradition im Westen überlebt haben. Doch abgesehen davon hält er unsere Zivilisation für spirituell tot. Er rechnet ab mit dem, was er als ihre Zumutungen empfindet: seichter, im Kommerz aufgehender Individualismus, ein Humanismus, der Durchschnitt und Diesseitigkeit propagiere, sinnlose Hektik des Lebens, demokratisch legitimierte Pöbelherrschaft, Begriffsspielereien und platter Materialismus in der akademischen Wissenschaft; und deutet das alles als Zeichen dafür, dass die Welt ins hinduistische "Zeitalter des Streits" (Kaliyuga) eingetreten sei, eine katastrophische Umwälzung und Erneuerung anstünden.
Anders sehe es im "Osten" aus. Dieser Osten Guénons ist ein geographisch und historisch kaum fassbares Konstrukt, das Hinduismus, Taoismus, Buddhismus, aber vor allem die islamische Mystik des Sufismus umfasst. Sie alle trügen noch die ursprüngliche Tradition in sich. Ein wenig erinnert Guénons Bild des Ostens an einen ins Positive gewendeten Orientalismus: Wenn Edward Said behauptete, im Europa der Neuzeit sei der Orient als Stereotyp erfunden worden, von dem sich der Westen umso überlegener und zivilisierter abheben wollte, so baut Guénon ein positives Stereotyp des Ostens auf, um das Gegenbild zu einer schalen westlichen Zivilisation zu zeichnen. Die Ausarbeitung dieses Weltbilds samt phantastischer weltgeschichtlicher Entwürfe findet allerdings in anderen, mystischen Schriften Guénons statt - von ihnen wurden nur "Der König der Welt", "Die Symbolik des Kreuzes" und "Stufen des Seins" auf Deutsch veröffentlicht und sind lange vergriffen.
Guénons Kritik an Demokratie und Humanismus fällt pauschal und schematisch aus - da war die Debatte auch 1927 auf allen Seiten schon differenzierter möglich. Reizvoll unzeitgemäß sind hingegen seine Sympathien für Islam und Katholizismus. Gern sähe man manch nervenden Demokratiefeind dauerhaft in stummer mystischer Versenkung, sei es im Konventshaus eines Sufi-Ordens oder zerknirscht vor einem Gnadenbild der Mutter Gottes.
DIETHARD SAWICKI
René Guénon: "Die Krise der modernen Welt".
Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 190 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ganz alt muss die Weisheit sein: René Guénons Beschwörung spiritueller Urzeit neu übersetzt
René Guénon (1886 bis 1951) ist einer jener Autoren, deren Werke nachhaltig wirken, aber nur von einem kleinen Kreis vertieft Interessierter zur Kenntnis genommen werden. Doch zu dieser Leserschaft zählten immerhin Autoren wie Mircea Eliade, André Breton, Antonin Artaud und Raymond Queneau. Guénon publizierte zu Lebzeiten siebzehn Bücher und eine Vielzahl kleinerer Texte, die sich Fragen der Metaphysik, der Esoterik und der Kritik an der Moderne widmen. Spirituelle Symbolwelten und Fragen der Initiation, die östlichen Religionen und die islamische Mystik stehen im Zentrum seiner zumeist nicht ohne Mühsal zu lesenden Werke. Seit 1930 lebte Guénon in Kairo, konvertierte zum Islam und verschrieb sich dem Sufismus.
Nun erscheint Guénons "Die Krise der modernen Welt" siebzig Jahre nach der ersten deutschen Ausgabe in einer neuen und gelungenen Übersetzung. Das Bändchen passt wohl zu aktuellen Stimmungslagen und auch zu einem Programmsegment des Verlags Matthes & Seitz, das etwas kokett auf der Grenze zwischen Konservativer Revolution 2.0 und Neomystik balanciert.
Für Guénon hat die "Krise der modernen Welt" begonnen, als das kritisch-philosophische Denken einsetzte und das Mythische, Spirituelle sich vom Profanen trennte. Dies sei im sechsten Jahrhundert vor Christus geschehen, als die Griechen zu philosophieren begannen, Rom in seine historisch fassbare Ära eintrat, sich in China Taoismus und Konfuzianismus bildeten, in Indien der Buddhismus entstand. Man stutzt ob dieser Bewertung: Ist dies nicht Karl Jaspers' "Achsenzeit"? Traten hier nicht die religiösen und philosophischen Konzepte auf den Plan, die uns bis heute prägen? War dies nicht die Morgenröte der geschichtlichen Welt? Andererseits haben ja aber auch Horkheimer und Adorno im alten Griechenland die ersten Ursachen des Unheils der Gegenwart gesucht: Bereits in der Gestalt des Odysseus zeige sich, wie die Überwindung des Mythos durch das aufgeklärte Kalkül des Intellekts alle Schrecken und Rückschritte des historischen Prozesses vorbereite.
In der damaligen Umbruchzeit erfolgte für Guénon die Spaltung einer ursprünglichen menschlichen Spiritualität in eine esoterische, nur wenigen Eingeweihten zugängliche Lehre und eine allgemeine, exoterische religiöse Praxis. Auch sei damals die wahre "Tradition" verdrängt worden - ein Wissen, das nicht zwischen profan und sakral unterschied. Die altindischen Veden sind für Guénon noch letzte Texte solch "sakraler" oder "traditioneller" Wissenschaft. Der Ursprung dieser uralten Tradition aber liege noch weiter zurück, bei den "Atlantern" oder den "Hyperboräern". Guénon verweist hier auf Fiktionen einer untergegangenen Rasse von Übermenschen, die im Okkultismus der Jahrhundertwende Konjunktur hatten. Sein Traditionsbegriff fußt auf der seit Jahrhunderten durch die europäische Ideengeschichte geisternden Vorstellung einer verschütteten Ewigen Weisheit.
Im Katholizismus sieht Guénon den einzigen Ort, an dem noch Reste der alten, wahren Tradition im Westen überlebt haben. Doch abgesehen davon hält er unsere Zivilisation für spirituell tot. Er rechnet ab mit dem, was er als ihre Zumutungen empfindet: seichter, im Kommerz aufgehender Individualismus, ein Humanismus, der Durchschnitt und Diesseitigkeit propagiere, sinnlose Hektik des Lebens, demokratisch legitimierte Pöbelherrschaft, Begriffsspielereien und platter Materialismus in der akademischen Wissenschaft; und deutet das alles als Zeichen dafür, dass die Welt ins hinduistische "Zeitalter des Streits" (Kaliyuga) eingetreten sei, eine katastrophische Umwälzung und Erneuerung anstünden.
Anders sehe es im "Osten" aus. Dieser Osten Guénons ist ein geographisch und historisch kaum fassbares Konstrukt, das Hinduismus, Taoismus, Buddhismus, aber vor allem die islamische Mystik des Sufismus umfasst. Sie alle trügen noch die ursprüngliche Tradition in sich. Ein wenig erinnert Guénons Bild des Ostens an einen ins Positive gewendeten Orientalismus: Wenn Edward Said behauptete, im Europa der Neuzeit sei der Orient als Stereotyp erfunden worden, von dem sich der Westen umso überlegener und zivilisierter abheben wollte, so baut Guénon ein positives Stereotyp des Ostens auf, um das Gegenbild zu einer schalen westlichen Zivilisation zu zeichnen. Die Ausarbeitung dieses Weltbilds samt phantastischer weltgeschichtlicher Entwürfe findet allerdings in anderen, mystischen Schriften Guénons statt - von ihnen wurden nur "Der König der Welt", "Die Symbolik des Kreuzes" und "Stufen des Seins" auf Deutsch veröffentlicht und sind lange vergriffen.
Guénons Kritik an Demokratie und Humanismus fällt pauschal und schematisch aus - da war die Debatte auch 1927 auf allen Seiten schon differenzierter möglich. Reizvoll unzeitgemäß sind hingegen seine Sympathien für Islam und Katholizismus. Gern sähe man manch nervenden Demokratiefeind dauerhaft in stummer mystischer Versenkung, sei es im Konventshaus eines Sufi-Ordens oder zerknirscht vor einem Gnadenbild der Mutter Gottes.
DIETHARD SAWICKI
René Guénon: "Die Krise der modernen Welt".
Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 190 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Wolf Lepenies nimmt die Neuausgabe von René Guénons Buch von 1927 zum Anlass, um die "faszinierende" Wirkungsgeschichte des Mystikers und Philosophen zu erkunden. Wie der "Außenseiter" im Wissenschaftsbetrieb und seine Kritik des Westens nach dem Ersten Weltkrieg zum Leitbild von faschistisch orientierten Autoren wie Julius Evola wurden, erläutert Lepenies ebenso wie er die Ideen aus "Der Krise der modernen Welt" in den Protesten der Gilets Jaunes wiederentdeckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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