Alle Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, wie sie damit umgehen. Zweideutigkeit wird hingenommen, ja mitunter wird sie bewußt erzeugt und nimmt wichtige kulturelle Funktionen ein, etwa in Konventionen der Höflichkeit und der Diplomatie, durch Riten oder Kunstwerke. Sie kann aber auch vermieden und bekämpft werden. Kulturen unterscheiden sich also durch ihre unterschiedliche Ambiguitätstoleranz. In islamischen Kulturen ist in dieser Hinsicht während der letzten Jahrhunderte ein Wandel zu beobachten, der sich so deutlich und mit solch drastischen Konsequenzen kaum anderswo zeigt: von einer relativ großen Toleranz hin zu einer bisweilen extremen Intoleranz gegenüber allen Phänomenen von Vieldeutigkeit und Pluralität. Während zum Beispiel im 14. Jahrhundert die Varianten des Korantexts und die Vielzahl an Auslegungsmöglichkeiten als Bereicherung galten, ist dies heute vielen Muslimen ein Ärgernis.Die Erforschung des Umgangs mit kultureller Ambiguität ist ein Gegenstand der Mentalitätsgeschichte. Verläßt man den eurozentrischen Blickwinkel und stellt Denken, Fühlen und Handeln der Menschen in den Mittelpunkt des Interesses, kommt man zu einer alternativen, nicht teleologisch gefärbten Geschichtserzählung. Daher ist auch der Untertitel des Buches - "Eine andere Geschichte des Islams" - mehrdeutig, ambig, zu lesen. Nicht eine andere "Geschichte des Islams" soll erzählt werden, sondern vielmehr eine "andere Geschichte" des Islams, in der aber auch einige scheinbar selbstverständliche Bestandteile der eigenen Kultur in Frage gestellt werden. Diese Sicht macht dieses Buch so interessant und wichtig.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2011Wie kommt der Weinpokal in die islamische Kunst?
Toleranz für verschiedene Wege: Thomas Bauer beschreibt die Spielräume muslimischer Kultur
Islamkritiker, islamische Fundamentalisten und sogar islamische Reformer haben einiges gemeinsam. Deshalb könnten sie alle von diesem Buch profitieren: Die sogenannten Islamkritiker verlegen sich in ihren Argumenten und Beispielen ebenso wie die islamischen Fundamentalisten auf eine Art der Sophisterei. Sie suchen Koranverse und Überlieferungen des Propheten hervor und reißen diese aus dem Kontext. Fundamentalisten benutzen dieses Mittel, um die Autorität des Texts in autoritärer Absicht verwenden zu können. Islamkritiker machen dasselbe, allerdings im Namen von Aufklärung und Progressivität. Nicht einmal Islamreformer handeln anders, denn auch sie geben vor zu wissen, was "der Islam" sei. Und indem die drei beschriebenen Gruppen zu wissen behaupten, was "der Islam" ist, essentialisieren sie ihn und reproduzieren das orientalistische Narrativ.
Islamkritiker und Fundamentalisten ignorieren allerdings nicht nur den Kontext, in dem die Texte entstanden sind. Sie ignorieren vor allem die Existenz alternativer Praktiken und Lebensformen. Deshalb ist Thomas Bauers Buch so erhellend. Bauer zeigt, dass früher viele Wahrheiten nebeneinander existierten. Es gab das eine und ebenso das andere: den Weinpokal und das Weinverbot, die Malerei und das Bilderverbot. Die islamische Kultur, so Bauer, zeichnete sich jahrhundertelang durch eine extrem hohe Ambiguitätstoleranz aus. Pluralität war eine Selbstverständlichkeit.
Warum es Ambiguität und Pluralität in Theorie und Praxis in der islamischen Welt jahrhundertelang geben konnte, hat mehrere Gründe. Einer ist, dass die im Westen oft formulierte Aussage, es gebe im Islam keine Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre, von der Praxis widerlegt wird. Abgesehen davon, dass wohl kaum eine Aussage darüber möglich ist, was "der Islam" eigentlich sei, denn dazu gibt es viel zu viele Erscheinungsformen des Islams, ist falsch daran die Grundannahme: "Der Islam" hat in Geschichte und Gegenwart islamischer Gesellschaften keineswegs alle Lebensbereiche durchdrungen. Wesentliche Bereiche - beispielsweise Medizin und sogar das Recht und die Herrschaft, die weltlich organisiert waren - sind in der Geschichte keineswegs vom Islam geprägt oder gar dominiert worden.
Dennoch spricht man im Westen bis heute von islamischer Medizin oder von islamischer Philosophie. Ärzte in der islamischen Welt schwören seit Jahrhunderten den Eid des Hippokrates und nicht auf den Koran, und eine spezifische Heilungslehre leiteten Ärzte muslimischen Glaubens aus dem Koran auch nicht ab. Die Philosophie des Rhazes (gest. 925) wird zwar im Seminar für Orientalistik unter dem Label islamische Philosophie studiert, doch ist sie nicht islamischer, als sagen wir die Philosophie Kants christlich ist. Sie wurde lediglich von einem Manne verfasst, der in einem Teil der Welt lebte, der mehrheitlich von Muslimen bewohnt war. Aber um zu verstehen, worauf sich seine Philosophie bezieht, ist es wichtiger, Aristoteles zu lesen als den Koran.
Bauers Buch enthält eine Fülle solcher Beispiele. Ein weiteres: Islamisiert wurde auch die Kunst. Jedweder Kultur- oder Gebrauchsgegenstand aus dem Teil der Welt, in dem mehrheitlich Muslime leben, wird heute im Westen in einem Museum für islamische Kunst dargeboten. Ein Großteil dieser Objekte stammt aber aus dem weltlichen Leben. Dennoch firmiert die Schale mit figürlichen Darstellungen ebenso wie der Weinpokal als islamische Kunst. Noch merkwürdiger ist: Wenn im Islam tatsächlich immer alle Bereiche so sehr von der Religion durchdrungen waren, wie kommen wir dann zu all diesen Gefäßen mit Abbildungen oder zu den Bildern im Isfahaner Herrscherpalast Ali Qapu oder den Weinpokalen und den Lobgedichten auf den Wein? Besteht nicht im Islam ein Bilder- und vor allem ein Alkoholverbot?
Man macht es sich zu leicht, all diese Beispiele als bloße Abweichung von der Norm abzutun und sie als marginal hinzustellen. Vielleicht, so Bauers These, war eher das die Norm, was wir als Abweichung klassifizieren, nämlich der Pluralismus, und eine allgemein akzeptierte und überall gelebte Norm gab es gar nicht.
KATAJUN AMIRPUR
Thomas Bauer: "Die Kultur der Ambiguität". Eine andere Geschichte des Islams.
Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011. 463 S., geb., 32,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Toleranz für verschiedene Wege: Thomas Bauer beschreibt die Spielräume muslimischer Kultur
Islamkritiker, islamische Fundamentalisten und sogar islamische Reformer haben einiges gemeinsam. Deshalb könnten sie alle von diesem Buch profitieren: Die sogenannten Islamkritiker verlegen sich in ihren Argumenten und Beispielen ebenso wie die islamischen Fundamentalisten auf eine Art der Sophisterei. Sie suchen Koranverse und Überlieferungen des Propheten hervor und reißen diese aus dem Kontext. Fundamentalisten benutzen dieses Mittel, um die Autorität des Texts in autoritärer Absicht verwenden zu können. Islamkritiker machen dasselbe, allerdings im Namen von Aufklärung und Progressivität. Nicht einmal Islamreformer handeln anders, denn auch sie geben vor zu wissen, was "der Islam" sei. Und indem die drei beschriebenen Gruppen zu wissen behaupten, was "der Islam" ist, essentialisieren sie ihn und reproduzieren das orientalistische Narrativ.
Islamkritiker und Fundamentalisten ignorieren allerdings nicht nur den Kontext, in dem die Texte entstanden sind. Sie ignorieren vor allem die Existenz alternativer Praktiken und Lebensformen. Deshalb ist Thomas Bauers Buch so erhellend. Bauer zeigt, dass früher viele Wahrheiten nebeneinander existierten. Es gab das eine und ebenso das andere: den Weinpokal und das Weinverbot, die Malerei und das Bilderverbot. Die islamische Kultur, so Bauer, zeichnete sich jahrhundertelang durch eine extrem hohe Ambiguitätstoleranz aus. Pluralität war eine Selbstverständlichkeit.
Warum es Ambiguität und Pluralität in Theorie und Praxis in der islamischen Welt jahrhundertelang geben konnte, hat mehrere Gründe. Einer ist, dass die im Westen oft formulierte Aussage, es gebe im Islam keine Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre, von der Praxis widerlegt wird. Abgesehen davon, dass wohl kaum eine Aussage darüber möglich ist, was "der Islam" eigentlich sei, denn dazu gibt es viel zu viele Erscheinungsformen des Islams, ist falsch daran die Grundannahme: "Der Islam" hat in Geschichte und Gegenwart islamischer Gesellschaften keineswegs alle Lebensbereiche durchdrungen. Wesentliche Bereiche - beispielsweise Medizin und sogar das Recht und die Herrschaft, die weltlich organisiert waren - sind in der Geschichte keineswegs vom Islam geprägt oder gar dominiert worden.
Dennoch spricht man im Westen bis heute von islamischer Medizin oder von islamischer Philosophie. Ärzte in der islamischen Welt schwören seit Jahrhunderten den Eid des Hippokrates und nicht auf den Koran, und eine spezifische Heilungslehre leiteten Ärzte muslimischen Glaubens aus dem Koran auch nicht ab. Die Philosophie des Rhazes (gest. 925) wird zwar im Seminar für Orientalistik unter dem Label islamische Philosophie studiert, doch ist sie nicht islamischer, als sagen wir die Philosophie Kants christlich ist. Sie wurde lediglich von einem Manne verfasst, der in einem Teil der Welt lebte, der mehrheitlich von Muslimen bewohnt war. Aber um zu verstehen, worauf sich seine Philosophie bezieht, ist es wichtiger, Aristoteles zu lesen als den Koran.
Bauers Buch enthält eine Fülle solcher Beispiele. Ein weiteres: Islamisiert wurde auch die Kunst. Jedweder Kultur- oder Gebrauchsgegenstand aus dem Teil der Welt, in dem mehrheitlich Muslime leben, wird heute im Westen in einem Museum für islamische Kunst dargeboten. Ein Großteil dieser Objekte stammt aber aus dem weltlichen Leben. Dennoch firmiert die Schale mit figürlichen Darstellungen ebenso wie der Weinpokal als islamische Kunst. Noch merkwürdiger ist: Wenn im Islam tatsächlich immer alle Bereiche so sehr von der Religion durchdrungen waren, wie kommen wir dann zu all diesen Gefäßen mit Abbildungen oder zu den Bildern im Isfahaner Herrscherpalast Ali Qapu oder den Weinpokalen und den Lobgedichten auf den Wein? Besteht nicht im Islam ein Bilder- und vor allem ein Alkoholverbot?
Man macht es sich zu leicht, all diese Beispiele als bloße Abweichung von der Norm abzutun und sie als marginal hinzustellen. Vielleicht, so Bauers These, war eher das die Norm, was wir als Abweichung klassifizieren, nämlich der Pluralismus, und eine allgemein akzeptierte und überall gelebte Norm gab es gar nicht.
KATAJUN AMIRPUR
Thomas Bauer: "Die Kultur der Ambiguität". Eine andere Geschichte des Islams.
Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011. 463 S., geb., 32,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Journalistin und Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur möchte Thomas Bauers Buch über muslimische Kultur allen ans Herz legen, die gern mit aus dem Kontext gerissenen Koranzitaten, sei es als Islamkritiker oder als Fundamentalisten, ihre Thesen apodiktisch zu untermauern pflegen. Der Autor zeigt darin nämlich die vielen alternativen Wahrheiten, die in der muslimischen Kultur herrschten, und belegt, dass der Islam von je her von "Ambiguität" und "Pluralismus" geprägt war. Bauer kann anhand vieler Beispiele aus der Medizin, der Philosophie oder der Kunst, aber auch nachweisen, dass es entgegen gängigen Behauptungen jahrhundertelang keine Trennung zwischen weltlicher und religiöser Sphäre gegeben hat und die Religion durchaus nicht alle Lebensräume durchdrungen hat, so die Rezensentin sehr angetan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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" ... ein hilfreiches Korrektiv, um den Islam mit seiner über tausend Jahre alten Geschichte nicht voreilig unter dem Vorzeichen eines nach Eindeutigkeit strebenden islamistischen Fundamentalismus zu betrachten. Westliche Beobachter ... sollten auszuhalten lernen, dass es 'den' Islam nicht gibt und dass Pauschalurteile über eine uns immer noch fremde Religion und Kultur weder fürs Verstehen hilfreich sind noch einem gedeihlichen Miteinander dienen."
Kurt Bangert, Freies Crhistentum Juli 2019
Kurt Bangert, Freies Crhistentum Juli 2019
Die Kultur der Ambiguität ist eine exzellente Arbeit und regt zum gründlichen Umdenken an.