London, 1678. Die Royal Society bestellt Professor Chrysander zum Kurator ihrer Sammlungen, und der schwedische Naturforscher kehrt die verlotterte Wunderkammer mit eisernem Besen aus. Für den exzentrischen Lord Fearnall hingegen ist das Leben ein Maskenstück. Als er Chrysander begegnet, prallen zwei Welten aufeinander. Ein Spiel von Verführung und Gegenwehr beginnt ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003Am achten Tag schuf Er das Moos
Christine Wunnickes historischer Roman sucht die Ordnung der Dinge / Von Hannes Hintermeier
Sah in der Royal Society ein Experiment, bei dem einem Hund eine Nadel durch das Rückgrat gestochen wurde, wodurch er gelähmt war; sobald die Nadel entfernt war, konnte er sich wieder frei bewegen." - So schreibt Samuel Pepys am 16. Juli 1668 in sein Tagebuch; eine Versuchsanordnung, die für Pepys nicht ungewöhnlich, für sein Zeitalter geradezu symptomatisch war. Die Naturwissenschaft auf der Suche zu sich selbst, die Methodenfrage als Dauerbrenner: Klassifizieren, experimentieren, sezieren, katalogisieren - die große Aufgabe, der sich die Royal Society verschrieben hatte. Mitten hinein in diese Welt der Sezierbestecke und Präpariernadeln, des Nützlichkeitsdenkens und der gelehrten Disputationen des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts führt Christine Wunnickes neuer Roman, der im Titel mit dem Doppelsinn des Wortes Bestimmung jongliert. Ein historischer Roman, der sich bestimmte Redundanzen des Genres durchaus spart und statt auf Volumen zu setzen die Reduktion anstrebt.
London, November 1678. Der Ordner der Welt im klassischen Sinn, das ist Professor Simon Chrysander von der Universität Uppsala, dem man die Kuratorenstelle in London anbietet. Zusammen mit seinem unzivilisierten, beinahe tierhaften Diener Kauppi, einem Waisenkind aus Lappland, reist Chrysander in die Weltmetropole, um sogleich von dieser verschlungen zu werden. In einem Vorstadtbordell wird er Opfer eines grausamen Scherzes: Die vorgebliche Hure Lucy, soeben dabei, dem Herrn Professor Erleichterung zu verschaffen, entpuppt sich als Lucius Lawes, zweiter Earl of Fearnall, ein reichlich exaltierter Adelssproß, der sich von Stund an mit Chrysander auf seine enervierende Art zu vergnügen gedenkt. Der sommersprossige, rothaarige Fearnall wirbt mit brutalstmöglicher Offenheit um den verschatteten, schwarzhaarigen Schweden. Das Prinzip von Anziehung und Abstoßung verkörpern diese Männer exemplarisch, oder, um die unauflösbare Dualität der Aufklärung zu bemühen - ratio trifft irratio, und die Vernunft, man weiß es, hat in solchen Lagen die schlechteren Karten.
"Bestimme mich", fordert der junge Lord vom berühmten Klassifizierungspapst. Der denkt nicht dran, weil er dauernd daran denken muß, was geschehen ist. Er hat die Bilder im Kopf, die ihn jagen. Und es wird immer schwieriger für ihn, weil die Nervensäge Fearnall nun ein neckisch-galantes Treiben inszeniert, das mit immer neuen glamourösen Auftritten und Molestierungen den Professor an den Rand des Wahnsinns treibt. Nur konsequent, daß der Roman auf halbem Weg in einem Duell gipfelt. Chrysander, der gekommen war, um die Dinge in die richtige Ordnung zu stellen, ist durch das immer unverhohlenere Werben des jungen Mannes so außer Fassung geraten, daß er Mylord angelegentlich eines Wohnungseinbruchs mehrere Ohrfeigen verpaßt. Beim Duell mit Degen macht Fearnall, der beste Fechter weit und breit, sich ein Tänzchen draus, um am Ende doch in die Klinge des Angebeteten zu stürzen. Der rätselhafte Anfang vom Ende.
Bis zu dieser Stelle könnte man sich noch in einem traditionellen Historienschinken wähnen, mit allen Schrullen, mit all der geschichtlichen Fleißarbeit, mit der gelungenen Anverwandlung von Personal, Schauplatz und Zeitkolorit. Die Recherche über die Protokolle der Royal Society, das Gresham College, die real existierenden Herren Christopher Wren, Robert Hooke und den erwähnten Samuel Pepys, die Details des Londoner Stadtplans, die Gepflogenheiten am Hof und im Wissenschaftsbetrieb - all das verlangt im Roman nach Überhöhung, wenn es nicht im Trivium der Nachempfindung steckenbleiben soll. Und so kommt mit Chrysander ein Mann, der nicht nur die Archive ausfegen soll, sondern einer, der den "Orbis Pictus" genau studiert hat. Im Gepäck führt er die Chrysandria, eine nach ihm benannte Moosart, "das Kraut, das Gott geschaffen hatte, bevor er Abschied nahm von der Welt". Das Moos hat den Vorzug, keinen Wunsch nach Vermehrung zu haben und selbst im nordischen Frühling "saftlos, filzig und von einer ungerührten Keuschheit" zu sein. Und was macht das Moos unter seinem Glassturz in London? Es bildet Samenkapseln! Und die Autorin winkt drohend damit.
Denn in der zweiten Hälfte driftet die Geschichte ins Reich des Kunstmärchens ab: Auf dem väterlichen Gut des Lords im nordwestenglischen Cheshire kümmert sich Chrysander - längst in Liebe zum jungen Wirrkopf entflammt - um den sprachlos gewordenen Rekonvaleszenten. Der lernt zunächst als erste Sprache Schwedisch, kann dann aber mit einem Mal doch wieder Englisch und heftet wie einst Naso in Christoph Ransmayrs "Letzter Welt" kleine Zettel mit seinen Weltbeschreibungen an Baum, Strauch und Gartenzaun. Obendrein ist das Haus verhext, denn Fearnalls kriegsheldischer Vater spukt als Geist, den nur der übersinnlich befähigte Kauppi sehen und verstehen kann. Chrysander begreift endlich, in was er hineingeraten ist, so wie er endlich begreift, daß am Anfang des Lebens zwar bedürfnisloses Moos, am Ende aber der Satan steht. Eine ratio müßte es geben, sinniert Chrysander, als ihm die seine längst abhanden gekommen ist: "Eines Tages hatte Chrysander die Menschenleichen aufgegeben. Er fühlte sich von ihnen verspottet."
Auf diese Weise also ergreift die Bestimmung Besitz vom Bestimmer. Die Royal Society setzt ihn vor die Tür, Fearnall ist mit Kauppi nach Schweden geflohen. Immer weiter nach Norden bis über den Polarkreis hinaus schlagen sich die beiden durch, mit Verspätung setzt sich Chrysander auf ihre Spur, die sich in der Leere Lapplands zu verlieren droht. Man wird nicht zuviel verraten, wenn man an dieser Stelle preisgibt, daß nicht beide aus der Welt gefallenen Herren die Ziellinie des Romans erreichen. Das Schlußbild, im Prolog angekündigt, zählt zu den berührendsten Passagen in diesem merkwürdigen Buch. Als historischer Roman ist es zu ambitioniert für den Kundenkreis dieses Genres, als Thriller nicht konsistent genug in der Entfaltung des Plots, als Mentalitätsgeschichte zu versponnen und irrlichternd in einem Mythenland am Rand der Welt, und als Sprachkunstwerk zu konventionell, wenn auch mit eigenem Ton und meistens schöner Schlankheit der Parataxe.
Und doch. Als einer Schriftstellerin, die sich mit bislang drei Romanen und zuletzt einer fiktionalen Biographie nicht mehr dem Debütantenstadl zurechnen lassen muß, ist der 1965 geborenen, in München lebenden Christine Wunnicke noch nicht die Beachtung widerfahren, die sie verdient. Das mag seine Gründe darin haben, daß sie auch in diesem Buch erneut jeden Rekurs auf den Zeitgeist verweigert. Historische Stoffe als Romanvorlage zu verwenden ist nichts, womit man derzeit Blumentöpfe gewinnen könnte. Die Erkenntnis nämlich, daß die Fragen des siebzehnten Jahrhunderts auch im neuen Saeculum kursieren könnten, paßt weder in die langsam verblassende Popliteraturszene noch zum neuerdings beliebten Exhibitionismus. Christine Wunnicke steht mit ihren Büchern quer zu einem Betrieb, der sie nicht wahrnehmen will. Das war in der Literatur immer schon ein Prädikat, das guten Büchern zur Zierde gereichte.
Christine Wunnicke: "Die Kunst der Bestimmung". Roman. Kindler Verlag, Berlin 2003. 302 S., geb., 19,90 [Euro].
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Christine Wunnickes historischer Roman sucht die Ordnung der Dinge / Von Hannes Hintermeier
Sah in der Royal Society ein Experiment, bei dem einem Hund eine Nadel durch das Rückgrat gestochen wurde, wodurch er gelähmt war; sobald die Nadel entfernt war, konnte er sich wieder frei bewegen." - So schreibt Samuel Pepys am 16. Juli 1668 in sein Tagebuch; eine Versuchsanordnung, die für Pepys nicht ungewöhnlich, für sein Zeitalter geradezu symptomatisch war. Die Naturwissenschaft auf der Suche zu sich selbst, die Methodenfrage als Dauerbrenner: Klassifizieren, experimentieren, sezieren, katalogisieren - die große Aufgabe, der sich die Royal Society verschrieben hatte. Mitten hinein in diese Welt der Sezierbestecke und Präpariernadeln, des Nützlichkeitsdenkens und der gelehrten Disputationen des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts führt Christine Wunnickes neuer Roman, der im Titel mit dem Doppelsinn des Wortes Bestimmung jongliert. Ein historischer Roman, der sich bestimmte Redundanzen des Genres durchaus spart und statt auf Volumen zu setzen die Reduktion anstrebt.
London, November 1678. Der Ordner der Welt im klassischen Sinn, das ist Professor Simon Chrysander von der Universität Uppsala, dem man die Kuratorenstelle in London anbietet. Zusammen mit seinem unzivilisierten, beinahe tierhaften Diener Kauppi, einem Waisenkind aus Lappland, reist Chrysander in die Weltmetropole, um sogleich von dieser verschlungen zu werden. In einem Vorstadtbordell wird er Opfer eines grausamen Scherzes: Die vorgebliche Hure Lucy, soeben dabei, dem Herrn Professor Erleichterung zu verschaffen, entpuppt sich als Lucius Lawes, zweiter Earl of Fearnall, ein reichlich exaltierter Adelssproß, der sich von Stund an mit Chrysander auf seine enervierende Art zu vergnügen gedenkt. Der sommersprossige, rothaarige Fearnall wirbt mit brutalstmöglicher Offenheit um den verschatteten, schwarzhaarigen Schweden. Das Prinzip von Anziehung und Abstoßung verkörpern diese Männer exemplarisch, oder, um die unauflösbare Dualität der Aufklärung zu bemühen - ratio trifft irratio, und die Vernunft, man weiß es, hat in solchen Lagen die schlechteren Karten.
"Bestimme mich", fordert der junge Lord vom berühmten Klassifizierungspapst. Der denkt nicht dran, weil er dauernd daran denken muß, was geschehen ist. Er hat die Bilder im Kopf, die ihn jagen. Und es wird immer schwieriger für ihn, weil die Nervensäge Fearnall nun ein neckisch-galantes Treiben inszeniert, das mit immer neuen glamourösen Auftritten und Molestierungen den Professor an den Rand des Wahnsinns treibt. Nur konsequent, daß der Roman auf halbem Weg in einem Duell gipfelt. Chrysander, der gekommen war, um die Dinge in die richtige Ordnung zu stellen, ist durch das immer unverhohlenere Werben des jungen Mannes so außer Fassung geraten, daß er Mylord angelegentlich eines Wohnungseinbruchs mehrere Ohrfeigen verpaßt. Beim Duell mit Degen macht Fearnall, der beste Fechter weit und breit, sich ein Tänzchen draus, um am Ende doch in die Klinge des Angebeteten zu stürzen. Der rätselhafte Anfang vom Ende.
Bis zu dieser Stelle könnte man sich noch in einem traditionellen Historienschinken wähnen, mit allen Schrullen, mit all der geschichtlichen Fleißarbeit, mit der gelungenen Anverwandlung von Personal, Schauplatz und Zeitkolorit. Die Recherche über die Protokolle der Royal Society, das Gresham College, die real existierenden Herren Christopher Wren, Robert Hooke und den erwähnten Samuel Pepys, die Details des Londoner Stadtplans, die Gepflogenheiten am Hof und im Wissenschaftsbetrieb - all das verlangt im Roman nach Überhöhung, wenn es nicht im Trivium der Nachempfindung steckenbleiben soll. Und so kommt mit Chrysander ein Mann, der nicht nur die Archive ausfegen soll, sondern einer, der den "Orbis Pictus" genau studiert hat. Im Gepäck führt er die Chrysandria, eine nach ihm benannte Moosart, "das Kraut, das Gott geschaffen hatte, bevor er Abschied nahm von der Welt". Das Moos hat den Vorzug, keinen Wunsch nach Vermehrung zu haben und selbst im nordischen Frühling "saftlos, filzig und von einer ungerührten Keuschheit" zu sein. Und was macht das Moos unter seinem Glassturz in London? Es bildet Samenkapseln! Und die Autorin winkt drohend damit.
Denn in der zweiten Hälfte driftet die Geschichte ins Reich des Kunstmärchens ab: Auf dem väterlichen Gut des Lords im nordwestenglischen Cheshire kümmert sich Chrysander - längst in Liebe zum jungen Wirrkopf entflammt - um den sprachlos gewordenen Rekonvaleszenten. Der lernt zunächst als erste Sprache Schwedisch, kann dann aber mit einem Mal doch wieder Englisch und heftet wie einst Naso in Christoph Ransmayrs "Letzter Welt" kleine Zettel mit seinen Weltbeschreibungen an Baum, Strauch und Gartenzaun. Obendrein ist das Haus verhext, denn Fearnalls kriegsheldischer Vater spukt als Geist, den nur der übersinnlich befähigte Kauppi sehen und verstehen kann. Chrysander begreift endlich, in was er hineingeraten ist, so wie er endlich begreift, daß am Anfang des Lebens zwar bedürfnisloses Moos, am Ende aber der Satan steht. Eine ratio müßte es geben, sinniert Chrysander, als ihm die seine längst abhanden gekommen ist: "Eines Tages hatte Chrysander die Menschenleichen aufgegeben. Er fühlte sich von ihnen verspottet."
Auf diese Weise also ergreift die Bestimmung Besitz vom Bestimmer. Die Royal Society setzt ihn vor die Tür, Fearnall ist mit Kauppi nach Schweden geflohen. Immer weiter nach Norden bis über den Polarkreis hinaus schlagen sich die beiden durch, mit Verspätung setzt sich Chrysander auf ihre Spur, die sich in der Leere Lapplands zu verlieren droht. Man wird nicht zuviel verraten, wenn man an dieser Stelle preisgibt, daß nicht beide aus der Welt gefallenen Herren die Ziellinie des Romans erreichen. Das Schlußbild, im Prolog angekündigt, zählt zu den berührendsten Passagen in diesem merkwürdigen Buch. Als historischer Roman ist es zu ambitioniert für den Kundenkreis dieses Genres, als Thriller nicht konsistent genug in der Entfaltung des Plots, als Mentalitätsgeschichte zu versponnen und irrlichternd in einem Mythenland am Rand der Welt, und als Sprachkunstwerk zu konventionell, wenn auch mit eigenem Ton und meistens schöner Schlankheit der Parataxe.
Und doch. Als einer Schriftstellerin, die sich mit bislang drei Romanen und zuletzt einer fiktionalen Biographie nicht mehr dem Debütantenstadl zurechnen lassen muß, ist der 1965 geborenen, in München lebenden Christine Wunnicke noch nicht die Beachtung widerfahren, die sie verdient. Das mag seine Gründe darin haben, daß sie auch in diesem Buch erneut jeden Rekurs auf den Zeitgeist verweigert. Historische Stoffe als Romanvorlage zu verwenden ist nichts, womit man derzeit Blumentöpfe gewinnen könnte. Die Erkenntnis nämlich, daß die Fragen des siebzehnten Jahrhunderts auch im neuen Saeculum kursieren könnten, paßt weder in die langsam verblassende Popliteraturszene noch zum neuerdings beliebten Exhibitionismus. Christine Wunnicke steht mit ihren Büchern quer zu einem Betrieb, der sie nicht wahrnehmen will. Das war in der Literatur immer schon ein Prädikat, das guten Büchern zur Zierde gereichte.
Christine Wunnicke: "Die Kunst der Bestimmung". Roman. Kindler Verlag, Berlin 2003. 302 S., geb., 19,90 [Euro].
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Ein klug komponierter, intelligenter und spannender Roman mit Sinn fürs Skurrile und philosophischem Tiefgang Bayrischer Rundfunk