«Philosophieren heißt sterben lernen», bekannte Montaigne einmal. Er war nicht der Erste, der darauf hinwies, dass das Leben nur von der Endlichkeit her wirklich zu ergründen ist. Die «Ars Moriendi», die Kunst des Sterbens, hat eine weit zurückführende Tradition, und mit ihr untrennbar verbunden ist die «Ars Vivendi», die Kunst des Lebens, deren Ursprünge bis in die Antike reichen. Lorenz Jäger greift ein großes Thema auf und fragt in seiner ebenso klugen wie leichtfüßigen Erkundung, was die Endlichkeit für unsere Lebensführung bedeutet. Er blickt auf früheste literarische Werke wie das Gilgamesch-Epos und die Bibel, auf die fragwürdige Gelassenheit der Stoiker, das japanische Feiern der Vergänglichkeit oder die Unsterblichkeitsträume des Silicon Valley, befragt mit Georg Büchner einen Frühverstorbenen, mit Hans-Georg Gadamer oder Claude Lévi-Strauss Hundertjährige. Dabei spricht Jäger immer auch über unsere Gegenwart, über das, was unser Leben reich und sinnhaft machen kann,über unseren Umgang mit der Zeit angesichts der Endlichkeit, die Gestaltung unserer Ziele und Wünsche - ein im besten Sinne existenzielles Buch.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Shirin Sojitrawalla nimmt Lorenz Jägers Buch über das Leben und das Sterben als anregende Einführung ins Thema und Aufforderung zum Selber- und Weiterdenken. Den Bruch mit Traditionen rund um Geburt und Tod, den der Autor konstatiert, gleicht er mit (Vergänglichkeits-)Vorstellungen in der Bibel, in Literatur, Philosophie und Ethnologie ab, so die Rezensentin. Die dabei sich zeigenden Querverbindungen findet sie spannend. Gleichfalls gut gefällt ihr die Neigung des Autors zu Abschweifungen und zum Mäandern. So berichtet Jäger über sein Faible für "Aktenzeichen XY" und gibt Tipps in Sachen Sexualität.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2024Einrücken in lange Traditionen
In Gedankenfurchen und Seelenfalten: Lorenz Jäger führt durch Gedanken zu Leben und Sterben
Optimierende Ratschläge, wie das Leben und Sterben besser klappen könnte, finden die Leser in Lorenz Jägers "Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens" glücklicherweise nicht. Stattdessen werden sie mit einer langen Tradition bekannt gemacht, die mit dem Alten Testament beginnt. Für Lorenz Jäger ist das Ferne nah, das Disparate anziehend und schließen sich weitläufige Lektüren, im klassischen Fall von Homer über Dante bis zu Benjamin und Joyce, zu einprägsamen Konstellationen zusammen, in denen Existenzweisen aufscheinen. Nie werden dabei Einsichten schwerfällig und dunkel formuliert, die beschrittenen Wege bleiben klar und erhellend.
Dass dies gelingt, liegt an Haltung und Stil des Autors. Er pflegt eine Umsicht, die sich des Mikroskops wie des Fernrohrs mit gleicher Kunstfertigkeit und Nüchternheit bedient. Mit dem einen werden Gedankenfurchen und Seelenfalten, mit dem anderen Mythen und Märchenwelten aufgesucht. In diesem Buch kommandiert kein Rechthaber, der es besser wissen, der belehren und überzeugen möchte, auch wenn der Autor seiner Sache sicher ist und dies nicht verbirgt. Er könnte, was er schreibt, sicher auch mündlich eindringlich darlegen.
Zur Umsichtigkeit gehört, dass der Autor sich bewusst ist, gesehen zu werden, dass er sich zeigt. Dem Leser geht der unmittelbare Kontakt zu diesem Erzähler nie verloren, immer ist dessen eigene Stimme zu hören, nie eine Phrase, nie der Begriffsdünkel. Seine Fundstellen sind die Bibel und die griechische Mythologie, Karl Marx und Schelling, Wilhelm Hauff und Georg Büchner (beide jung gestorben), Ernst Jünger und Hans-Georg Gadamer (sehr alt geworden), Adorno, Ernst Bloch, Karl May, Arno Schmidt, Joni Mitchell, Ulrike Edschmid oder auch Brigitte Kronauer. Das Eingehen auf die begrenzte Zeit des Lebens, auf Zwänge, Nöte, Auswege und Herausforderungen, verknüpft intellektuelles Zartgefühl mit Neugier.
Beim Lesen wird man dank dieser Umsicht in Position gerückt, ganz so, als nähme man einen zugewiesenen Platz ein, man spürt die Traditionen, nicht nur dunkel im Rücken, sondern neben sich, Abraham links, Achill rechts, vorne Schopenhauer mit seinem Sinn fürs Schicksal und Brecht, der sich nicht um sein Leben betrügen lassen mochte. Kafka, dem nur noch ein Jahr zu leben bleibt, ist auch da; und Freud und Hofmannsthal; und Rilke mit dem eigenen Tod; und Heidegger mit der Angst; und Habermas auf dem Begräbnis von Max Frisch, wo er sich nicht ganz wohlfühlte.
Das Buch ist in kurze Kapitel eingeteilt, die sich unterschiedlichen Aspekten des Lebens und des Sterbens widmen, so der Feuerbestattung und der Beerdigung im Sarg, der Jugend und dem Alter, dem Kindersegen und den Abtreibungen, den Fluchtwegen aus der Zeit, den Hoffnungen auf Lebensverlängerung, den zaghaften Grenzübertritten vom Hier zum Dort und metaphysischen Erfahrungen unter blauem Himmel. Es gäbe sicher noch mehr und anderes zu erwägen. Niemand kann lange diesen Konstellationen folgen, ohne dass das Gefühl in ihm aufkommt, sich wieder den eigenen Gedanken widmen zu wollen über den Lauf, den das Leben als Biographie genommen hat, über den Glauben und die Patientenverfügung, über die letzten Male und die drohende Unheimlichkeit.
Was bleibt nach der Lektüre, ist das Gefühl der Ruhe, als käme man von weiter her als vielleicht angenommen und ginge gar nicht mehr so lang, gar nicht mehr so weit. EBERHARD RATHGEB
Lorenz Jäger: "Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens".
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024.
272 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Gedankenfurchen und Seelenfalten: Lorenz Jäger führt durch Gedanken zu Leben und Sterben
Optimierende Ratschläge, wie das Leben und Sterben besser klappen könnte, finden die Leser in Lorenz Jägers "Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens" glücklicherweise nicht. Stattdessen werden sie mit einer langen Tradition bekannt gemacht, die mit dem Alten Testament beginnt. Für Lorenz Jäger ist das Ferne nah, das Disparate anziehend und schließen sich weitläufige Lektüren, im klassischen Fall von Homer über Dante bis zu Benjamin und Joyce, zu einprägsamen Konstellationen zusammen, in denen Existenzweisen aufscheinen. Nie werden dabei Einsichten schwerfällig und dunkel formuliert, die beschrittenen Wege bleiben klar und erhellend.
Dass dies gelingt, liegt an Haltung und Stil des Autors. Er pflegt eine Umsicht, die sich des Mikroskops wie des Fernrohrs mit gleicher Kunstfertigkeit und Nüchternheit bedient. Mit dem einen werden Gedankenfurchen und Seelenfalten, mit dem anderen Mythen und Märchenwelten aufgesucht. In diesem Buch kommandiert kein Rechthaber, der es besser wissen, der belehren und überzeugen möchte, auch wenn der Autor seiner Sache sicher ist und dies nicht verbirgt. Er könnte, was er schreibt, sicher auch mündlich eindringlich darlegen.
Zur Umsichtigkeit gehört, dass der Autor sich bewusst ist, gesehen zu werden, dass er sich zeigt. Dem Leser geht der unmittelbare Kontakt zu diesem Erzähler nie verloren, immer ist dessen eigene Stimme zu hören, nie eine Phrase, nie der Begriffsdünkel. Seine Fundstellen sind die Bibel und die griechische Mythologie, Karl Marx und Schelling, Wilhelm Hauff und Georg Büchner (beide jung gestorben), Ernst Jünger und Hans-Georg Gadamer (sehr alt geworden), Adorno, Ernst Bloch, Karl May, Arno Schmidt, Joni Mitchell, Ulrike Edschmid oder auch Brigitte Kronauer. Das Eingehen auf die begrenzte Zeit des Lebens, auf Zwänge, Nöte, Auswege und Herausforderungen, verknüpft intellektuelles Zartgefühl mit Neugier.
Beim Lesen wird man dank dieser Umsicht in Position gerückt, ganz so, als nähme man einen zugewiesenen Platz ein, man spürt die Traditionen, nicht nur dunkel im Rücken, sondern neben sich, Abraham links, Achill rechts, vorne Schopenhauer mit seinem Sinn fürs Schicksal und Brecht, der sich nicht um sein Leben betrügen lassen mochte. Kafka, dem nur noch ein Jahr zu leben bleibt, ist auch da; und Freud und Hofmannsthal; und Rilke mit dem eigenen Tod; und Heidegger mit der Angst; und Habermas auf dem Begräbnis von Max Frisch, wo er sich nicht ganz wohlfühlte.
Das Buch ist in kurze Kapitel eingeteilt, die sich unterschiedlichen Aspekten des Lebens und des Sterbens widmen, so der Feuerbestattung und der Beerdigung im Sarg, der Jugend und dem Alter, dem Kindersegen und den Abtreibungen, den Fluchtwegen aus der Zeit, den Hoffnungen auf Lebensverlängerung, den zaghaften Grenzübertritten vom Hier zum Dort und metaphysischen Erfahrungen unter blauem Himmel. Es gäbe sicher noch mehr und anderes zu erwägen. Niemand kann lange diesen Konstellationen folgen, ohne dass das Gefühl in ihm aufkommt, sich wieder den eigenen Gedanken widmen zu wollen über den Lauf, den das Leben als Biographie genommen hat, über den Glauben und die Patientenverfügung, über die letzten Male und die drohende Unheimlichkeit.
Was bleibt nach der Lektüre, ist das Gefühl der Ruhe, als käme man von weiter her als vielleicht angenommen und ginge gar nicht mehr so lang, gar nicht mehr so weit. EBERHARD RATHGEB
Lorenz Jäger: "Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens".
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024.
272 S., geb., 25,- Euro.
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Aus dem Buch spricht eine eindrucksvolle Gelehrsamkeit ... Was Jäger zusammenträgt, ist gewaltig. Neue Zürcher Zeitung