Eine Geschichte der Kunst der Moderne, die die künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts systematisch gliedert und mit den sie beeinflussenden politischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen verknüpft. Sandro Bocola hat in dieses Grundlagenwerk seine in über zehnjähriger Forschungsarbeit gewonnenen Einsichten einfließen lassen: Stile und Strömungen werden untersucht, Leben und Werk aller wichtigen Künstler dieser Epoche beschrieben; über 400 Vergleichsabbildungen ergänzen den Text. Ein Buch für den Experten wie für den Laien, das mit manch provokativer These zur Kunst der Moderne aufwartet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.1995Eitle Wut, manische Genüsse
Frei und folgenlos: Zwei Bücher über die Kunst der Moderne
Künstlerisches Schaffen, behauptet Sandro Bocola, gründe auf einer universalen Struktur. Die Behauptung eröffnet eine dreiteilige Thesenfolge, die den Blick auf die Kunst der Moderne schärfen soll. Stets, so besagt die erste Untersuchungsregel, leiten zwei konkurrierende Prinzipien den Akt der künstlerischen Hervorbringung - der Drang nach Schönheit und der Ausdruck des Selbst, Apollinisches und Dionysisches oder ähnlich. Zusammengenommen fügen sich die Manifestationen solchen Ringens dann zweitens zu einer Gesamtentwicklung mit zyklischer Verlaufsfigur. Drittens schließlich macht der Zürcher Künstler und Ausstellungsmacher vier "Grundhaltungen" dingfest, deren Nebeneinander die Reihe der Epochenschnitte horizontal kreuzt. Bocola unterscheidet zwischen "realistischer", "struktureller", "romantischer" und "symbolischer" Grundhaltung.
Die Kombination der Achsen und Längsschnitte ergibt ein akkurates Kästchenschema, das den Gestaltwandel der Kunst klar und zweifelsfrei als "sinnvollen und zusammenhängenden Vorgang" erweist. Jeder Einzelfall findet hier ein Unterkommen. Erleichtert nehmen wir zur Kenntnis, daß die gestalterische und ewig umständliche Geschichte der modernen Kunst, wenn man sie bloß vernünftig ansieht, genauso vernünftig zurückschaut. Endlich in eine verständige Ordnung gebracht, findet sie auf einer einzigen Buchseite umstandslos Platz.
Nicht damit zufrieden, den Andrang der Einzelheiten irgendwie zu steuern und vorläufige Orientierungen zu gewinnen, setzt Bocola seine Parameter als selbständige Größen ein. Statt als Hilfskonstruktion zu dienen, gerät die Theorie zum Gehäuse. Dazu paßt ein kunstrichterlicher Habitus, der den Status des "Klassischen" und die Grundhaltung des Realismus normiert. Gleichgültig, ob von Goyas "Disparates", von Delacroix' Farbenreichen oder de Chiricos verzauberten Plätzen die Rede ist - stereotyp entdeckt und bejaht Bocola die vorgeblich moderne "Sinngebung" einer "unbezweifelbaren Wirklichkeit". Die Moderne, weiß er, strebt nach Erkenntnis und Gestaltung; sie pflegt "die Vorstellungen einer unsichtbaren Wirklichkeit und der grundsätzlichen Einheit allen Seins, der umfassenden und universalen Ordnung physikalischer, biologischer, psychischer und geistiger Kräfte".
Wer sich dem Schlagwortdiktat nicht beugen mag, wird aussortiert. Kritik weicht der Katamnese: Blake ("Heute würde man ihn wohl als latent schizophren bezeichnen"), Ensor ("extrem labile Ich-Strukturen"), Breton ("seine Tiraden gründeten in der narzißtischen Wut des Gekränkten"), Beuys ("manischer Selbstgenuß"). Und so weiter fort. Schwierige Charaktere und hermetische Werkgruppen werden mehr erledigt als erschlossen, oder sie bleiben überhaupt unerwähnt. Bringen es Rodin, Balthus oder Beckmann noch auf beiläufige Erwähnungen, so fehlen Thorvaldsen, Marées oder Laurens ganz, und mit ihnen alles, was als kulturelles Umfeld zu bedenken gewesen wäre: Publikum, Märkte, Ausstellungswesen, die Konkurrenz der technischen Medien, die Veränderung des Werkbegriffs.
An Vorbildern - Read, Gombrich, Gehlen, Baxandall, Belting - herrscht wahrlich kein Mangel, doch kaum wagt man sie zu nennen. Auch Bocola tut es nicht. Seine Geschichte der modernen Kunst ist redselig, ohne erhellend, vereinfachend, ohne elegant, urteilsfreudig, ohne originell zu sein. Vergleichbar Lukács' unseliger "Zerstörung der Vernunft", wettert sie mit einer Verve gegen das Schreckbild der Postmoderne, wie sie nur unerschütterliche Gewißheit zu gewähren vermag. Mal um Mal entzündet sich die Gereiztheit des Modernisten an der Weigerung, jene feierlichen Grundprinzipien weiterhin zu respektieren, kurz: an der heiter-ironischen Aufkündigung der Gefolgschaft. Mehr als Moralismus und Nostalgie hat Bocola dem freilich nicht entgegenzusetzen. Tatsächlich bezeugt nichts eindrucksvoller das Ausmaß ihres Geltungsverlustes als dieser matte Versuch, die Moderne zu verklären.
Martin Damus setzt ebenfalls einiges Vertrauen in die Aufschlußkraft dessen, was Bocola "die Entsprechungen zwischen wissenschaftlichen, politischen und sozialgeschichtlichen Entwicklungen" nennt. Sein Interesse beschränkt sich ausdrücklich auf die Kunst in der Bundesrepublik, denn anders als im Fall der DDR (der er vor Jahren eine ähnliche Darstellung gewidmet hat) sei hier der genitivus possessivus unangebracht. Die West-Kunst ist frei - frei, aber folgenlos. Diese mehrfach abgewandelte Grundthese, wonach selbst das Engagement der sechziger Jahre bloß das Mißverständnis einer wesentlich auf Dauererneuerung eingestellten, im Grunde aber harmlosen Branche gewesen sei, trägt Damus mit gelinder Bitterkeit vor. Doch die Schärfe seiner Formulierungen verdeckt nur, wieviel diese These offenlassen muß. Heißt dies, daß das Auslaufen des Avantgardemodells zugleich das Ende der modernen Kunst besiegele? Ist künstlerische Subversion nur dort erfolgreich, wo der Raum des Ästhetischen begrenzt bleibt? Scheitert Sinnbelehnung an der schieren Fülle?
Damus rückt solche Fragen in Sichtweite, doch er beantwortet sie nicht. Er ist kein Theoretiker. Seine Stärke ist das Beobachten, und mit einigem Geschick widersteht er der Versuchung, eine Geschichte der Sieger zu liefern. Neben die Allbekannten - Baumeister, Beuys, Kiefer - stellt er die Vergessenen. Ernst Geitlinger zum Beispiel, dessen fragile Kompositionen einst in einem Atemzug mit den Werken Chagalls und Klees genannt wurden, oder Karl Schwesig, der die vorherrschende Bildsprache der entrückten Wesensschau mit plakativem Verismus quittierte. Damus erinnert daran, wie Hans Uhlmann, der nach 1933 sein Lehramt verloren hatte und inhaftiert gewesen war, direkt nach Kriegsende als Leiter des Kulturamtes Steglitz mit dem Fahrrad durch Berlin fuhr und die überlebenden Kollegen zusammenrief. Tatsächlich brachte Uhlmann eine Ausstellung zustande, auf der er neben eigenen Arbeiten Expressionisten zeigte, dazu Werke von Jeanne Mammen, Oskar Nerlinger und René Sintenis.
Am Ende deuten all diese Schlaglicher und Einzelfälle auf eine Tendenz. In der westdeutschen Nachkriegskunst, sagt Damus, war die klassische Moderne von Anfang an bloß Zitat. Das Publikum erwartete keine Provokation, es suchte Besinnung, Sammlung, Einkehr. Mit der Zeit gelang die Synthese: Die Provokation wirkte erhaben, das Erhabene provozierte. Malerei, Performance und Plastik wollten niemals intellektuell sein. Das Leitbild verlangte Ausdruck, Versponnenheit und Tiefe. Das ist schon fast eine Kontinuitätsformel, mit der die Betriebsamkeit eines halben Jahrhunderts auf einen erstaunlich schlichten und doch aufschlußreichen Nenner gebracht ist. Die in den Neunzigern tonangebende, von der spektakulären Gestik der "Neuen Wilden" und dem martialischen Gehaben der "Neuen deutschen Malerei" getragene Nachmoderne läßt sich in dieser Beleuchtung ganz entspannt zur Kenntnis nehmen. Sie mag alles mögliche sein, nur "neu", das ist sie gerade nicht. RALF KONERSMANN
Sandro Bocola: "Die Kunst der Moderne". Zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung. Von Goya bis Beuys. Prestel-Verlag, München, New York 1994. 624 S., Abb., geb., 58,- DM.
Martin Damus: "Kunst in der BRD 1945-1990". Funktionen der Kunst in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1995. 485 S., Abb., br., 39,90 DM.
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Frei und folgenlos: Zwei Bücher über die Kunst der Moderne
Künstlerisches Schaffen, behauptet Sandro Bocola, gründe auf einer universalen Struktur. Die Behauptung eröffnet eine dreiteilige Thesenfolge, die den Blick auf die Kunst der Moderne schärfen soll. Stets, so besagt die erste Untersuchungsregel, leiten zwei konkurrierende Prinzipien den Akt der künstlerischen Hervorbringung - der Drang nach Schönheit und der Ausdruck des Selbst, Apollinisches und Dionysisches oder ähnlich. Zusammengenommen fügen sich die Manifestationen solchen Ringens dann zweitens zu einer Gesamtentwicklung mit zyklischer Verlaufsfigur. Drittens schließlich macht der Zürcher Künstler und Ausstellungsmacher vier "Grundhaltungen" dingfest, deren Nebeneinander die Reihe der Epochenschnitte horizontal kreuzt. Bocola unterscheidet zwischen "realistischer", "struktureller", "romantischer" und "symbolischer" Grundhaltung.
Die Kombination der Achsen und Längsschnitte ergibt ein akkurates Kästchenschema, das den Gestaltwandel der Kunst klar und zweifelsfrei als "sinnvollen und zusammenhängenden Vorgang" erweist. Jeder Einzelfall findet hier ein Unterkommen. Erleichtert nehmen wir zur Kenntnis, daß die gestalterische und ewig umständliche Geschichte der modernen Kunst, wenn man sie bloß vernünftig ansieht, genauso vernünftig zurückschaut. Endlich in eine verständige Ordnung gebracht, findet sie auf einer einzigen Buchseite umstandslos Platz.
Nicht damit zufrieden, den Andrang der Einzelheiten irgendwie zu steuern und vorläufige Orientierungen zu gewinnen, setzt Bocola seine Parameter als selbständige Größen ein. Statt als Hilfskonstruktion zu dienen, gerät die Theorie zum Gehäuse. Dazu paßt ein kunstrichterlicher Habitus, der den Status des "Klassischen" und die Grundhaltung des Realismus normiert. Gleichgültig, ob von Goyas "Disparates", von Delacroix' Farbenreichen oder de Chiricos verzauberten Plätzen die Rede ist - stereotyp entdeckt und bejaht Bocola die vorgeblich moderne "Sinngebung" einer "unbezweifelbaren Wirklichkeit". Die Moderne, weiß er, strebt nach Erkenntnis und Gestaltung; sie pflegt "die Vorstellungen einer unsichtbaren Wirklichkeit und der grundsätzlichen Einheit allen Seins, der umfassenden und universalen Ordnung physikalischer, biologischer, psychischer und geistiger Kräfte".
Wer sich dem Schlagwortdiktat nicht beugen mag, wird aussortiert. Kritik weicht der Katamnese: Blake ("Heute würde man ihn wohl als latent schizophren bezeichnen"), Ensor ("extrem labile Ich-Strukturen"), Breton ("seine Tiraden gründeten in der narzißtischen Wut des Gekränkten"), Beuys ("manischer Selbstgenuß"). Und so weiter fort. Schwierige Charaktere und hermetische Werkgruppen werden mehr erledigt als erschlossen, oder sie bleiben überhaupt unerwähnt. Bringen es Rodin, Balthus oder Beckmann noch auf beiläufige Erwähnungen, so fehlen Thorvaldsen, Marées oder Laurens ganz, und mit ihnen alles, was als kulturelles Umfeld zu bedenken gewesen wäre: Publikum, Märkte, Ausstellungswesen, die Konkurrenz der technischen Medien, die Veränderung des Werkbegriffs.
An Vorbildern - Read, Gombrich, Gehlen, Baxandall, Belting - herrscht wahrlich kein Mangel, doch kaum wagt man sie zu nennen. Auch Bocola tut es nicht. Seine Geschichte der modernen Kunst ist redselig, ohne erhellend, vereinfachend, ohne elegant, urteilsfreudig, ohne originell zu sein. Vergleichbar Lukács' unseliger "Zerstörung der Vernunft", wettert sie mit einer Verve gegen das Schreckbild der Postmoderne, wie sie nur unerschütterliche Gewißheit zu gewähren vermag. Mal um Mal entzündet sich die Gereiztheit des Modernisten an der Weigerung, jene feierlichen Grundprinzipien weiterhin zu respektieren, kurz: an der heiter-ironischen Aufkündigung der Gefolgschaft. Mehr als Moralismus und Nostalgie hat Bocola dem freilich nicht entgegenzusetzen. Tatsächlich bezeugt nichts eindrucksvoller das Ausmaß ihres Geltungsverlustes als dieser matte Versuch, die Moderne zu verklären.
Martin Damus setzt ebenfalls einiges Vertrauen in die Aufschlußkraft dessen, was Bocola "die Entsprechungen zwischen wissenschaftlichen, politischen und sozialgeschichtlichen Entwicklungen" nennt. Sein Interesse beschränkt sich ausdrücklich auf die Kunst in der Bundesrepublik, denn anders als im Fall der DDR (der er vor Jahren eine ähnliche Darstellung gewidmet hat) sei hier der genitivus possessivus unangebracht. Die West-Kunst ist frei - frei, aber folgenlos. Diese mehrfach abgewandelte Grundthese, wonach selbst das Engagement der sechziger Jahre bloß das Mißverständnis einer wesentlich auf Dauererneuerung eingestellten, im Grunde aber harmlosen Branche gewesen sei, trägt Damus mit gelinder Bitterkeit vor. Doch die Schärfe seiner Formulierungen verdeckt nur, wieviel diese These offenlassen muß. Heißt dies, daß das Auslaufen des Avantgardemodells zugleich das Ende der modernen Kunst besiegele? Ist künstlerische Subversion nur dort erfolgreich, wo der Raum des Ästhetischen begrenzt bleibt? Scheitert Sinnbelehnung an der schieren Fülle?
Damus rückt solche Fragen in Sichtweite, doch er beantwortet sie nicht. Er ist kein Theoretiker. Seine Stärke ist das Beobachten, und mit einigem Geschick widersteht er der Versuchung, eine Geschichte der Sieger zu liefern. Neben die Allbekannten - Baumeister, Beuys, Kiefer - stellt er die Vergessenen. Ernst Geitlinger zum Beispiel, dessen fragile Kompositionen einst in einem Atemzug mit den Werken Chagalls und Klees genannt wurden, oder Karl Schwesig, der die vorherrschende Bildsprache der entrückten Wesensschau mit plakativem Verismus quittierte. Damus erinnert daran, wie Hans Uhlmann, der nach 1933 sein Lehramt verloren hatte und inhaftiert gewesen war, direkt nach Kriegsende als Leiter des Kulturamtes Steglitz mit dem Fahrrad durch Berlin fuhr und die überlebenden Kollegen zusammenrief. Tatsächlich brachte Uhlmann eine Ausstellung zustande, auf der er neben eigenen Arbeiten Expressionisten zeigte, dazu Werke von Jeanne Mammen, Oskar Nerlinger und René Sintenis.
Am Ende deuten all diese Schlaglicher und Einzelfälle auf eine Tendenz. In der westdeutschen Nachkriegskunst, sagt Damus, war die klassische Moderne von Anfang an bloß Zitat. Das Publikum erwartete keine Provokation, es suchte Besinnung, Sammlung, Einkehr. Mit der Zeit gelang die Synthese: Die Provokation wirkte erhaben, das Erhabene provozierte. Malerei, Performance und Plastik wollten niemals intellektuell sein. Das Leitbild verlangte Ausdruck, Versponnenheit und Tiefe. Das ist schon fast eine Kontinuitätsformel, mit der die Betriebsamkeit eines halben Jahrhunderts auf einen erstaunlich schlichten und doch aufschlußreichen Nenner gebracht ist. Die in den Neunzigern tonangebende, von der spektakulären Gestik der "Neuen Wilden" und dem martialischen Gehaben der "Neuen deutschen Malerei" getragene Nachmoderne läßt sich in dieser Beleuchtung ganz entspannt zur Kenntnis nehmen. Sie mag alles mögliche sein, nur "neu", das ist sie gerade nicht. RALF KONERSMANN
Sandro Bocola: "Die Kunst der Moderne". Zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung. Von Goya bis Beuys. Prestel-Verlag, München, New York 1994. 624 S., Abb., geb., 58,- DM.
Martin Damus: "Kunst in der BRD 1945-1990". Funktionen der Kunst in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1995. 485 S., Abb., br., 39,90 DM.
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