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Elf Dichter, die sich nicht nur aus ihrer Welt weg-, sondern eine Welt der Seligkeit herbeigewünscht haben.Norbert Miller begleitet die Vorläufer der europäischen Moderne, die großen Schöpfer von literarischen Paradiesen, auf ihren Pfaden durch die Untiefen der Seele.Von den Kuriositäten-Reportagen eines Restif de la Bretonne bis zu Eduard Mörikes Kinderfantasie eines fernen Inselreichs, von Samuel Taylor Coleridges lyrischen Balladen hin zu Jean Pauls erschriebenem Leben, von Thomas de Quinceys Niederschrift seiner Bekenntnisse eines Opiumessers über E.A. Poes kalkulierten Schreibprozess bis…mehr

Produktbeschreibung
Elf Dichter, die sich nicht nur aus ihrer Welt weg-, sondern eine Welt der Seligkeit herbeigewünscht haben.Norbert Miller begleitet die Vorläufer der europäischen Moderne, die großen Schöpfer von literarischen Paradiesen, auf ihren Pfaden durch die Untiefen der Seele.Von den Kuriositäten-Reportagen eines Restif de la Bretonne bis zu Eduard Mörikes Kinderfantasie eines fernen Inselreichs, von Samuel Taylor Coleridges lyrischen Balladen hin zu Jean Pauls erschriebenem Leben, von Thomas de Quinceys Niederschrift seiner Bekenntnisse eines Opiumessers über E.A. Poes kalkulierten Schreibprozess bis zu Charles Baudelaires zugleich deskriptiven und die Beschreibung überschreitenden Rauschmittel-Berichten - für tausendundeine Nacht schlägt das Erzählen die Zuhörenden und nach ihnen die Lesenden in seinen Bann und begründet eine ganze Literatur, die sich ihre Stoffe aus Reportage und Arabeske, aus Fantasie und Traum holt, bis hin zu den Halluzinationen unter »bewusstseinserweiternden« Substanzen wie Opium und Haschisch - Kopfkino beim Zuhören und Lesen.»Detailverliebt, bilderfreudig und in einer Sprache von höchster Eleganz schwelgend, [...] bereitet er dem Leser Genuss um Genuss.«Hans Albrecht Koch, Die Welt
Autorenporträt
Norbert Miller, geb. 1937, war 1973-2006 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Piranesis römische Anfänge und seine Rezeption in England (2021); Marblemania. Kavaliersreisen und der römische Antikenhandel (2018); Paradox und Wunderschachtel (2012); Die ungeheure Gewalt der Musik. Goethe und seine Komponisten (2009).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Joachim Kalka findet dieses umfangreiche Werk über die Literatur der Romantik geradezu umwerfend. Der Literatur- und Kunstwissenschaftler Norbert Miller hat hier in sorgfältiger Komposition elf Studien versammelt, unter anderem zu Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Eduard Mörike, Edgar Allan Poe und Baudelaire, berichtet der Kritiker. Der Fokus des Bandes liegt auf der romantischen Prosa, aber auch Lyrik hat große Bedeutung, lesen wir. Kalka findet auch die textergänzenden Mini-Exkurse sehr informativ: Millers Studien sind augenscheinlich, so der Rezensent, das Produkt jahrelanger, intensiver Analyse. Aber neben der theoretischen Brillanz lässt sich der Kritiker auch gerne von der "Hellsichtigkeit lange genossener Begeisterung" verführen, die den Texten innewohne. Fasziniert ist er auch davon, wie Miller es schafft, die romantischen Textwelten aus Mysterium, Traum und Begehren zum Leben zu erwecken und dabei auch in die seelischen Abgründe ihrer Autoren einzutauchen. Nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch ist der Band ein "Genuss", schwärmt Kalka, der auch die teilweise farbigen Illustrationen klug ausgewählt findet und die Gestaltung allgemein sehr ansprechend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.12.2022

Summe eines Gelehrtenlebens
Norbert Miller erzählt, wie europäische Dichter in den Reichen der Fantasie und des Rausches zusammenkamen
Als Charles Baudelaire 1860 mit seinem Verleger eine Ausgabe seiner Werke aushandelte, sollte der erste Band natürlich sein berühmtestes Werk, die „Fleurs du Mal“ enthalten. Der zweite Band war projektiert als eine Sammlung seiner Essays unter anderem über Delacroix, Thomas De Quincey und Edgar Allan Poe. Dieser Band erschien noch zu Lebzeiten von Baudelaire und trug den Titel „Les paradis artificiels. Opium et Haschisch“. Es ist der erste Teil dieses Titels, der dem großen Buch des Literaturwissenschaftlers Norbert Miller, dem Resumée eines Gelehrtenlebens, die Überschrift gibt.
Der zweite Teil von Baudelaires Titel verweist darauf, dass speziell Autoren des 19. Jahrhunderts Stimulanzien der Fantasie und der Imagination für äußerst förderlich hielten. In einer früheren Version steht dort statt Opium „Wein“ – eine Steigerung der Intensität war eingebaut. In einem seiner berühmtesten Gedichte „Einladung zur Reise“ animiert Baudelaire, der selbst nur einmal als junger Mann Paris und Nordfrankreich verlassen hat, seine Leser mit ihm in eine Gegend zu ziehen, wo alles Ordnung und Schönheit, Ruhe, Sinnlichkeit und Wohlgefühl ist, ein Gedicht, das von Henri Duparc hinreißend vertont wurde. Miller nimmt sich elf Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts vor, die, wie er einleitend sagt, sich mit ihrem Schreiben Kindheitswelten nachschufen, ganze Biografien erfanden, sich in Gemälde, Gärten und Landschaften hineinfantasierten, außerdem Alltagsszenen mit dem Prisma des Kuriosen bündelten, waffenlose Utopien entwickelten, sich kurz gesagt einen Elfenbeinturm der Fantasie und des Wundersamen schufen.
Das Buch beginnt mit Restif de La Bretonne, jenem französischen Erzähler des 18. Jahrhunderts, der, angeregt durch den gewaltigen Erfolg der Version der „Märchen aus 1001 Nacht“ des Orientalisten Antoine Galland sich entschloss, das Märchenhafte des Orients in den Nächten von Paris zu suchen, ein Flaneur, lange vor Walter Benjamin. Ihm folgt Jean Paul. Mit diesem Kapitel begibt sich Norbert Miller zurück an die Anfänge seiner literaturwissenschaftlichen Laufbahn.
Vor rund 60 Jahren hatte er zusammen mit Walter Höllerer begonnen, die bis heute gültige Leseausgabe des Genies aus dem Fichtelgebirge zu erarbeiten. Manche halten Jean Paul immer noch unbeirrt für den größten deutschen Erzähler, weil er es fertigbrachte, mit einer Sprachkraft und Fantasieeruption sondergleichen eine zweite Welt abseits der Banalität der ersten zu entwerfen. Seine Traumbilder haben nicht nur den Surrealismus beeinflusst. Gerade der Fall Jean Paul zeigt eine der großen Stärken dieses Buches: Miller hat wie Jean Pauls Luftschiffer Gianozzo einen ebenso staunens- wie bewundernswerten Überblick über die europäische Kultur der letzten Jahrhunderte, über die Literatur, aber auch über die bildende Kunst, die Architektur, die Gartenkunst und die Musik dieser Epochen. Und so kann er wie kein anderer zeigen, wie sehr ineinander verflochten gerade die europäische Literatur ist, wenn man sie unter die Lupe dieses Themas nimmt.
Dass E.T.A. Hoffmann in Frankreich einen erstaunlichen Erfolg hatte, ist bekannt, bis hin zu Jacques Offenbachs Meisteroper. Dass aber auch der eigentlich ziemlich schwer zu übersetzende Jean Paul in Frankreich erhebliche Wirkung gehabt hat, dass wiederum Edgar Allan Poe und De Quincey vor allem auf die französische Literatur einwirkten, nicht nur auf Baudelaire, dass Charles Nodier und Gérard de Nerval ohne die Anregungen aus Deutschland und Frankreich kaum ihre Fantasiewelten erschaffen hätten – dies macht das Buch auf eindrückliche Weise deutlich. Alle wesentlichen Zitate werden zweisprachig dargeboten. In diesem Sinne ist es ein komparatistisch angelegtes Buch, das aber keineswegs nur spezielle Literaturwissenschaft ist, sondern jedem Leser ein funkelndes Beziehungsnetz überstülpen kann, das kaum als Einengung empfunden werden wird, sondern als bereichernde Blickschärfung.
Dem deutschen Leser begegnen hier auch Autoren, die bei uns keineswegs so bekannt sind wie Hoffmann, Mörike, Stifter und Baudelaire. Schon Jean Paul ist kein Autor mehr, der zum Selbstverständlichen gehört. Samuel Taylor Coleridge und sein Freund Wordsworth sind es weit weniger. Mit welcher Sicherheit hatte Orson Welles noch in seinem Film-Meisterwerk „Citizen Kane“ Coleridges Ballade von Kubla Khan zitiert, in der der Traum von Xanadu heraufbeschworen wurde.
Meisterhaft, wie Miller E. T. A. Hoffmanns doppelte Wirklichkeit in seinen Märchen beleuchtet, subtil, wie er nachweisen kann, dass auch Mörike, mit dem man hier vielleicht zunächst nicht rechnen würde, mit seinem ferne leuchtenden Orplid in dieses Buch gehört. Neugierig macht Miller auf Charles Nodier, den unendlich belesenen Büchermenschen, der wie kein anderer Franzose seinerzeit die englische Schauer-Phantastik rezipiert hat.
Edgar Allan Poe, der einzige amerikanische Autor in Millers Panorama, erweist sich als in der europäischen Literatur eminent einflussreicher Erzähler einer Fantastik, entstanden aus kühler Rationalität. Manche Leser werden sich vielleicht wundern, dass Adalbert Stifter mit dem „Nachsommer“ hier behandelt wird. Norbert Miller ist natürlich auf diese Verwunderung eingestellt und sucht sie mit seiner ganzen Überzeugungskraft und Beredsamkeit zu entkräften. Einige Leser werden es dennoch mit Arno Schmidt halten, der meinte, dass es Stifter im „Nachsommer“ gelungen war, der deutschen Sprache ein Optimum an Eintönigkeit abzugewinnen.
Und schließlich das krönende Schlusskapitel über Baudelaire, dann doch der maßgebliche Autor der künstlichen Paradiese in Theorie und Praxis, ein Kapitel, das diesem großartigen Buch, das man durchaus auch ohne den begleitenden Genuss von anregenden Stimulanzien lesen kann, einen beeindruckenden Abschluss verleiht. Ob man dieses umfassende Spätwerk nun als ein Opus bezeichnet, das als „magnum“ oder „summum“ einzuschätzen ist, bleibt Nebensache. Selbst, wenn man glaubt, sich hie und da ein wenig auszukennen, kann man von diesem Buch, einer Schatztruhe und Wunderkammer der Fantasie, nur bereichert werden und aus ihm lernen.
JENS-MALTE FISCHER
Im Elfenbeinturm der Fantasie: Haschischraucherinnen auf dem Gemälde des italienischen Malers Gaetano Previati von 1887.
Foto: imago/Leemage
Norbert Miller:
Die künstlichen
Paradiese. Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge. Wallstein, Göttingen 2022. 887 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2023

In den romantischen Wäldern selig verschollen

Stifter, Poe, Nerval und Hoffmann: Norbert Millers üppiger Band "Die künstlichen Paradiese" führt uns in elf Studien zur Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, in die Zauberreiche des Traums und der Phantasie und findet in ihnen die Wirklichkeit.

Es ist dies ein in mehrfacher Hinsicht großes Buch - es ist profund, generös, wie unerschöpflich mit seinen fast neunhundert Seiten. Zu seinen Dimensionen gehört emphatisch auch diese Länge, die heroisch und üppig ist. Lange Bücher pflegen nachgerade Misstrauen zu erwecken. Falsch! Bei einem von Norbert Millers Lieblingsautoren, Gilbert Keith Chesterton, findet man die luzide Bemerkung (anlässlich der Romane von Walter Scott), es sei "gewiss ein sehr eigenartiger Umstand, dass ausschließlich in der Literatur ein Haus wegen seiner Geräumigkeit verabscheut wird, ein Gastgeber wegen seiner Großzügigkeit". Und Chesterton lädt den Leser ein, es den Figuren von Scotts Romanen gleichzutun, die mit heldenhafter Ausführlichkeit tafeln und trinken. "Der Leser sitzt bis weit in die Nacht hinein bei seinen Banketten." Das ist die Lektüreanweisung für Millers Buch, das bei allem listenreichen Wissen und aller staunenswerten Belesenheit kraft seiner hingerissenen Liebe zu den Texten etwas höchst Festives hat, etwas, das den Leser einlädt, als Komplize eine große Leidenschaftsinszenierung mitzugenießen.

Was haben wir hier? Eine sorgfältig komponierte, grob chronologische, zwischen drei Literatursprachen wechselnde Reihe von elf Studien zur Romantik. Sie gelten Restif de la Bretonne, Jean Paul, Coleridge, E. T. A. Hoffmann, De Quincey, Charles Nodier, Mörike, Edgar Allan Poe, Gérard de Nerval, Stifter, Baudelaire, und der Begriff des Romantischen ist entsprechend weit zu fassen. Der Titel "Die künstlichen Paradiese" zitiert Baudelaires Studien zu Opium und Haschisch in der Nachfolge De Quinceys; Millers Untertitel proklamiert dann als Thema "Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge". Man könnte sich damit amüsieren, das dritte Element dieser Trias einen Augenblick lang ganz ernst zu nehmen und zu denken: Hier wird gezeigt, dass die Droge von Restif de la Bretonne das nächtliche Flanieren durch Paris war, die Droge Mörikes aber Orplid (jenes, mit einem von Arno Schmidt entlehnten Begriff, "längere Gedankenspiel", dessen Fragmente und Echos sich bei Mörike im "Maler Nolten" und anderswo sowie in Texten und Briefen des Freundes Ludwig Bauer finden). In einer solchen Zuordnung steckte etwas von dem ungeheuren, süchtigen Ernst, den Literatur-Traum und Literatur-Phantasie auch dann haben können, wenn sie sich keiner physiologischen Rauschmittel bedienen.

Zu den Schlüsseltexten des Buches gehört - vielleicht vor allen anderen - Baudelaires Gedicht "Invitation au voyage", und wie keiner der hier beschworenen Titel ist dies Norbert Millers Programm: den Leser zu einer unerhörten Ausfahrt einzuladen, einer Fahrt in Landschaften des Äußeren und des Inneren, die - das gehört zur Logik dieser Reisen - ineinander verschwimmen, sich so kunstvoll ineinander auflösen wie in diesem Buch philologische Exaktheit und poetische Beschwörung. Die Lyrik hat große Bedeutung (Poes "Raven"; die großen Dichtungen von Coleridge: "The Rime of the Ancient Mariner", "Christabel", "Kubla Khan"; Mörikes "Gesang Weylas"), noch größere aber das oft ins Prosapoem übergehende romantische Erzählen. Ist schon die Parade der elf Studien beeindruckend, so wird das Buch durch ständige winzige Exkurse (die oft nur wenige Zeilen umfassen, aber immer einen komplexen Traditionszusammenhang überraschend fixieren) weiter angereichert, Verweise auf Salvator Rosa, Mrs. Radcliffe und Dutzende von anderen; wenn Miller beispielsweise seine große Interpretation des Landschaftsgartens bei Poe ("Die Domäne von Arnheim") entfaltet, werden dem Leser knappe, verlockende Perspektiven auf Ludwig II., Fürst Pückler-Muskau, Beckford und John Cowper Powys vorgeführt, und unerwartet und völlig logisch erfolgt bei dieser ungeheuren Bootsfahrt mit einem Mal eine kurze Beschwörung von C. F. Meyers Gedicht "Meine eingelegten Ruder triefen . . .". Der hohen Bedeutung der sich öffnenden Perspektive in der romantischen Landschaftsästhetik entspricht diese Faszination durch eine sich plötzlich darbietende Verbindungslinie zu einem ganz anderen OEuvre, die Miller blitzschnell zieht. Es versteht sich bei diesem Autor, dass auch immer wieder Echos aus Musik, Malerei und Grafik hörbar werden. Der Leser kann viele Bezüge zu den Themen von Millers früheren Büchern entdecken, etwa den Monographien zu Piranesi, Horace Walpole, William Beckford und Goethe in Italien.

Die elf Studien sind erkennbar das Produkt jahrzehntelanger, insistenter Beschäftigung mit bestimmten Schlüsselwerken des Romantischen. Nicht nur viel Reflexion und Gelehrsamkeit haben sich hier sedimentiert, sondern man spürt auch die Hellsichtigkeit lange genossener Begeisterung. Wer zum ersten Mal oder mit erneutem Interesse Hoffmanns "Prinzessin Brambilla" und deren grafisches Substrat bei Jaques Callot erforschen will oder das schmerzliche Zerwürfnis der beiden Autoren der "Lyrical Ballads", Coleridge und Wordsworth; wer sich auf einem neuen Weg Stifters "Nachsommer" nähern möchte, Nodiers wunderbarer "Krümelfee" oder den so erstaunlich als "poèmes en prose" lesbaren Narrationen Jean Pauls (wie sie Stefan George und Karl Wolfskehl als Anthologie versammelt haben), überlasse sich den Verführungen dieses Buches. Aufzählungen und Benennungen können nur von ferne andeuten, worin dessen Faszination liegt.

Der zwischen Dresden und Atlantis sich verstrickende Held von Hoffmanns "Goldenem Topf" tritt aus dem Tor auf den Obstmarkt und stolpert über einen Apfelkorb. "Beide Seiten der Wirklichkeit schnappen im gleichen Augenblick nach ihm, das Alltägliche und das Fremde, die Gewohnheit und das Abenteuer, und eine mit allen Nuancen spielende Instanz hält alle, auch die verworrensten Fäden in der Hand und schließt darüber mit dem Leser einen Pakt." Diese Instanz, die hier mit dem Leser paktiert, ist der Erzähler Hoffmann, aber im Kontext des vorliegenden Buches treffen die Worte auf Norbert Miller selbst zu - der entlegene wie scheinbar altbekannte Reiche der Literatur durchreist und uns einlädt, mit ihm an Bord zu gehen zu tausend und einer Fahrt. Kein Leser, dem noch genügend Neugier geblieben ist, sollte diese Einladung ausschlagen. Hier von den Zauberreichen des Traums und der Phantasie zu reden wäre natürlich nur eine sentimentale Phrase, wenn es Miller nicht gelänge, das Geheimnis dieser Literaturentwürfe in seiner ganzen komplexen Sinnlichkeit aufsteigen zu lassen, uns die Mysterien konkreter, quasi körperlicher Faszination zu zeigen, die in den Bildern, Handlungsvolten, Stimmungen wohnen. Diese Paradiese sind künstlich, das heißt: Sie besitzen eine unglaubliche Wirklichkeit.

Man könnte endlos zitieren aus diesem Buch mit seinen zahllosen verblüffenden und befriedigenden Sätzen. "Um dem Masken- und Schicksalsdurcheinander ein seliges Ende zu bereiten, bleibt den Beteiligten nur das achte Kapitel." Die Seligkeit, die Miller weniger als starke Metapher denn als Begriff verwendet, ist eine Art Synonym des Paradiesischen: die einen Augenblick erlangte Erfüllung eines Traumes, in dem sich Welt, Natur, Menschengewimmel auf einmal so geordnet haben, wie wir es uns insgeheim ersehnen. Der Leser bliebe dann gerne, um rasch einen zwölften Autor zu zitieren, "in den Wäldern selig verschollen", den großen Wäldern der Literatur, deren Weg uns immer fort vom Leben führt und dann mit einem Mal in dessen Zentrum. Die Seligkeit und das Paradies: Sie zu erlangen, haben die hier vorgeführten Autoren oft stupende Anstrengungen unternommen, und das Buch zeigt uns auch Obsessivität und Schmerzlichkeit solcher Phantasien: "Eine aus Kunst und Wahn entworfene Paradieses-Landschaft, der Poes Träume bis an sein Ende gegolten haben." "Nur das persönlichste Wort trägt die Wahrheit in sich. Nur die schutzlose Offenheit schützt gegen Täuschung, wo jede Täuschung Wahrheit sein will" (apropos Nerval). "Die von Mörike wieder und wieder sich selbst abgezwungene Einsicht in den Rätselcharakter aller menschlichen Welterfahrung": Es sind dies auch elf Meditationen über das Begehren, dessen Radikalität, die Gewalt seines Sehnens, seine Siege und die Ruinenfelder seines Scheiterns.

Wie kaum ein Literaturhistoriker versenkt sich Miller, ohne der rigorosen Philologie zu entsagen, in das lustvolle Geheimnis, in den Genuss der Texte. Dieser einem kurzsichtigen Theoriefetischismus radikal altmodisch erscheinende Ansatz der lektüreerfahrenen Kennerschaft demonstriert jedoch, dass er etwas entscheidend Zukünftiges enthält: Wenn man sich mit Literatur umfassend beschäftigen will, muss der analytisch Vorgehende auch das Hinreißende von Texten erfahren haben, genießend, träumend, mit dem Willen zur Berauschtheit.

Jedem Kapitel ist eine klug ausgewählte, von Fall zu Fall auch farbige Illustration vorangestellt. Der Anmerkungsapparat enthält Exkurse und bibliographische Hinweise. Die im Text behandelten längeren Zitate der französisch- und englischsprachigen Autoren werden am Fuß der Seite im Original zitiert. Der Verlag hat den Band schön und großzügig ausgestattet, sodass es auch von diesem Aspekt her für den Leser ein Genuss ist, sich in Norbert Millers Veduten hineinzuverlieren. JOACHIM KALKA

Norbert Miller: "Die künstlichen Paradiese". Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge.

Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 888 S., geb., 48,- Euro.

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»eine meisterliche Studie« (Paul Michael Lützeler, Tagesspiegel, 02.11.2022) »eine sehr anregende Literaturgeschichte, die Bekanntes und Unbekanntes miteinander verbindet« (Mario Scalla, hr2 Kultur, 19.12.2022) »Selbst, wenn man glaubt, sich hie und da ein wenig auszukennen, kann man von diesem Buch, einer Schatztruhe und Wunderkammer der Fantasie, nur bereichert werden und aus ihm lernen.« (Jens-Malte Fischer, Süddeutsche Zeitung, 28.12.2022) »Man könnte endlos zitieren aus diesem Buch mit seinen zahllosen verblüffenden und befriedigenden Sätzen« (Joachim Kalka, FAZ, 23.03.2023) »Wie kaum ein Literaturhistoriker versenkt sich Miller, ohne der rigorosen Philologie zu entsagen, in das lustvolle Geheimnis, in den Genuss der Texte.« (Joachim Kalka, FAZ, 23.03.2023) »Millers komparatistische Beschäftigung mit der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und seine wissenschaftliche Expertise in diesem Themenbereich erlauben nicht nur den souveränen und kenntnisreichen Umgang mit den literarischen Texten dieser Zeit, sondern ermöglichen auch - im Verbund mit einem eleganten Stil - eine gleichermaßen unterhaltsame wie bereichernde Lektüre« (Thomas Merklinger, literaturkritik.de, 22.05.2023)