Zehn Jahre nach dem letzten großen Zusammenbruch, dem des sowjetischen Imperiums, scheint die Zeit reif für eine Reihe historischer Fragen. Destilliert aus der Geschichte der drei Niederlagenklassiker - des amerikanischen Südens nach 1865, Frankreichs nach 1871 und Deutschlands nach 1918 -, lassen sie sich etwa so formulieren: Wie wurden im Zeitalter der Erlöserideologie des Nationalismus große Zusammenbrüche erlebt? Welche Mythen von Verrat oder Heroisierung bildeten sich dabei? Und welcher Zusammenhang besteht zwischen dem äußeren Unterliegen und jenen inneren Revolutionen, die der verlorene Krieg überall zur Folge hat? Wolfgang Schivelbusch ist diesen Fragen nachgegangen, und er zeichnet die aus tiefer Demütigung kommenden Energieschübe nach, die Niederlagen bringen. So legten sich die amerikanischen Südstaaten nach dem Bürgerkrieg erfolgreich ein legendenhaftes Image zu, das unter anderem «Vom Winde verweht» und seine Plantagenromantik schuf; so kam es in Frankreich nach 1871zu umfassenden politischen und kulturellen Neuerungen; so brach das Deutsche Reich, nachdem der Erste Weltkrieg verloren war, auf etlichen Feldern in eine kraftvolle Moderne auf.
Schivelbuschs Buch wird Staub aufwirbeln, auch weil es voller aktueller Bezugspunkte ist. Und es verweist auf die eigentümliche Stärke der Besiegten: dass sie früher und besser wissen, was die Stunde geschlagen hat.
Schivelbuschs Buch wird Staub aufwirbeln, auch weil es voller aktueller Bezugspunkte ist. Und es verweist auf die eigentümliche Stärke der Besiegten: dass sie früher und besser wissen, was die Stunde geschlagen hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2006Abaufwärts
Warum in der Literatur die Verlierer gewinnen
"Aufgabe der Kunst ist es, die Schönheit des Scheiterns darzustellen", wird Oscar Wilde gern zitiert, und in der Tat hat sich gerade in letzter Zeit eine ganze Reihe erfolgreicher und bemerkenswerter Bücher mit dem Phänomen des Verlierers beschäftigt. Beides scheint Hand in Hand zu gehen: die unerschütterliche Konjunktur der säkularisiert-protestantischen Selbstverbesserungsliteratur in der Nachfolge von Dale Carnegie, also auch Lee Iacoccas Lebensgeschichte und Seiwerts/Küstenmachers "Simplify your Life", und die Freude an der literarischen und intellektuellen Betrachtung des umgekehrten Weges, des unaufhaltsamen Abstiegs.
Wie sonst erklärt sich ein Erfolg wie der von Sven Regeners "Herrn Lehmann" sowohl im Roman wie im Kino, ja selbst noch der Schilderung seiner vom Scheitern durchwehten Jugendjahre in der "Neuen Vahr Süd", einem tristen Hochhausgebiet in Bremen? Ist das Interesse an seinen Abenteuern in der unteren Mittelschicht ein Zeichen für ein neues soziales Gewissen der Leser in Zeiten von Hartz IV? Oder im Gegenteil der Ausdruck einer sadistischen Dialektik: Je härter es für Herrn Lehmann kommt, desto wohler ist dem bürgerlichen Leser im Sessel? Sicher ist aber der nicht wertende, weder verurteilende noch glorifizierende Blick des Autors auf seinen Protagonisten ein wesentlicher Grund für den Charme des Buches. Verlierer sind nicht zu bemitleiden und nicht zu glorifizieren, sie haben aber einiges zu erzählen.
In Alexander Masters bemerkenswerter Biographie eines englischen Penners, "Das kurze Leben des Stuart Shorter", wird die klassische Abstiegsgeschichte, umgekehrt erzählt: Der Leser lernt Stuart zu Beginn des Buches als unberechenbaren Wüterich kennen und folgt ihm in seine beschwerte Kindheit. Der Clou dabei ist auch hier, daß der Autor das Scheitern nicht als Resultat der sozioökonomischen Umstände schildert, daß er nicht Tony Blair die Schuld gibt, sondern es beschreibt wie einen naturwissenschaftlichen Vorgang, eine prototypische Erfahrung in der westlichen Moderne.
Noch weiter zurück in der kulturwissenschaftlichen Analyse der Niederlage ging vor einigen Jahren Wolfgang Schivelbusch in seiner komparatistischen Studie über "Die Kultur der Niederlage", in der er drei Varianten des soziokulturellen Umgangs mit militärischen Niederlagen untersucht: den des amerikanischen Südens 1865, Frankreichs 1871 und Deutschlands 1918. Er endet bei Fortbewegungsmitteln: Eisenbahn, Fahrräder und schließlich Autos trösteten die Menschen in ein neues Zeitalter: "Könnte es sein, daß die Sehnsucht nach Bewegung bei der Verarbeitung des nationalen Niederlagentraumas das zentrale Element ist?" Nicht allein der Sieg, gerade auch das Verlieren entfaltet dynamische Wirkungen, manchmal für eine ganze Nation.
mink
Sven Regener: "Herr Lehmann" und "Neue Vahr Süd". Eichborn Berlin.
Wolfgang Schivelbusch: "Die Kultur der Niederlage". Alexander-Fest-Verlag.
Alexander Masters: "Das kurze Leben des Stuart Shorter". Kunstmann-Verlag.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum in der Literatur die Verlierer gewinnen
"Aufgabe der Kunst ist es, die Schönheit des Scheiterns darzustellen", wird Oscar Wilde gern zitiert, und in der Tat hat sich gerade in letzter Zeit eine ganze Reihe erfolgreicher und bemerkenswerter Bücher mit dem Phänomen des Verlierers beschäftigt. Beides scheint Hand in Hand zu gehen: die unerschütterliche Konjunktur der säkularisiert-protestantischen Selbstverbesserungsliteratur in der Nachfolge von Dale Carnegie, also auch Lee Iacoccas Lebensgeschichte und Seiwerts/Küstenmachers "Simplify your Life", und die Freude an der literarischen und intellektuellen Betrachtung des umgekehrten Weges, des unaufhaltsamen Abstiegs.
Wie sonst erklärt sich ein Erfolg wie der von Sven Regeners "Herrn Lehmann" sowohl im Roman wie im Kino, ja selbst noch der Schilderung seiner vom Scheitern durchwehten Jugendjahre in der "Neuen Vahr Süd", einem tristen Hochhausgebiet in Bremen? Ist das Interesse an seinen Abenteuern in der unteren Mittelschicht ein Zeichen für ein neues soziales Gewissen der Leser in Zeiten von Hartz IV? Oder im Gegenteil der Ausdruck einer sadistischen Dialektik: Je härter es für Herrn Lehmann kommt, desto wohler ist dem bürgerlichen Leser im Sessel? Sicher ist aber der nicht wertende, weder verurteilende noch glorifizierende Blick des Autors auf seinen Protagonisten ein wesentlicher Grund für den Charme des Buches. Verlierer sind nicht zu bemitleiden und nicht zu glorifizieren, sie haben aber einiges zu erzählen.
In Alexander Masters bemerkenswerter Biographie eines englischen Penners, "Das kurze Leben des Stuart Shorter", wird die klassische Abstiegsgeschichte, umgekehrt erzählt: Der Leser lernt Stuart zu Beginn des Buches als unberechenbaren Wüterich kennen und folgt ihm in seine beschwerte Kindheit. Der Clou dabei ist auch hier, daß der Autor das Scheitern nicht als Resultat der sozioökonomischen Umstände schildert, daß er nicht Tony Blair die Schuld gibt, sondern es beschreibt wie einen naturwissenschaftlichen Vorgang, eine prototypische Erfahrung in der westlichen Moderne.
Noch weiter zurück in der kulturwissenschaftlichen Analyse der Niederlage ging vor einigen Jahren Wolfgang Schivelbusch in seiner komparatistischen Studie über "Die Kultur der Niederlage", in der er drei Varianten des soziokulturellen Umgangs mit militärischen Niederlagen untersucht: den des amerikanischen Südens 1865, Frankreichs 1871 und Deutschlands 1918. Er endet bei Fortbewegungsmitteln: Eisenbahn, Fahrräder und schließlich Autos trösteten die Menschen in ein neues Zeitalter: "Könnte es sein, daß die Sehnsucht nach Bewegung bei der Verarbeitung des nationalen Niederlagentraumas das zentrale Element ist?" Nicht allein der Sieg, gerade auch das Verlieren entfaltet dynamische Wirkungen, manchmal für eine ganze Nation.
mink
Sven Regener: "Herr Lehmann" und "Neue Vahr Süd". Eichborn Berlin.
Wolfgang Schivelbusch: "Die Kultur der Niederlage". Alexander-Fest-Verlag.
Alexander Masters: "Das kurze Leben des Stuart Shorter". Kunstmann-Verlag.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Niederlagen schweißen ein Volk dichter zusammen, lautet eine allgemein verbreitete Annahme, die aber nicht mehr ist als eine bloße Tröstung für den Verlierer, schreibt Rezensent Herfried Münkler. Wolfgang Schivelbusch hat sich der Frage angenommen, berichtet der Rezensent, welche politischen und sozialen Prozesse Niederlagen in Gang setzen. Mit großer Umsicht und Akribie habe der Autor drei große Niederlagen - der USA 1865, Frankreichs 1871 und Deutschlands 1918 - bis in ihre mikrohistorischen Details nachgezeichnet und einige bemerkenswerte Parallelen in der Bewältigung durch die jeweilige Gesellschaft entdeckt. Diese Strukturmuster, die der Autor an Politik, Literatur, ökonomischer und technologischer Entwicklung, Alltagsleben und Modetrends aufzeige, hätte er aber, kritisiert der Rezensent, noch deutlicher miteinander in Beziehung setzen können. Diese Leistung muss der Leser vollbringen, trotzdem ändert das kleine Manko nichts an Münklers Überzeugung, ein faszinierendes Buch gelesen zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein Meister kulturgeschichtlicher Forschung! Die Zeit