»Die ruhelosen Seelen von 1989, die Opfer von 1989, meine Brüder, die Väter und Mütter von 1989, im Himmel, unter der Erde, im Regen und vom Wind davongeweht, wie sie waren, ich verneige mich vor euch.« Liao Yiwu
Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 mobilisierte die chinesische Regierung die Volksbefreiungsarmee, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten niederzuschlagen, die mehr Freiheit und Demokratie forderten. Am Platz des Himmlischen Friedens richteten sie ein Massaker an, das die Welt schockierte. Wie viele Menschen die Panzer niederrollten, wie viele Studenten von Soldaten erschossen oder zu Tode geprügelt wurden, gab die chinesische Regierung nie bekannt.
Liao Yiwu, der über das Massaker ein Gedicht verfasste und dafür vier Jahre inhaftiert wurde, führte über Jahre hinweg heimlich Interviews mit Augenzeugen und Angehörigen der Opfer. Entstanden ist ein ebenso schockierendes wie bewegendes Zeugnis der unfassbaren Ereignisse vom 4. Juni und eine Verneigung vor den mutigen Menschen, die für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einstanden.
Am frühen Morgen des 4. Juni 1989 mobilisierte die chinesische Regierung die Volksbefreiungsarmee, um die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten niederzuschlagen, die mehr Freiheit und Demokratie forderten. Am Platz des Himmlischen Friedens richteten sie ein Massaker an, das die Welt schockierte. Wie viele Menschen die Panzer niederrollten, wie viele Studenten von Soldaten erschossen oder zu Tode geprügelt wurden, gab die chinesische Regierung nie bekannt.
Liao Yiwu, der über das Massaker ein Gedicht verfasste und dafür vier Jahre inhaftiert wurde, führte über Jahre hinweg heimlich Interviews mit Augenzeugen und Angehörigen der Opfer. Entstanden ist ein ebenso schockierendes wie bewegendes Zeugnis der unfassbaren Ereignisse vom 4. Juni und eine Verneigung vor den mutigen Menschen, die für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einstanden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Pünktlich zur Verleihung des Friedenspreises an Liao Yiwu ist nun sein neues Buch "Die Kugel und das Opium" erschienen, annonciert Rezensent Andreas Platthaus, den die Lektüre dieses Gesprächsbandes ebenso beeindruckt wie bewegt hat. Ganz in der Tradition von Dantes "Göttlicher Komödie" begebe sich der chinesische Dissidentendichter auf eine "Höllenfahrt", so Platthaus, der hier tief in die Abgründe der chinesischen Gesellschaft blickt: Der Kritiker erlebt in den fünfzehn Gesprächen, die Yiwu mit Aufständischen führte, die im Juni 1989 nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking festgenommen wurden, Menschen, die von zerstörten Lebensentwürfen und über die Erniedrigungen und Qualen im Gefängnis erzählen. Darüber hinaus erfährt der erschütterte Rezensent in den eindringlichen Gesprächen, dass das Massaker auf dem Tiananmen, das bis zu zweitausend Menschenleben forderte, für China einen Rückfall in die Gewaltherrschaft der Partei bedeutete.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.10.2012Das Opium des Booms betäubt das Gedächtnis
Was bewirkt Angst, was bewirkt Mut, was kann der Mensch aushalten – Liao Yiwu schildert Leben und Sterben auf dem
Platz des Himmlischen Friedens. Sein neues Buch ist auch ein Mahnmal für die Opfer des Massakers vom 4. Juni 1989
VON INA HARTWIG
Selbst im Abstand von gut zwei Jahrzehnten bleibt die explosive historische Gemengelage von 1989 im Grunde unfassbar. Es beginnt mit der Fatwa gegen Salman Rushdie und seine Unterstützer am 14. Februar: Der islamische Fundamentalismus steht vor einer fürchterlichen, anhaltenden Karriere. Am 4. Juni werden die friedlichen Massendemonstrationen in Peking gnadenlos zusammengeschossen: der Anfang vom Ende des Volkskommunismus in China. In Berlin fällt am 9. November die Mauer: Der Kalte Krieg sackt in sich zusammen. Und bedenkt man, dass all diese weltverändernden Ereignisse ohne Handy, Twitter und Youtube vonstattengegangen sind, können einem durchaus Zweifel kommen, ob der Anteil der digitalen Kommunikationstechnik in der Beurteilung heutiger Aufstände nicht überschätzt wird.
Der diesjährige Friedenspreisträger Liao Yiwu jedenfalls lebte und litt in der entscheidenden Phase seines künstlerischen Lebens ganz und gar in der archaischen Sphäre von Dichtung und Gesang, Hunger und Gehirnwäsche, Widerstand und fliegendem Gerücht. Pünktlich zur Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche am kommenden Sonntag erscheint nun sein drittes Buch auf Deutsch, „Die Kugel und das Opium“, das eben jene epochalen Ereignisse um den 4. Juni 1989 einfängt. Es ist ein wichtiges, großes Buch – halb Literatur, halb Dokument und vor allem Mahnmal. Ein Mahnmal, das nicht am Ort des Geschehens aufgestellt wird, am Platz des Himmlischen Friedens in Peking, sondern dort, wo der 1958 in der Provinz Sichuan geborene Schriftsteller seit vorigem Jahr im Exil lebt, in Deutschland, genau: in einem Druckerzeugnis des S. Fischer Verlags.
Autoren wie Liao Yiwu beeindrucken allein durch ihre erschütternde Biografie – Hunger in der Kindheit, Umerziehungsmaßnahmen während der Kulturrevolution, Verfolgung, Gefängnis, Exil. Es besteht die Gefahr, dass angesichts ihrer politischen Bedeutung ihr literarisches Können unterschätzt wird. Dabei zeigt gerade Yiwus letztes Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“ (2011) über seine Zeit in chinesischen Gefängnissen, was für ein ausgezeichneter Literat hier nach Worten sucht – nach Worten, die beweisen, dass die menschliche Würde mit Füßen getreten wird, dass die Scham im Schlamm erstickt, dass aber der Wille zur Literatur nicht zu zerstören ist. Die Literatur stellt sich dem Grauen, und sie besteht vor ihm.
Schon Imre Kertész hat sich vehement gegen Adornos berühmtes Diktum ausgesprochen, das besagt, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch. Wie könnte die Literatur auf dieses Thema verzichten!, so Kertész voller Empörung. Sein „Roman eines Schicksallosen“ hat Auschwitz bekanntlich ein einzigartiges literarisches Denkmal gesetzt. Und erst vor Kurzem haben die endlich ins Deutsche gebrachten „Erzählungen aus Kolyma“ des jahrzehntelangen Lagerhäftlings Warlam Schalamow die bewundernde Aufmerksamkeit der Kritik auf sich gezogen. Denn auch Schalamow greift nach dem Elend bei Dauerhunger und Dauerfrost, nimmt sich die Vertierung der sowjetischen Häftlinge in Kolyma vor, um eine Literatur zu schreiben, die etwas Universelles einfängt – etwas, das die Menschennatur betrifft.
Vielleicht sollte man hier tatsächlich von anthropologischer Literatur sprechen. Wenn Liao Yiwu die Ereignisse am Tiananmen in Beijing (wie es im Buch stets chinesisch heißt) schildert, so geht es zwar um sehr konkrete Dinge – Parolen, Schläge, Blut –, zugleich aber um das, was der Mensch will. Was er aushalten kann. Was Angst bewirkt. Was Mut bewirkt. Was der Preis ist. Und es geht darum, jede Stimme als einzelne Stimme anzuerkennen in einem Land, in dem das Leben des Einzelnen wenig bis nichts zählt.
Den größten Teil nehmen insgesamt fünfzehn lange Interviews in Anspruch; darunter auch ein Selbstinterview, in dem Yiwu einiges über seine harte Kindheit unter Maos Kulturrevolution erzählt, als sein Vater, ein Lehrer, inhaftiert wurde. Der Sohn wird ihm später nachfolgen: Vier Jahre Haft für sein Gedicht „Massaker“, geschrieben nach dem 4. Juni, das der Dichter auf Tonband gesprochen und herumgereicht hat; verurteilt wird er für „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda“.
Über sieben Jahre hat Liao Yiwu im Untergrund sogenannte Rowdys interviewt, die es zum Teil viel länger als er in vollgepferchten, vor Gestank dampfenden Zellen aushalten mussten, in denen oft der reinste Sadismus unter den Häftlingen sich austobte, besonders wenn Kriminelle sich an den Küken vom Tiananmen labten. Einer der Interviewten erzählt wortreich, wie ein Mithäftling die Bandwürmer seines eigenen Stuhlgangs vor den Augen des Zellenbosses herunterwürgen musste, ohne dabei Ekel zeigen zu dürfen. An derlei Details ist das Buch reich.
Während der Massenproteste waren die Interviewten jung und gerieten, ohne eine politische Agenda gehabt zu haben, in die Glut der Ereignisse hinein. Sie konnten sich zum Teil nicht vorstellen, eben weil sie mit den Idealen des Volkskommunismus groß geworden waren, dass die heldenhafte Volksarmee auf das eigene Volk schießen würde. Grünschnäbel, pubertierende Jungs, „Jungfrauen“, wie Yiwu betont, die mit arglosem, situationsbedingtem Optimismus sich den Soldaten, den Panzern, den Waffen in den Weg stellten, die mitliefen, mitriefen – „Nieder mit Deng Xiaoping“ –, die die Demonstranten mit Essen versorgten oder einem Soldaten ein Eis reichten.
Was als friedlicher Studentenprotest begonnen hatte, wurde, auch das zeigt dieses Buch eindrücklich, von ganz einfachen Menschen, einschließlich einiger (weniger) Soldaten, von Busfahrern, Schaffnern oder alten Leuten aus der Nachbarschaft mitgetragen. Die „Rowdys“ hatten Pech, erwischt zu werden (viele ihresgleichen kamen davon und wollten später nichts mehr davon wissen). Sie wurden wegen „Brandstiftung“, „Sabotage“, „bewaffneter Rebellion“ oder „Aufwiegelung“ zu langen Haftstrafen verurteilt oder gleich zum Tode, manchmal willkürlich umgewandelt in „lebenslänglich mit Umerziehung“, was bedeutete: krank machende Sklavenarbeit. So mussten viele Häftlinge Tag und Nacht kistenweise Latexhandschuhe prüfen (per Aufpusten, wie Luftballons), die an amerikanische Firmen geliefert wurden; dies zum Stichwort Globalisierung. Bitter heißt es im Eingangskapitel: „International kursierte die Behauptung, die wirtschaftliche Entwicklung könne politische Reformen mit sich bringen und die Diktatur in Richtung Demokratie bewegen. Woraufhin die verschiedenen westlichen Länder, die wegen des 4. Juni Sanktionen gegen die chinesischen Kommunisten verhängt hatten, sich überschlugen, mit den Mördern Geschäfte zu machen (. . .).“
Noch heute sitzen etliche der damals Verurteilten in chinesischen Gefängnissen; einige von ihnen werden im Anhang dokumentiert. Jene, die Liao Yiwu bei heimlichen Treffen in schäbigen Hotelzimmern oder bescheidenen Kneipen in das Aufnahmegerät sprechen lässt, sind in der Mehrheit seelisch gebrochene Männer. Keiner der ehemaligen Häftlinge hat den Anschluss an die neue Zeit geschafft, in der „die Liebe zum Vaterland durch die Liebe zum Geld“ ersetzt worden ist, wie einer sich ausdrückt.
Sie leben auf engstem Raum bei ihren Eltern oder streunen herum; niemand will sie haben, niemand will an die unrühmliche Vergangenheit erinnert werden. Und die, die sich erinnern, haben Angst. Die wenigsten konnten ihre Ehe retten, ihre Kinder haben sich voll Abscheu abgewandt, als die kahlrasierten Monstergestalten aus der Haft zurückkamen.
Die Libido ist in der Haft systematisch kaputt gemacht worden; darüber schreibt Yiwu radikal, lakonisch, ohne Tabus. Die meisten sind körperlich einsam. Sie sind Aussätzige einer neuen Gesellschaft, die über den 4. Juni 1989 den schweren Mantel des Schweigens geworfen hat. Nur wenige der ehemaligen Häftlinge haben sich einen gesunden Zynismus und bissigen Witz bewahrt.
„Opium betäubt und verwischt das Gedächtnis an das Massaker“, steht am Anfang dieses so beeindruckenden wie bedrückenden Buchs. Und dann folgt die verzweifelte Frage: „Gibt es denn keine Alternative zu dem Opium des Booms, das die chinesische Diktatur exportiert?“ Am Ende findet sich eine Liste von 202 Todesopfern des Massakers vom 4. Juni, ein Bruchteil der Getöteten, in mühevoller Recherche gesammelt von den „Müttern des Tiananmen“. So paradox es auch klingen mag, aber dieses geschickt komponierte (und von Hans Peter Hoffmann geschmeidig übersetzte) Buch entfaltet selbst die Alternative, indem es den vielen Mikrogeschichten von Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Enteignungen, Folter und Zwangsarbeit ein komplexes menschliches Panorama der chinesischen Gesellschaft zu entlocken versteht. In der Begründung der Friedenspreis-Jury heißt es, Liao Yiwu begehre „sprachmächtig und unerschrocken“ gegen die politische Unterdrückung auf. Sprachmächtig – ohne Frage. Aber unerschrocken? Doch eher im Gegenteil: Der Schrecken kommt voll und ganz zu seinem Recht.
Liao Yiwu: Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Mit einer Liste von 202 Todesopfern des Massakers auf dem Tiananmen, bereitgestellt von Ding Zilin und Jiang Peikun. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 430 Seiten, 24,99 Euro.
Für sein Gedicht „Massaker“
wurde er zu vier Jahren
Haft verurteilt
Eine Liste von 202 Todesopfern
beschließt den Band
Juni 1989: Ein Student fordert die Soldaten auf, sich zurückzuziehen. Am 4. Juni beendete die Volksbefreiungsarmee die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten im Zentrum Pekings. Wie viele auf dem Platz des Himmlischen Friedens starben, gab die Regierung nicht bekannt.
FOTO: CATHERINE HENRIETTE/AFP
Liao Yiwu wurde 1958 in der Provinz Sichuan geboren, seit 2011 lebt er im Exil in Deutschland. Am Sonntag wird ihm in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Foto: dapd
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Was bewirkt Angst, was bewirkt Mut, was kann der Mensch aushalten – Liao Yiwu schildert Leben und Sterben auf dem
Platz des Himmlischen Friedens. Sein neues Buch ist auch ein Mahnmal für die Opfer des Massakers vom 4. Juni 1989
VON INA HARTWIG
Selbst im Abstand von gut zwei Jahrzehnten bleibt die explosive historische Gemengelage von 1989 im Grunde unfassbar. Es beginnt mit der Fatwa gegen Salman Rushdie und seine Unterstützer am 14. Februar: Der islamische Fundamentalismus steht vor einer fürchterlichen, anhaltenden Karriere. Am 4. Juni werden die friedlichen Massendemonstrationen in Peking gnadenlos zusammengeschossen: der Anfang vom Ende des Volkskommunismus in China. In Berlin fällt am 9. November die Mauer: Der Kalte Krieg sackt in sich zusammen. Und bedenkt man, dass all diese weltverändernden Ereignisse ohne Handy, Twitter und Youtube vonstattengegangen sind, können einem durchaus Zweifel kommen, ob der Anteil der digitalen Kommunikationstechnik in der Beurteilung heutiger Aufstände nicht überschätzt wird.
Der diesjährige Friedenspreisträger Liao Yiwu jedenfalls lebte und litt in der entscheidenden Phase seines künstlerischen Lebens ganz und gar in der archaischen Sphäre von Dichtung und Gesang, Hunger und Gehirnwäsche, Widerstand und fliegendem Gerücht. Pünktlich zur Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche am kommenden Sonntag erscheint nun sein drittes Buch auf Deutsch, „Die Kugel und das Opium“, das eben jene epochalen Ereignisse um den 4. Juni 1989 einfängt. Es ist ein wichtiges, großes Buch – halb Literatur, halb Dokument und vor allem Mahnmal. Ein Mahnmal, das nicht am Ort des Geschehens aufgestellt wird, am Platz des Himmlischen Friedens in Peking, sondern dort, wo der 1958 in der Provinz Sichuan geborene Schriftsteller seit vorigem Jahr im Exil lebt, in Deutschland, genau: in einem Druckerzeugnis des S. Fischer Verlags.
Autoren wie Liao Yiwu beeindrucken allein durch ihre erschütternde Biografie – Hunger in der Kindheit, Umerziehungsmaßnahmen während der Kulturrevolution, Verfolgung, Gefängnis, Exil. Es besteht die Gefahr, dass angesichts ihrer politischen Bedeutung ihr literarisches Können unterschätzt wird. Dabei zeigt gerade Yiwus letztes Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“ (2011) über seine Zeit in chinesischen Gefängnissen, was für ein ausgezeichneter Literat hier nach Worten sucht – nach Worten, die beweisen, dass die menschliche Würde mit Füßen getreten wird, dass die Scham im Schlamm erstickt, dass aber der Wille zur Literatur nicht zu zerstören ist. Die Literatur stellt sich dem Grauen, und sie besteht vor ihm.
Schon Imre Kertész hat sich vehement gegen Adornos berühmtes Diktum ausgesprochen, das besagt, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch. Wie könnte die Literatur auf dieses Thema verzichten!, so Kertész voller Empörung. Sein „Roman eines Schicksallosen“ hat Auschwitz bekanntlich ein einzigartiges literarisches Denkmal gesetzt. Und erst vor Kurzem haben die endlich ins Deutsche gebrachten „Erzählungen aus Kolyma“ des jahrzehntelangen Lagerhäftlings Warlam Schalamow die bewundernde Aufmerksamkeit der Kritik auf sich gezogen. Denn auch Schalamow greift nach dem Elend bei Dauerhunger und Dauerfrost, nimmt sich die Vertierung der sowjetischen Häftlinge in Kolyma vor, um eine Literatur zu schreiben, die etwas Universelles einfängt – etwas, das die Menschennatur betrifft.
Vielleicht sollte man hier tatsächlich von anthropologischer Literatur sprechen. Wenn Liao Yiwu die Ereignisse am Tiananmen in Beijing (wie es im Buch stets chinesisch heißt) schildert, so geht es zwar um sehr konkrete Dinge – Parolen, Schläge, Blut –, zugleich aber um das, was der Mensch will. Was er aushalten kann. Was Angst bewirkt. Was Mut bewirkt. Was der Preis ist. Und es geht darum, jede Stimme als einzelne Stimme anzuerkennen in einem Land, in dem das Leben des Einzelnen wenig bis nichts zählt.
Den größten Teil nehmen insgesamt fünfzehn lange Interviews in Anspruch; darunter auch ein Selbstinterview, in dem Yiwu einiges über seine harte Kindheit unter Maos Kulturrevolution erzählt, als sein Vater, ein Lehrer, inhaftiert wurde. Der Sohn wird ihm später nachfolgen: Vier Jahre Haft für sein Gedicht „Massaker“, geschrieben nach dem 4. Juni, das der Dichter auf Tonband gesprochen und herumgereicht hat; verurteilt wird er für „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda“.
Über sieben Jahre hat Liao Yiwu im Untergrund sogenannte Rowdys interviewt, die es zum Teil viel länger als er in vollgepferchten, vor Gestank dampfenden Zellen aushalten mussten, in denen oft der reinste Sadismus unter den Häftlingen sich austobte, besonders wenn Kriminelle sich an den Küken vom Tiananmen labten. Einer der Interviewten erzählt wortreich, wie ein Mithäftling die Bandwürmer seines eigenen Stuhlgangs vor den Augen des Zellenbosses herunterwürgen musste, ohne dabei Ekel zeigen zu dürfen. An derlei Details ist das Buch reich.
Während der Massenproteste waren die Interviewten jung und gerieten, ohne eine politische Agenda gehabt zu haben, in die Glut der Ereignisse hinein. Sie konnten sich zum Teil nicht vorstellen, eben weil sie mit den Idealen des Volkskommunismus groß geworden waren, dass die heldenhafte Volksarmee auf das eigene Volk schießen würde. Grünschnäbel, pubertierende Jungs, „Jungfrauen“, wie Yiwu betont, die mit arglosem, situationsbedingtem Optimismus sich den Soldaten, den Panzern, den Waffen in den Weg stellten, die mitliefen, mitriefen – „Nieder mit Deng Xiaoping“ –, die die Demonstranten mit Essen versorgten oder einem Soldaten ein Eis reichten.
Was als friedlicher Studentenprotest begonnen hatte, wurde, auch das zeigt dieses Buch eindrücklich, von ganz einfachen Menschen, einschließlich einiger (weniger) Soldaten, von Busfahrern, Schaffnern oder alten Leuten aus der Nachbarschaft mitgetragen. Die „Rowdys“ hatten Pech, erwischt zu werden (viele ihresgleichen kamen davon und wollten später nichts mehr davon wissen). Sie wurden wegen „Brandstiftung“, „Sabotage“, „bewaffneter Rebellion“ oder „Aufwiegelung“ zu langen Haftstrafen verurteilt oder gleich zum Tode, manchmal willkürlich umgewandelt in „lebenslänglich mit Umerziehung“, was bedeutete: krank machende Sklavenarbeit. So mussten viele Häftlinge Tag und Nacht kistenweise Latexhandschuhe prüfen (per Aufpusten, wie Luftballons), die an amerikanische Firmen geliefert wurden; dies zum Stichwort Globalisierung. Bitter heißt es im Eingangskapitel: „International kursierte die Behauptung, die wirtschaftliche Entwicklung könne politische Reformen mit sich bringen und die Diktatur in Richtung Demokratie bewegen. Woraufhin die verschiedenen westlichen Länder, die wegen des 4. Juni Sanktionen gegen die chinesischen Kommunisten verhängt hatten, sich überschlugen, mit den Mördern Geschäfte zu machen (. . .).“
Noch heute sitzen etliche der damals Verurteilten in chinesischen Gefängnissen; einige von ihnen werden im Anhang dokumentiert. Jene, die Liao Yiwu bei heimlichen Treffen in schäbigen Hotelzimmern oder bescheidenen Kneipen in das Aufnahmegerät sprechen lässt, sind in der Mehrheit seelisch gebrochene Männer. Keiner der ehemaligen Häftlinge hat den Anschluss an die neue Zeit geschafft, in der „die Liebe zum Vaterland durch die Liebe zum Geld“ ersetzt worden ist, wie einer sich ausdrückt.
Sie leben auf engstem Raum bei ihren Eltern oder streunen herum; niemand will sie haben, niemand will an die unrühmliche Vergangenheit erinnert werden. Und die, die sich erinnern, haben Angst. Die wenigsten konnten ihre Ehe retten, ihre Kinder haben sich voll Abscheu abgewandt, als die kahlrasierten Monstergestalten aus der Haft zurückkamen.
Die Libido ist in der Haft systematisch kaputt gemacht worden; darüber schreibt Yiwu radikal, lakonisch, ohne Tabus. Die meisten sind körperlich einsam. Sie sind Aussätzige einer neuen Gesellschaft, die über den 4. Juni 1989 den schweren Mantel des Schweigens geworfen hat. Nur wenige der ehemaligen Häftlinge haben sich einen gesunden Zynismus und bissigen Witz bewahrt.
„Opium betäubt und verwischt das Gedächtnis an das Massaker“, steht am Anfang dieses so beeindruckenden wie bedrückenden Buchs. Und dann folgt die verzweifelte Frage: „Gibt es denn keine Alternative zu dem Opium des Booms, das die chinesische Diktatur exportiert?“ Am Ende findet sich eine Liste von 202 Todesopfern des Massakers vom 4. Juni, ein Bruchteil der Getöteten, in mühevoller Recherche gesammelt von den „Müttern des Tiananmen“. So paradox es auch klingen mag, aber dieses geschickt komponierte (und von Hans Peter Hoffmann geschmeidig übersetzte) Buch entfaltet selbst die Alternative, indem es den vielen Mikrogeschichten von Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Enteignungen, Folter und Zwangsarbeit ein komplexes menschliches Panorama der chinesischen Gesellschaft zu entlocken versteht. In der Begründung der Friedenspreis-Jury heißt es, Liao Yiwu begehre „sprachmächtig und unerschrocken“ gegen die politische Unterdrückung auf. Sprachmächtig – ohne Frage. Aber unerschrocken? Doch eher im Gegenteil: Der Schrecken kommt voll und ganz zu seinem Recht.
Liao Yiwu: Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Mit einer Liste von 202 Todesopfern des Massakers auf dem Tiananmen, bereitgestellt von Ding Zilin und Jiang Peikun. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 430 Seiten, 24,99 Euro.
Für sein Gedicht „Massaker“
wurde er zu vier Jahren
Haft verurteilt
Eine Liste von 202 Todesopfern
beschließt den Band
Juni 1989: Ein Student fordert die Soldaten auf, sich zurückzuziehen. Am 4. Juni beendete die Volksbefreiungsarmee die friedlichen Demonstrationen Zehntausender Studenten im Zentrum Pekings. Wie viele auf dem Platz des Himmlischen Friedens starben, gab die Regierung nicht bekannt.
FOTO: CATHERINE HENRIETTE/AFP
Liao Yiwu wurde 1958 in der Provinz Sichuan geboren, seit 2011 lebt er im Exil in Deutschland. Am Sonntag wird ihm in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Foto: dapd
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2012Stimmen der Verstummten
Der jüngste Erbe von Dantes Höllenfahrt: In seinem Gesprächsband "Die Kugel und das Opium" schildert Liao Yiwu Massaker und Verhaftungen im China von 1989.
Morgen erhält Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Und pünktlich zum Ereignis bringt der S. Fischer Verlag das neue Buch des chinesischen Dissidentendichters heraus: "Die Kugel und das Opium". Es ist - wieder - kein genuin literarisches Werk des Mannes, der als avancierter Lyriker begann, sondern in der Tradition von Liaos erster deutscher Publikation "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" (2009) ein Gesprächsband. Aber was für ein Gesprächsband!
Nämlich doch insofern ein literarischer, als Liao einen klassischen Topos zum strukturellen Vorbild nimmt: die Höllenfahrt, wie sie seit Dantes "Göttlicher Komödie" bekannt und unzählige Male übernommen wurde. Auch Liao ist unterwegs in die Abgründe einer Gesellschaft, um mit den von ihr Verdammten zu sprechen: mit Menschen, die jahrelange Haftstrafen zu erdulden hatten - und was das in China bedeutet, davon kann man sich durch Liaos eigenen Zeugenbericht "Für ein Lied und hundert Lieder" (2011) eine Vorstellung machen. War Dante in Begleitung von Vergil in die Hölle hinabgestiegen, so wird Liao Yiwu von Wu Wenjian begleitet, einem Maler, der 1989 als Neunzehnjähriger verhaftet wurde und sieben Jahre im Gefängnis verbrachte. Er stellte für Liao in den Jahren 2005 bis 2007 Kontakte zu zahlreichen anderen ehemaligen Häftlingen her, die nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989 festgenommen worden waren. Und während Liao der Hölle entkommen ist, sitzen alle seine Gesprächspartner noch in China - auf den Trümmern ihrer Lebensentwürfe, die auf dem Tiananmen genauso starben wie die ungezählten Opfer der Panzer und Schützen.
Doch schon hat man etwas falsch gemacht, wenn man nur von den Massakern auf dem Tiananmen spricht (obwohl es der Untertitel des Buchs, "Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens", genauso hält). Denn wenn man aus den fünfzehn Gesprächen eines lernt, dann, dass der Blick allein auf die symbolträchtigen Bilder vom Tiananmen nur einen winzigen Aspekt der Ereignisse des Jahres 1989 umfassen - jenes Epochenjahres, das für China keinen Aufbruch in die Freiheit, sondern einen Rückfall in die Gewaltherrschaft der Partei brachte. In Peking tobten damals tagelang jene Kräfte, die im Buch "Ausnahmetruppen" heißen - Soldaten, die nur dazu in die Stadt beordert worden waren, um die friedlichen Demonstrationen zu beenden, egal, um welchen Preis. Noch heute weiß niemand genau, wie hoch er dann war, aber Schätzungen gehen bis zu zweitausend Toten. In einer Liste, die Liaos Buch beigegeben ist, haben Ding Zilin und Jiang Peikun, zwei Mütter von im Juni 1989 ermordeten Studenten, 202 Fälle von Todesopfern jener Tage in Peking rekonstruiert.
Die Fokussierung auf die Hauptstadt ist insofern verständlich, als dort die Soldaten wahllos mordeten. Aber die Demokratiebewegung hatte das ganze Land erfasst; einige Gesprächspartner von Liao waren eigens nach Peking gereist oder wurden in ihren Heimatbezirken festgenommen, wo sie sich an Demonstrationen beteiligt hatten. Und was man allen Gesprächen entnehmen kann, ist die verzweifelte Hoffnung, dass die Demonstranten von 1989 noch zu Lebzeiten der Beteiligten rehabilitiert werden. Aber fast ein Vierteljahrhundert danach schwindet diese Hoffnung.
Liao Yiwu selbst wurde erst neun Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung verhaftet, im März 1990. Sein Gedicht "Massaker", das als Mitschnitt in Untergrundkreisen kursierte, und der im Februar 1990 gerade in Arbeit befindliche Film "Requiem", der den Opfern vom Platz des Himmlischen Friedens gewidmet sein sollte, brachten ihm vier Jahre Haft ein. Danach wurde er ständig beobachtet, seine Wohnung immer wieder durchsucht, er selbst immer wieder geschmäht. In einem Selbstgepräch, das Liao im Buch mit seinem Alter Ego Lao Wei führt, erinnert er sich daran, was er einem Polizisten nach einer Hausdurchsuchung spöttisch gesagt hatte: "Am besten wäre es, wenn man einen wilden Hund wie mich, der weder sein Land noch seine Familie liebt, auf Ausländer losließe, die könnte ich beißen."
Mittlerweile lebt Liao in Berlin, und noch sind keine Klagen gekommen. Im Gegenteil: Der Aufenthalt dieses Exilierten ziert unser Land. Dass sein neues Buch so schnell publiziert werden konnte, ist ein Segen. Denn unter welchen Bedingungen diese Bücher in China entstanden sind, kann man Liaos Gespräch mit dem Lyriker Li Bifeng entnehmen, der auch nach 1989 ins Gefängnis kam: "Ich habe Gedichte geschrieben, Romane, Theaterstücke, ein paar Millionen Schriftzeichen, den größte Teil haben sie mir beschlagnahmt, aber ich habe vor, einen Teil aus dem Gedächtnis neu zu schreiben." Li saß insgesamt zwölf Jahre in Haft.
Die Menschen, mit denen Liao gesprochen hat, haben Urteile ausgesprochen bekommen, die befristete Haftstrafen zwischen zwei und zwanzig Jahren verhängten, drei bekamen lebenslänglich, und zwei wurden zum Tod auf Bewährung verurteilt - das heißt, wenn sie sich zwei Jahre lang im Gefängnis tadellos benehmen, wird die Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Tadelloses Benehmen aber heißt auch Erfüllung der unmenschlichen Arbeitsnormen sowie Erduldung der Schikanen durch Wärter und Zellengenossen, die im Regelfall pure Folter sind. Dass die Verurteilten überhaupt bereit sind, über ihre Erniedrigung, Verkrüppelung, Vereinsamung zu sprechen, ist bemerkenswert genug. Wie Liao Yiwu ihnen diese Auskünfte entlockt hat, kann man anhand der kurzen Situationsbeschreibungen, die den eigentlichen Unterhaltungen vorausgehen, nur erahnen.
Den Titel seines Buchs erklärt er wie folgt: Die Kugel steht für das Massaker, das Opium für die Betäubung Chinas danach. Liao Yiwu will seine Heimat auf Entzug setzen. Er selbst ist süchtig nach Gerechtigkeit.
ANDREAS PLATTHAUS.
Liao Yiwu: "Die Kugel und das Opium". Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2012. 430 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der jüngste Erbe von Dantes Höllenfahrt: In seinem Gesprächsband "Die Kugel und das Opium" schildert Liao Yiwu Massaker und Verhaftungen im China von 1989.
Morgen erhält Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Und pünktlich zum Ereignis bringt der S. Fischer Verlag das neue Buch des chinesischen Dissidentendichters heraus: "Die Kugel und das Opium". Es ist - wieder - kein genuin literarisches Werk des Mannes, der als avancierter Lyriker begann, sondern in der Tradition von Liaos erster deutscher Publikation "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" (2009) ein Gesprächsband. Aber was für ein Gesprächsband!
Nämlich doch insofern ein literarischer, als Liao einen klassischen Topos zum strukturellen Vorbild nimmt: die Höllenfahrt, wie sie seit Dantes "Göttlicher Komödie" bekannt und unzählige Male übernommen wurde. Auch Liao ist unterwegs in die Abgründe einer Gesellschaft, um mit den von ihr Verdammten zu sprechen: mit Menschen, die jahrelange Haftstrafen zu erdulden hatten - und was das in China bedeutet, davon kann man sich durch Liaos eigenen Zeugenbericht "Für ein Lied und hundert Lieder" (2011) eine Vorstellung machen. War Dante in Begleitung von Vergil in die Hölle hinabgestiegen, so wird Liao Yiwu von Wu Wenjian begleitet, einem Maler, der 1989 als Neunzehnjähriger verhaftet wurde und sieben Jahre im Gefängnis verbrachte. Er stellte für Liao in den Jahren 2005 bis 2007 Kontakte zu zahlreichen anderen ehemaligen Häftlingen her, die nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4. Juni 1989 festgenommen worden waren. Und während Liao der Hölle entkommen ist, sitzen alle seine Gesprächspartner noch in China - auf den Trümmern ihrer Lebensentwürfe, die auf dem Tiananmen genauso starben wie die ungezählten Opfer der Panzer und Schützen.
Doch schon hat man etwas falsch gemacht, wenn man nur von den Massakern auf dem Tiananmen spricht (obwohl es der Untertitel des Buchs, "Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens", genauso hält). Denn wenn man aus den fünfzehn Gesprächen eines lernt, dann, dass der Blick allein auf die symbolträchtigen Bilder vom Tiananmen nur einen winzigen Aspekt der Ereignisse des Jahres 1989 umfassen - jenes Epochenjahres, das für China keinen Aufbruch in die Freiheit, sondern einen Rückfall in die Gewaltherrschaft der Partei brachte. In Peking tobten damals tagelang jene Kräfte, die im Buch "Ausnahmetruppen" heißen - Soldaten, die nur dazu in die Stadt beordert worden waren, um die friedlichen Demonstrationen zu beenden, egal, um welchen Preis. Noch heute weiß niemand genau, wie hoch er dann war, aber Schätzungen gehen bis zu zweitausend Toten. In einer Liste, die Liaos Buch beigegeben ist, haben Ding Zilin und Jiang Peikun, zwei Mütter von im Juni 1989 ermordeten Studenten, 202 Fälle von Todesopfern jener Tage in Peking rekonstruiert.
Die Fokussierung auf die Hauptstadt ist insofern verständlich, als dort die Soldaten wahllos mordeten. Aber die Demokratiebewegung hatte das ganze Land erfasst; einige Gesprächspartner von Liao waren eigens nach Peking gereist oder wurden in ihren Heimatbezirken festgenommen, wo sie sich an Demonstrationen beteiligt hatten. Und was man allen Gesprächen entnehmen kann, ist die verzweifelte Hoffnung, dass die Demonstranten von 1989 noch zu Lebzeiten der Beteiligten rehabilitiert werden. Aber fast ein Vierteljahrhundert danach schwindet diese Hoffnung.
Liao Yiwu selbst wurde erst neun Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung verhaftet, im März 1990. Sein Gedicht "Massaker", das als Mitschnitt in Untergrundkreisen kursierte, und der im Februar 1990 gerade in Arbeit befindliche Film "Requiem", der den Opfern vom Platz des Himmlischen Friedens gewidmet sein sollte, brachten ihm vier Jahre Haft ein. Danach wurde er ständig beobachtet, seine Wohnung immer wieder durchsucht, er selbst immer wieder geschmäht. In einem Selbstgepräch, das Liao im Buch mit seinem Alter Ego Lao Wei führt, erinnert er sich daran, was er einem Polizisten nach einer Hausdurchsuchung spöttisch gesagt hatte: "Am besten wäre es, wenn man einen wilden Hund wie mich, der weder sein Land noch seine Familie liebt, auf Ausländer losließe, die könnte ich beißen."
Mittlerweile lebt Liao in Berlin, und noch sind keine Klagen gekommen. Im Gegenteil: Der Aufenthalt dieses Exilierten ziert unser Land. Dass sein neues Buch so schnell publiziert werden konnte, ist ein Segen. Denn unter welchen Bedingungen diese Bücher in China entstanden sind, kann man Liaos Gespräch mit dem Lyriker Li Bifeng entnehmen, der auch nach 1989 ins Gefängnis kam: "Ich habe Gedichte geschrieben, Romane, Theaterstücke, ein paar Millionen Schriftzeichen, den größte Teil haben sie mir beschlagnahmt, aber ich habe vor, einen Teil aus dem Gedächtnis neu zu schreiben." Li saß insgesamt zwölf Jahre in Haft.
Die Menschen, mit denen Liao gesprochen hat, haben Urteile ausgesprochen bekommen, die befristete Haftstrafen zwischen zwei und zwanzig Jahren verhängten, drei bekamen lebenslänglich, und zwei wurden zum Tod auf Bewährung verurteilt - das heißt, wenn sie sich zwei Jahre lang im Gefängnis tadellos benehmen, wird die Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Tadelloses Benehmen aber heißt auch Erfüllung der unmenschlichen Arbeitsnormen sowie Erduldung der Schikanen durch Wärter und Zellengenossen, die im Regelfall pure Folter sind. Dass die Verurteilten überhaupt bereit sind, über ihre Erniedrigung, Verkrüppelung, Vereinsamung zu sprechen, ist bemerkenswert genug. Wie Liao Yiwu ihnen diese Auskünfte entlockt hat, kann man anhand der kurzen Situationsbeschreibungen, die den eigentlichen Unterhaltungen vorausgehen, nur erahnen.
Den Titel seines Buchs erklärt er wie folgt: Die Kugel steht für das Massaker, das Opium für die Betäubung Chinas danach. Liao Yiwu will seine Heimat auf Entzug setzen. Er selbst ist süchtig nach Gerechtigkeit.
ANDREAS PLATTHAUS.
Liao Yiwu: "Die Kugel und das Opium". Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2012. 430 S., geb., 24,99 [Euro].
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