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Denkt man an Japan, so kommen einem zunächst einmal vor allem Stereotype in den Sinn. Das "Land des Lächelns" gilt als Kulturraum, in dem die Menschen bis zum Umfallen arbeiten, strenge Förmlichkeit das Verhalten bestimmt und Tradition und Moderne eine eigenartige Symbiose eingegangen sind. Entsprechend changiert unsere Vorstellung von Japan zwischen Zen-Buddhismus und Japan-Pop, zwischen Kalligraphie und Manga. Ausgehend von der doppelten Frage, was an der japanischen Kultur japanisch und was kulturell ist, zeigt Florian Coulmas, was die heutige japanische Kultur von anderen unterscheidet,…mehr

Produktbeschreibung
Denkt man an Japan, so kommen einem zunächst einmal vor allem Stereotype in den Sinn. Das "Land des Lächelns" gilt als Kulturraum, in dem die Menschen bis zum Umfallen arbeiten, strenge Förmlichkeit das Verhalten bestimmt und Tradition und Moderne eine eigenartige Symbiose eingegangen sind. Entsprechend changiert unsere Vorstellung von Japan zwischen Zen-Buddhismus und Japan-Pop, zwischen Kalligraphie und Manga. Ausgehend von der doppelten Frage, was an der japanischen Kultur japanisch und was kulturell ist, zeigt Florian Coulmas, was die heutige japanische Kultur von anderen unterscheidet, und verdeutlicht, was unter Kultur zu verstehen ist: das Verhalten im Alltag und die sozialen Beziehungen (Umgangsformen, Verwandtschaft etc.); Werte und Überzeugungen (vor allem religiöser Art); Institutionen wie der Jahreszyklus, die Schule oder die Firma; schließlich Formen materieller Kultur (u.a. Kleidung und Mode, Behausung und Architektur, Essen und Ästhetik). Die Analyse des geistigen Hintergrunds kultureller Traditionen ermöglicht es, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Formen der ästhetischen Gestaltung zu verstehen, die auch dem hyper-modernen Japan von heute einen ganz eigenen, unverwechselbaren Platz in der zunehmend globalisierten Welt erhalten haben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2003

Wenn ich lächle, heißt das im Prinzip zwölferlei
Florian Coulmas erklärt, wie Sie ohne Axt durch den Höflichkeitswald der Japaner kommen

Ohne Filter, Klischees und westliche Apparate der Feldforschung geht das Japan-Buch von Florian Coulmas von Beginn an komparatistische Wege. Der auf "Objektivität" bedachte Ethnologe, so Coulmas, jage den Tatsachen hinterher und komme doch zwangsläufig zu spät. Coulmas selbst interessieren daher vielmehr die genuin japanischen Denkweisen, Maßeinheiten und ästhetischen Kategorien, welche die Globalisierungstendenzen manchmal grell und oft nur notdürftig übertünchen. Seine zentrale Fragestellung, "was an der japanischen Kultur kulturell und was japanisch ist", wendet er auf eine Vielzahl ihrer materiellen und immateriellen Ausuferungen, Routinen und Religionen an - von der höfischen Etikette über den Ehrenkodex der Krieger bis hin zur Aum-Sekte und zum Manga.

Coulmas beschreibt, wie es Japan gelungen ist, in den scheinbar profanen und vom Kommerz geprägten Facetten der Alltagskultur, in der individualistisch wirkenden städtischen Soziologie und in den Codes professioneller Beziehungen beim Alten zu bleiben - althergebrachte Werte, Zeitvorstellungen, Zeremonien, Jahreszyklen und Umgangsformen sublimiert zu bewahren. Eindrücklich schildert er die Vorgänge bei der Ladenöffnung in einem japanischen Kaufhaus, das auf den ersten Blick nicht anders aussieht als ein Tempel der Konsumkultur in Rom, Berlin oder Moskau. Doch spätestens wenn sich die Tore öffnen und die Kunden, ohne ersichtliches Zeichen, durch eine Phalanx des Verkaufspersonals strömen, die, sich tief verbeugend, "Irashaimase, irashaimase" ("Bitte treten Sie näher!") ruft, spätestens dann kommen hier besondere kulturelle Vorstellungen von Höflichkeit, Stil und Kundendienst zutage.

Die Grammatik des Lächelns ist dabei keine reine Formsache. Die Etikette reflektiert und zementiert die soziale Ordnung. Die japanische Schule der Höflichkeit und Dienstleistungsindustrie, so Coulmas' These, arbeitet mit kulturell verschiedenen Vorstellungen von Schicklichkeit, die sich beileibe nicht allein am Neigungsgrad der Verbeugung bemessen lassen.

Daß Höflichkeit und Förmlichkeit neben einem Reflex gesellschaftlicher Verhältnisse auch Schutzmechanismen und Selbstwert sind, zeigt sich auch in der Tendenz der Japaner, sich ohne ersichtlichen Grund von vornherein zu entschuldigen und sich im nachhinein für einen imaginären Gefallen zu bedanken. Anders als die christlichen transzendentalen Prinzipien wie Schuld und Sühne werden Scham oder Beschämung in den japanischen Alltagscodes durch kontextuelle Verhaltensgebote geregelt. Das Geben und Nehmen ist denn auch in den Höflichkeitsfloskeln der japanischen Sprache strukturell verankert, wie ein linguistischer Exkurs belegt.

Das wohl luzideste Kapitel des Buches widmet sich der japanischen Kultur des Schenkens und der "Ökonomie der Gabe". Diese ist weniger eine Herzens- als eine Vertragsangelegenheit - wie die "Pflichtschokolade" am Valentinstag oder das "Weihrauchgeld" bei Beerdigungen. Geldscheine, die man zur Hochzeit schenkt, müssen druckfrisch und die für ein Begräbnis alt und abgenutzt sein. Der Autor erkennt den Gabenkreislauf im Spannungsfeld von Pflicht und Neigung als Teil eines sozialen Systems, das von Ehre und Ansehen, Patronage und Abhängigkeit geprägt ist.

Coulmas legt im folgenden dar, wie sich die Gabe historisch in einen Vertrag verwandelte. Während die Schüler früher bei der Aufnahme in Privatuniversitäten zur Besiegelung des besonderen Lehrer-Schüler-Verhältnisses ihren Lehrern Geschenke übergaben, wurden seit 1868 Studiengebühren eingeführt. Die Modernisierung des Landes versachlichte die menschlichen Beziehungen, ohne dem Brauch auf privater Ebene ein Ende bereiten zu können. Bei der Regelung der Staatsgeschäfte aber bringt er die strukturelle Möglichkeit des Mißbrauchs mit sich, wenn Privates in Professionelles übergeht. Coulmas hat deshalb die These von einem "kulturspezifischen Charakter" der Korruption entwickelt.

Der Autor führt hierbei eine für den Nichtjapanologen möglicherweise verwirrende Vielzahl japanischer Ausdrücke ein, die leider am Ende des Buchs nicht nochmals in einem Glossar aufgeführt werden. Gleichwohl dienen Begriffe wie "giri" (Pflicht) oder "on" (Güte, Gunst) - welche von der Feudalzeit herrühren, in der ein Samurai als Gunst seines Herrn, dem er diente, Land empfing - als zeit- und schichtenübergreifende Erklärungsmuster, die bis in die kapitalistische Gegenwart hineinwirken. Als roter Faden in seiner Kulturgeschichte legt Coulmas dar, wie jene über die Jahrhunderte verinnerlichten Denkmodelle und Zeitrhythmen wie der Glaube an günstige und ungünstige Tage oder Riten der Ahnenverehrung nach wie vor die Lebensabläufe mitbestimmen.

Coulmas entlarvt andererseits den westlichen Standpunkt von angeblich typisch japanischen Eigenschaften und lächelnd mißverstandenen Konzepten wie Konformismus, Harmonie und Hierarchie, die die gängigen Japan-Publikationen leitmotivisch durchziehen. So beinhalte der westliche Begriff "Konformismus" auch westliche Ideen über das Leben als soziales Wesen, während Japaner Konventionen nicht mit Eigenschaften wie "unpersönlich" und "farblos", sondern mit Anstand und Takt verbinden. Coulmas beschreibt die Kultur vielmehr als Gewebe, das im Hintergrund vielfältiger sozialer Schauplätze erkennbar ist - ob im Verhalten in den überfüllten U-Bahnen, im Schullied und den Zeremonien des Schulalltags oder in der Wohnphilosophie hinter den Fassaden westlicher Bauart. Auch wenn die "Ästhetik des leeren Raumes", die Coulmas als Charakteristikum klassischer japanischer Architektur ausmacht, wegen Platznot kaum noch aufrechtzuerhalten ist, finden sich in vielen Wohnungen immer noch traditionelle Strukturelemente wie Schiebetüren anstelle von Wänden und Tatami-Matten, die als indigene Maßeinheit der Architektur (0,90 mal 1,80 Meter) statt des westlichen metrischen Maßes den japanischen Interieurs ihre harmonischen Proportionen geben.

Auch die Inneneinrichtung moderner Großraumbüros, die als Abbild der Hierarchie der Mitarbeiter den Autor an die Sitzordnung am mittelalterlichen Hof erinnern, hat als Medium der Gruppenkontrolle wenig mit aufgeklärten westlichen Ideen (Transparenz, gläsernes Unternehmen) gemein. Bei seinem Vergleich der Betriebskulturen der Automobilindustrien von Nagoya, Detroit und Wolfsburg stellt Coulmas der patriarchalisch-personalisierten, aber konsensorientierten Firmenphilosophie des Ostens das materialistisch-versachlichte westliche System gegenüber.

Auch wenn der Autor demnach geistigen Strömungen wie dem Konfuzianismus oder Zen-Buddhismus eine prägende Rolle in vielen Bereichen der japanischen Gesellschaft zuschreibt - von der Lernkultur bis hin zur spartanischen Ästhetik der Architektur -, warnt er vor allzu verallgemeinernden Formulierungen wie "konfuzianischer Kapitalismus" oder vor kulturalistischen Fallgruben wie "Vom Samurai zum Manager". Er relativiert die angeblich genuin japanische Idee von der Firma als Familie, der lebenslangen Anstellung und letztlich das Wirtschaftswunder, indem er auf pragmatische Gründe für die Vollbeschäftigung und den japanischen Arbeitsmarkt vor dem Pazifischen Krieg verweist, in dem Entlassungen und Streiks gang und gäbe waren.

Auch die sprichwörtliche Liebe des Japaners zur Natur erweist sich, wie Coulmas in seinem abschließenden kunsthistorischen Kapitel unterstreicht, als grundverschieden vom westlichen Naturschutzgedanken. Das romantisch-verklärende Konzept der "unberührten Natur" entspreche einer westlichen dualistischen Ontologie, also einer Trennung von Körper und Geist, Fühlen und Denken. Dagegen entwerfe der Japaner, für den die "Natur als Kultur" weit weniger widersprüchlich sei, geistige Modelle, wie sie in der Zen-Gartenkunst exemplarisch zum Ausdruck kommen. Anders als im Westen verliefen in Japan auch die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk. Das Töpfern etwa habe weit mehr als in Europa eine geistige Dimension, und in der Teezeremonie werde die Opposition zwischen dem Funktionalen und Beschaulichen aufgehoben.

Florian Coulmas ist ein Standardwerk gelungen, das ohne eurozentrischen Blick und fernab der ausgetretenen Pfade der Mythologisierung alternative Wege zum Verständnis der japanischen Alltagskultur anbietet.

STEFFEN GNAM

Florian Coulmas: "Die Kultur Japans". Tradition und Moderne. Verlag C. H. Beck, München 2003. 334 S., 31 Abb., 7 Tab., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.02.2004

Meer von Spekulantentränen
Florian Coulmas freut sich daran, dass Japans Gesellschaft oft nicht nach wirtschaftlichen Prinzipien funktioniert
Wir erkennen sie, aber wir kennen sie nicht. Seitdem die Japaner Europa bereisen und fotografieren, sind sie in unseren Städten unübersehbar: die fleißigsten unter den Touristen, zumeist nicht einzeln, sondern in größerer Gruppe unterwegs, in der sie sich in einer merkwürdigen Sprache bestens zu unterhalten scheinen. Dass man eine solche Sprache als Europäer je erlernen könnte, daran hegt, wer eine Weile zugehört hat, seine Zweifel; aber auch japanische Linguisten haben lange behauptet, das Japanische sei eine „geschlossene Sprache”, die höchstens behelfsmäßig in eine andere übersetzt werden könne. Der Begründer der japanischen Volkskunde und Ethnologie, der ehrwürdige, 1962 verstorbene Professor Yanagita Kunio wiederum, hat zwei Generationen von Wissenschaftlern mit der Überzeugung ausgestattet, die japanische Kultur unterscheide sich so grundsätzlich von allen anderen Kulturen der Menschheit, dass ihr inneres Funktionieren von Außenstehenden niemals wirklich zu erfassen sei.
Florian Coulmas, Professor für Japanologie in Duisburg, hat siebzehn Jahre in Japan gelebt und ist anderer Meinung. Ganz entschieden ist er davon überzeugt, dass man Sprachen erlernen und übersetzen, Kulturen vergleichen, verstehen und beschreiben kann und folglich auch Japan nicht den Japanern allein zu überlassen braucht. Zu diesem führt er zwei aus der Linguistik abgeleitete Begriffe ein, „etisch” und „emisch”, worunter, die wissenschaftliche Einleitung ungebührlich verknappend, ungefähr zu verstehen ist, dass er die fremde Kultur abwechselnd von außen und von innen zu erfassen sucht.
Vorzüge der Etikette
Immer wieder kommt Coulmas auf den Sachverhalt zurück, dass die japanische Kultur durch ein ungewöhnliches, höchst widersprüchliches Verhältnis von Tradition und Moderne bestimmt wird. In vielem ist Japan bekanntlich eine Vormacht der Modernisierung, in anderem wieder sind dort Prinzipien unangefochten, die aus der Geschichte überkommen sind. Da ist etwa die „Etikette”, die in Japan eine wesentlich größere Bedeutung als in den allermeisten Gesellschaften unserer Epoche hat. Unzählige Benimm-Bücher erklären den Japanern, wie sie sich zu verhalten haben, und tatsächlich ist der Alltag so strikt reglementiert, dass für Spontaneität in unserem Sinne wenig Platz übrig scheint.
In diesen Büchern wird nicht nur erklärt, wie man selten geübte Tätigkeiten richtig bewältigt – etwa einem Vorgesetzten angemessen zum Tod der Ehefrau zu kondolieren –, sondern auch festgelegt, wie vermeintlich einfache Aufgaben, nichtige Angelegenheiten zu erledigen sind. Eine Visitenkarte kann man ja nicht so mir nichts, dir nichts überreichen! Da gilt es vielerlei Faktoren zu berücksichtigen: Ob es sich um ein ranghöheres oder rangniedrigeres Gegenüber handelt, ob der Austausch geschäftliche Zwecke verfolgt oder private Sympathie ausdrückt, ob es ein Empfänger oder eine Empfängerin ist, älter, jünger, gleich alt . . . Wer es nicht aus Japan wüsste, der käme nie auf die Idee, wie schwierig es ist, eine Visitenkarte loszuwerden, ohne einen Skandal zu verursachen.
Für die Etikette und die Bedeutung, die sie im gesellschaftlichen Leben Japans hat, gibt Coulmas nicht nur einprägsame Beispiele, sondern auch einen Anschauungsfall seiner eigenen ethnologischen Methode. „Emisch” geht er vor, wenn er die Etikette aus dem Inneren der japanischen Gesellschaft zu verstehen sucht und erkennt, dass das ausgeklügelte Regelwerk nur für den Außenstehenden etwas Einschränkendes hat, dem Japaner hingegen das Leben geradezu erleichtert. „Ohne Etikette ist man in seiner Bewegungsfreiheit in der Gesellschaft behindert, da man ständig Gefahr läuft, durch unangemessenes Verhalten sich oder andere zu beschämen.” Scham, Schande, Peinlichkeit sind im japanischen Kontext aber so wichtige Kategorien, dass man wiederholt von einer japanischen „Schamgesellschaft” im Unterschied zur christlich-europäischen „Schuldgesellschaft” gesprochen hat. Der Fehltritt, das Versagen verursachen nicht das Gefühl individueller Schuld, sondern das öffentlicher Beschämung.
Schon im Nihon Shoki, dem ältesten Geschichtswerk, das um 720 kompiliert wurde, findet sich Nachricht über die strafweise Gesichtstätowierung von Verbrechern. Einem Dieb wurde nicht, wie in manch anderen Kulturen, die Hand abgeschlagen, um ihn zu strafen, sondern ein besonderes Zeichen ins Gesicht tätowiert, damit seine Schuld als Schande öffentlich werde. Nun hat sich zwar der Charakter der Tätowierung seither grundsätzlich verändert, und wenn sich ein bayerischer Großvater darüber grämen mag, dass seine Enkeltochter nicht mehr im Dirndlkleid geht, sieht ein japanischer Großvater den Untergang der Kultur heraufdämmern, weil sie sich nicht mehr auf die alte Weise tätowieren lässt; hat sich also der Charakter der Tätowierung seit dem Nihon-Shoki geändert, ist die Beschämung doch das Übel geblieben, das Japaner am meisten fürchten müssen. Die Etikette, die uns lachhaft erscheint, würde uns, wenn wir erst nach Japan umgezogen wären, vermutlich Rettung im Meer der Peinlichkeiten verheißen.
Von außen, „etisch”, betrachtet, ist die Etikette hingegen das Produkt sozialhistorischer Prozesse, genau genommen ein Relikt der feudalen Ära, in der jeder seinen festen Platz hatte und sich in eine hierarchische Struktur einfügen musste. Zu klären bleibt dann allerdings, warum Regeln und Sitten, die in einer bestimmten Situation entstanden sind, den Untergang jener Verhältnisse überleben und sich unter ganz anderen sozialen und ökonomischen Bedingungen behaupten. Denn immerhin, Japan ist keine feudale Despotie mehr, sondern – ja, was eigentlich? Für eine Gesellschaft, wie wir sie für modern zu halten gewohnt sind, verfügt die japanische zweifellos über viele Besonderheiten, die uns befremdlich, bedenklich, abstoßend oder auch bewundernswert, aber jedenfalls ungewöhnlich erscheinen.
Stärke des Gruppengefühls
Da ist etwa der stark persönliche erlebte, nicht sachlich konzipierte Charakter von Beziehungen, bei denen wir uns weigern würden, sie persönlich zu fassen. Etwa zwischen einem Angestellten und seinem Vorgesetzten – selbst in einem Betrieb von Tausenden Beschäftigten; oder zwischen Managern und Aktionären eines Konzerns. Unvergessen der Auftritt von Shohei Nozawa, dem Vorstandsvorsitzenden eines Börsenmakler-Kartells, der 1997 bei einer Pressekonferenz den Konkurs seines Unternehmens verkünden musste und dabei, mit demütig gesenktem Kopf, lauthals schluchzend und riesige Spekulantentränen vergießend, vor den Kameras der Welt Vergebung von seinen Angestellten, die jetzt arbeitslos wurden, und von seinen Anlegern, die ihr Vermögen verloren, erflehte. Oder zwischen Geschäftspartnern, Schülern und Lehrern, Verkäufern und Einkäufern im Supermarkt. All das manifestiert sich in so seltsamen Dingen wie eigens dafür produzierten Gaben, mit denen man zwei Mal im Jahr eine große Zahl von Leuten zu beschenken hat, oder in der Tatsache, dass zu Neujahr die Post 41 Billionen Glückwunschkarten mit beigelegten Lotterielosen zustellen muss, von denen die allermeisten schon am nächsten Tag weiterverschenkt werden.
Coulmas zollt solchen Gebräuchen, die im entfalteten kapitalistischen System, das Japan zweifellos darstellt, so etwas wie Überbleibsel aus einer vormodernen Ära sind, großen Respekt. Dass „in einer der modernsten und größten Volkswirtschaften der Welt also ein großer Teil der Ökonomie nach nicht-wirtschaftlichen Prinzipien funktioniert”, gefällt ihm, wie es ihm überhaupt jene Traditionen angetan haben, die ökonomisch unvernünftig erscheinen. Da wird er, in seinem ethnologischen Code zu sprechen, nicht nur „emisch”, sondern geradezu emphatisch. Und schwärmt vom japanischen Schulsystem, dem hohen Stellenwert der Bildung, von der Freude, mit der Schüler und Lehrer auch in den Ferien gern gemeinsam lernen – eine Freude, die wir nicht gern teilen müssten –, von der Stärke des Gruppengefühls in den Klassen und der früh geförderten, nein: geforderten Eignung der Japaner, in Gruppen zu arbeiten.
Nichts wäre gegen derlei Dinge vorzubringen, nur hört man es eben auch anders als von Coulmas. Jeden Monat berichten selbst europäische Zeitungen, dass sich japanische Schüler umgebracht haben, weil sie ihre Gruppe enttäuschten, dass sich Angestellte aus dem Fenster stürzten, weil sie den Anforderungen ihres ihnen höchst persönlich verbundenen Chefs nicht mehr gerecht zu werden vermochten: kurz, dass das ganze Gefüge von Vertrauen und Zusammengehörigkeit mitunter als Zwangsordnung erlebt wird, an der der Einzelne zerbricht. Wenn mir etwas in diesem Buch fehlt, das so reich ist an faszinierenden Informationen und Interpretationen, dann dies: die Auskunft, wie das, was Coulmas im großen Überblick als japanische Kultur darstellt, im kleinen Alltag funktioniert, wie es dort gelingt oder missrät, welches Glück es gewährt und mit welchem Verzicht es bezahlt wird.
KARL-MARKUS GAUSS
FLORIAN COULMAS: Die Kultur Japans. Tradition und Moderne. C.H.Beck, München 2003. 333 S., 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensentin Irmela Hijya-Kirschnereit zeigt sich insgesamt zufrieden mit Florian Coulmas' Buch über die "Kultur Japans", einer "materialreichen" anthropologischen Einführung und ethnologisch-soziologischen Landeskunde zugleich. Positiv findet sie die ausgewogene Themenauswahl und die Vielzahl an vermittelten Informationen. So biete Coulmas Einblicke in Übergangsriten, Verwandtschaft, in Etikette und die Praxis des Schenkens, gebe einen Abriss der wichtigsten Religionen in Geschichte und Gegenwart und hebe Schule und Firma als zentrale Institutionen der Sozialisation hervor. Zudem skizziere er die materielle Kultur (Körper, Kleidung, Mode, Behausung Architektur, Töpferei usw.). Für problematisch hält Hijya-Kirschnereit den "bis zur Unkenntlichkeit verbreiterten Kulturbegriff", der Coulmas' Arbeit zugrunde liege. Kultur im engeren Sinn wie Literatur und bildende und darstellende Künste erwähne der Verfasser dagegen nur als "kulturelle Subsysteme", ohne wirklich auf sie einzugehen. Bedauerlich findet es Hijya-Kirschnereit zudem, dass trotz einer langen Literaturliste die Angabe wichtiger Referenzwerke, Handbücher, einschlägiger Forschungsliteratur sowie vorhandener deutscher Übersetzungen zitierter japanischer Quellen fehlt.

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