Erst von 1750 an - lange also nach den klassischen Epochen der italienischen, spanischen oder französischen Literatur - entstehen in Deutschland Werke, die zur Weltliteratur zählen: die Literatur des klassisch-romantischen Zeitalters.
In diesem Buch geht Heinz Schlaffer den Gründen für die Verspätung und für die kurze Dauer der glücklichen Konstellation nach. Gedanke und Stil verbinden sich in dieser provokativen Literaturgeschichte - die vom Mittelalter bis zur Gegenwart reicht - so, dass die Fachleute zum Nachdenken über verdrängte Fragen bewegt werden, die Liebhaber aber zu neuer Beschäftigung mit den eigenwilligen und fast schon vergessenen Leistungen der deutschen Literatur. Für sie vor allem ist dieses Buch geschrieben.
Was ist an deutscher Literatur eigentlich "deutsch"? An dieser Frage orientiert sich diese scharf argumentierende, anschaulich formulierte Literaturgeschichte, von den Anfängen deutscher Dichtung bis zur Gegenwart. Das Buch meidet Terminologien, mit denen die heutige Literaturwissenschaft dem Laien das bessere Verständnis verwehrt und vermittelt gleichzeitig neue Einsichten in den inneren Zusammenhang der deutschen Literatur.
In diesem Buch geht Heinz Schlaffer den Gründen für die Verspätung und für die kurze Dauer der glücklichen Konstellation nach. Gedanke und Stil verbinden sich in dieser provokativen Literaturgeschichte - die vom Mittelalter bis zur Gegenwart reicht - so, dass die Fachleute zum Nachdenken über verdrängte Fragen bewegt werden, die Liebhaber aber zu neuer Beschäftigung mit den eigenwilligen und fast schon vergessenen Leistungen der deutschen Literatur. Für sie vor allem ist dieses Buch geschrieben.
Was ist an deutscher Literatur eigentlich "deutsch"? An dieser Frage orientiert sich diese scharf argumentierende, anschaulich formulierte Literaturgeschichte, von den Anfängen deutscher Dichtung bis zur Gegenwart. Das Buch meidet Terminologien, mit denen die heutige Literaturwissenschaft dem Laien das bessere Verständnis verwehrt und vermittelt gleichzeitig neue Einsichten in den inneren Zusammenhang der deutschen Literatur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2002Von deutscher Kunst
Zur Verteidigung Heinz Schlaffers / Von Kurt Wölfel
Germanistik ist eine akademische Disziplin, von der man nicht sagen kann, dass die Produkte ihres Fleißes bei den öffentlichen Medien einen bemerkenswert hohen Grad von Aufmerksamkeit zu erregen pflegen. Wenn das nun von Heinz Schlaffers „Die kleine Geschichte der deutschen Literatur” bewirkt worden ist, liegt die Vermutung nahe, da könne es sich nicht um einen bloß fachwissenschaftlichen Diskurs handeln, oder gar der Verdacht, es verbinde sich damit wohl etwas Skandalöses.
Mit Heinz Schlaffers „Kurzer Geschichte der deutschen Literatur” (Hanser Verlag) beginnt die überfällige Selbstrevision der Geisteswissenschaften, so die Botschaft einer Rezension, mit der wir dieses Buch am Tag seines Erscheinens (SZ vom 26. Februar) begrüßten. „Wann hat es zum letzten Mal ein so hochmütiges und angriffslustiges Buch gegeben, über das sich mit intelligenten Leuten so trefflich streiten ließe?” Der Streit begann mit dem Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach, der Heinz Schlaffer vorwarf, „fragwürdige Thesen” zu vertreten und sein Leben als Germanist an einen Gegenstand verschwendet zu haben, den er nicht schätze. Auf ihn antwortet nun Kurt Wölfel, emeritierter Ordinarius für Literatur an der Universität Bonn.
SZ
Mit der Vermutung hat es seine Richtigkeit; denn Schlaffers Buch, wenn nicht eher Büchlein, stellt nicht nur provokative und radikale, d. h. an die Wurzeln gehende Fragen wissenschaftsinterne Übereinkünfte der Germanistik betreffend, es ist darin die Existenz und Existenzweise deutscher Literatur in ihrer Geschichte überhaupt zum Problem gemacht. Aber auch jener Verdacht geht nicht ganz fehl: Wie sehr einer das Büchlein als ärgerlich und anstößig empfinden kann, zeigte Martin Mosebachs Polemik (SZ vom 5.März) so drastisch, dass man sich nicht wundern würde, darin gar den Vorwurf der Nestbeschmutzung zu finden. Das Nest: die deutsche Literatur und die Darstellung ihrer Geschichte. Die Beschmutzung: verübt von einem Autor, der doch zu den Bewohnern dieses Nestes gehört. Nach der Lektüre von Mosebachs Kritik könnte man den Eindruck haben, Schlaffer habe, fahrlässig bis frivol, eine Denunziation der deutschen Literatur geschrieben, sie ‚kurz und klein‘ geschlagen. Man könnte freilich auch das Gegenteil behaupten und etwas paradox sagen, dass mittels dieses Verkleinerungsgeschäfts umso eigentümlicher hervortrete, inwiefern unsere Literatur (welche) Größe hat. Man könnte das Büchlein als eine Liebeserklärung malgré lui lesen, ja gar, will man den Spaß etwas weit treiben, darin das ferne Echo eines Preisgesangs vernehmen, von der Art etwa wie sie Hans Sachs am Ende von Wagners „Meistersingern” anstimmt; denn um das, was als „deutsch und wahr” gelten darf, geht es darin in der Tat.
Liest man, wie Mosebach, Schlaffers Büchlein als eine „kurze Geschichte der deutschen Literatur”, als Konkurrenzunternehmen à la „Reader’s Digest” zu den meist mehrbändigen Literaturgeschichten, dann mag die Lektüre allerdings zu einem Weg über lauter Stolpersteine werden. Nimmt man es aber für das, was es sein will: für einen Essay über „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur” – womit „kurz” nicht mehr als Eigenschaft von Schlaffers Büchlein, sondern der Geschichte selbst steht – sieht die Sache anders aus, und wird damit überhaupt erst zu einer, die eines mehr als fachwissenschaftlich internen Streites wert ist.
Schlaffers Essay hat zwei zentrale Themen. Beim einen geht es um die Problematisierung und Revision des Bildes, das in der Germanistik von der Geschichte der deutschen Literatur entworfen wird; bei dem anderen um die Frage nach der Eigenart, dem spezifisch Deutschen der deutschen Literatur in ihrer Geschichte. Schlaffer erkundet beides als „Bildungs”-Geschichte: Er fragt, wie sie sich und was sich in ihr gebildet habe. „Das Gedächtnis der Gebildeten”, als der Ort, wo diese Literatur ihr aktuelles Dasein hat, kommt auch noch hinzu.
Viel geforscht, wenig gelesen
Zum ersten Thema: Schlaffers Rede über die Geschichte der deutschen Literatur ist nicht auf den Bestand dessen gerichtet, was es faktisch an deutschsprachiger Literatur gibt, nicht auf die Summe aller literarischen Dokumente vom Althochdeutschen bis in die Gegenwart. Er befragt diese Geschichte nach dem Traditionszusammenhang, der kontinuierlich und ‚lebendig‘ da ist für die Sprachnation und bei Dichtern und Lesern sich ständig aktualisiert. Aus diesem Aspekt ergibt sich seine Scheidung einer so verstandenen Überlieferungsgeschichte von dem in der Germanistik entworfenen Geschichtsbild. Für die Philologie ist die deutsche Literatur lückenlos ‚da‘ von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Aber hat sie dieses Da-Sein je auch außerhalb der Bibliotheken und nicht nur bei den wissenschaftlichen Spezialisten und in deren akademischem Unterricht gehabt? Hat sie sich im Geschichtsverlauf bis ins 18. Jahrhundert je anders dargestellt als diskontinuierlich, mit immer wiederholten Abbrüchen ihrer Entwicklung, mit dem Erlöschen der memoria? Schlaffer setzt dagegen das „literarische Gedächtnis der Gebildeten”, von dem über die Wirklichkeit der deutschen Literatur und ihrer Geschichte entschieden werde – womit er freilich eine Instanz ins Spiel bringt, mit deren Zustand es fortschreitend bis zum heutigen Tag immer weniger gut aussieht. Dass ihm selbst ihre problematische Existenz, wenigstens unterschwellig, bewusst ist, deutet sich gelegentlich an: „Viel wird geforscht, wenig gelesen.” Und der von resignierter Ironie getönte Schlusssatz seines Buches erklärt, dasselbe sei so kurz, damit dem Leser Zeit bleibe, sich wieder der Lektüre der deutschen Literatur zuzuwenden.
So auf anderen Grund gestellt, kommt die Geschichte der deutschen Literatur in Schlaffers Entwurf – man erinnert sich dabei an das Diktum Hofmannsthals, wir hätten Goethe und Ansätze – zu dieser tatsächlichen Gestalt: „ihr langes Verweilen in einem Zustand der Latenz, der unverhoffte Aufbruch im 18. Jahrhundert, der erste Höhepunkt 1770-1830, die Stagnation im 19. Jahrhundert, der zweite Höhepunkt 1900-1950”. (Die seitdem geschriebene Literatur wird aufgehoben in einem lapidaren: „und schließlich ihr Ende”). Schlaffer arbeitet mit Argumenten, die von der Historiographie längst anerkannt sind, wenn er die Genese unserer ‚klassischen‘ Dichtung aus protestantisch-pietistischem Geist vorstellt, aus dem sie ihre Eigentümlichkeit gegenüber den anderen europäischen Literaturen und zugleich ihren ebenbürtigen Rang gewinnt. Mosebachs süffisante Bemerkung, die Betonung dieser religiösen Prägung erfolge nur, „um die widersprüchliche Ungreifbarkeit deutscher Literatur doch noch in den Kasten der Kategorie zu zwängen”, und sein Verweis auf den gleichfalls religiösen Charakter spanischer, französischer, russischer Werke, schmecken nach der Methode, den Unterschied zwischen Äpfeln und Aprikosen für unwesentlich zu erklären, weil es sich beidemale um Baumfrüchte handle.
Die Rede von der „widersprüchlichen Ungreifbarkeit” ist eine Weisheit, mit der man allem menschlichen Tun und Treiben begegnen kann; sollte sie der Weisheit letzter Schluss sein, täte man gut daran, überhaupt und einfürallemale den Mund zu halten. Schlaffer macht sich – und damit sind wir bei seinen zweiten Thema – gerade das zum Problem: was denn das Deutsche an der deutschen Literatur sei. Darin ist sein Buch eine Art von „Unzeitgemäßer Betrachtung”, mit der er der so heikel gewordenen Frage nicht aus dem Weg geht, was die deutsche Identität – in diesem Fall: die unserer Literatur – markiere. Er denkt darüber nach, was es denn mit der Qualität „Tiefe” auf sich habe, und sein Nachdenken bleibt dabei ganz und gar ‚sachlich‘. Er kommt ohne ironischen Vorbehalt aus und verliert sich dabei weder in der Nacht „widersprüchlicher Ungreifbarkeit”, in der alle Katzen grau sind, noch in einer Spekulation über Volksseele und nationales „Wesen”. Es ist „die Bildungsgeschichte kulturellen Elite”, aus der er das eigentümlich Deutsche unserer Literatur herleitet.
Bürger in verlassener Gegend
Liest man das Büchlein als Essay, als Versuch, als (Gedanken- )Experiment, dann wird man auch das – gelegentlich auf der Hand liegende – Problematische mancher Thesen goutieren und bedenkenswert finden können. Auch das Diskutable darin ist diskussionswürdig. Und selbstverständlich diskutabel sind eine Reihe der Prämissen, die unausgesprochen den Schlüssen vorausgehen, zu denen Schlaffer kommt. Ulrich Raulff hat ihn einen „Klassizisten” genannt, der in sich einen Savonarola berge (SZ vom 26. Februar). „Savonarola” geht ein wenig weit, weder errichtet Schlaffer selbst Scheiterhaufen, noch werden seine Fachkollegen ihn auf einem solchen verbrennen wollen. Aber der „Klassizist” ist in gewissen seiner Urteile über literarische Werke, ja Epochen nicht zu verkennen. Damit steht in Verbindung, dass er an dem festhält, was man einen ‚emphatischen‘ Dichtungsbegriff nennen mag, und dass er Literaturgeschichte als Dichtungsgeschichte vorstellt – was so quer läuft zu fast allen aktuellen Tendenzen seiner Wissenschaft seit mehr als drei Jahrzehnten, dass es vielleicht schon wieder als innovativer Schub gelten kann.
Und um noch einmal vom Echo zu sprechen, das Schlaffers Büchlein gefunden hat: Kommt es am Ende, über seine spezifische Thematik hinaus, nicht auch dadurch zustande, dass da einem die Frage nicht gleichgültig ist, wie das akademische Bildungswissen mit der Lebenswelt außerhalb der Akademien sich berührt und vermittelt? Was das öffentliche Interesse erregt hat, mag der ‚rücksichtslose‘ Blick sein, mit dem ein Repräsentant dieses Bildungswissens dasselbe einer Prüfung unterzieht. Und last but not least wäre auch von dem Vergnügen zu sprechen, das die Lektüre dieses Büchleins bereitet: von der luziden, scharf konturierenden, suggestiven Sprache des Autors, und jener Art abgehobener Beteiligtheit, die sich in ihr ausdrückt.
An keiner Stelle erklärt er sich darüber, und ist doch gegenwärtig im Sinne des mea res agitur – so dass auch der Leser sich dazu gebracht findet, in der Sache seine eigene zu erkennen. Man spricht als Deutscher nicht über das Deutsche unserer Literatur, ohne von sich selbst dabei zu sprechen. Gelegentlich seiner Bemerkungen über die in der deutschen Lieddichtung des 19. Jahrhunderts auffallende „Vergesellschaftung der Einsamkeit”, und im Anschluss an eines der Lieder aus der „Winterreise”, schreibt Schlaffer: „Zum deutschen Bürgertum gehört, wer die Verse einer unbürgerlichen Existenz in verlassenen Gegenden kennt und als Ausdruck seiner innersten Wahrheit empfindet.” Haben wir mit diesem deutschen Bürgertum nichts mehr zu tun? Georges Satz, den Max Kommerell zum Motto seines großen Jean-Paul-Buches gemacht hat – „Sind sie nicht alle etwas von unserem Fleische: seine Wesen, in denen wir nur die kämpfenden und sich versöhnenden Teile der eigenen Seele sehen...?” –, wäre dazu die passende Überlegung.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Zur Verteidigung Heinz Schlaffers / Von Kurt Wölfel
Germanistik ist eine akademische Disziplin, von der man nicht sagen kann, dass die Produkte ihres Fleißes bei den öffentlichen Medien einen bemerkenswert hohen Grad von Aufmerksamkeit zu erregen pflegen. Wenn das nun von Heinz Schlaffers „Die kleine Geschichte der deutschen Literatur” bewirkt worden ist, liegt die Vermutung nahe, da könne es sich nicht um einen bloß fachwissenschaftlichen Diskurs handeln, oder gar der Verdacht, es verbinde sich damit wohl etwas Skandalöses.
Mit Heinz Schlaffers „Kurzer Geschichte der deutschen Literatur” (Hanser Verlag) beginnt die überfällige Selbstrevision der Geisteswissenschaften, so die Botschaft einer Rezension, mit der wir dieses Buch am Tag seines Erscheinens (SZ vom 26. Februar) begrüßten. „Wann hat es zum letzten Mal ein so hochmütiges und angriffslustiges Buch gegeben, über das sich mit intelligenten Leuten so trefflich streiten ließe?” Der Streit begann mit dem Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach, der Heinz Schlaffer vorwarf, „fragwürdige Thesen” zu vertreten und sein Leben als Germanist an einen Gegenstand verschwendet zu haben, den er nicht schätze. Auf ihn antwortet nun Kurt Wölfel, emeritierter Ordinarius für Literatur an der Universität Bonn.
SZ
Mit der Vermutung hat es seine Richtigkeit; denn Schlaffers Buch, wenn nicht eher Büchlein, stellt nicht nur provokative und radikale, d. h. an die Wurzeln gehende Fragen wissenschaftsinterne Übereinkünfte der Germanistik betreffend, es ist darin die Existenz und Existenzweise deutscher Literatur in ihrer Geschichte überhaupt zum Problem gemacht. Aber auch jener Verdacht geht nicht ganz fehl: Wie sehr einer das Büchlein als ärgerlich und anstößig empfinden kann, zeigte Martin Mosebachs Polemik (SZ vom 5.März) so drastisch, dass man sich nicht wundern würde, darin gar den Vorwurf der Nestbeschmutzung zu finden. Das Nest: die deutsche Literatur und die Darstellung ihrer Geschichte. Die Beschmutzung: verübt von einem Autor, der doch zu den Bewohnern dieses Nestes gehört. Nach der Lektüre von Mosebachs Kritik könnte man den Eindruck haben, Schlaffer habe, fahrlässig bis frivol, eine Denunziation der deutschen Literatur geschrieben, sie ‚kurz und klein‘ geschlagen. Man könnte freilich auch das Gegenteil behaupten und etwas paradox sagen, dass mittels dieses Verkleinerungsgeschäfts umso eigentümlicher hervortrete, inwiefern unsere Literatur (welche) Größe hat. Man könnte das Büchlein als eine Liebeserklärung malgré lui lesen, ja gar, will man den Spaß etwas weit treiben, darin das ferne Echo eines Preisgesangs vernehmen, von der Art etwa wie sie Hans Sachs am Ende von Wagners „Meistersingern” anstimmt; denn um das, was als „deutsch und wahr” gelten darf, geht es darin in der Tat.
Liest man, wie Mosebach, Schlaffers Büchlein als eine „kurze Geschichte der deutschen Literatur”, als Konkurrenzunternehmen à la „Reader’s Digest” zu den meist mehrbändigen Literaturgeschichten, dann mag die Lektüre allerdings zu einem Weg über lauter Stolpersteine werden. Nimmt man es aber für das, was es sein will: für einen Essay über „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur” – womit „kurz” nicht mehr als Eigenschaft von Schlaffers Büchlein, sondern der Geschichte selbst steht – sieht die Sache anders aus, und wird damit überhaupt erst zu einer, die eines mehr als fachwissenschaftlich internen Streites wert ist.
Schlaffers Essay hat zwei zentrale Themen. Beim einen geht es um die Problematisierung und Revision des Bildes, das in der Germanistik von der Geschichte der deutschen Literatur entworfen wird; bei dem anderen um die Frage nach der Eigenart, dem spezifisch Deutschen der deutschen Literatur in ihrer Geschichte. Schlaffer erkundet beides als „Bildungs”-Geschichte: Er fragt, wie sie sich und was sich in ihr gebildet habe. „Das Gedächtnis der Gebildeten”, als der Ort, wo diese Literatur ihr aktuelles Dasein hat, kommt auch noch hinzu.
Viel geforscht, wenig gelesen
Zum ersten Thema: Schlaffers Rede über die Geschichte der deutschen Literatur ist nicht auf den Bestand dessen gerichtet, was es faktisch an deutschsprachiger Literatur gibt, nicht auf die Summe aller literarischen Dokumente vom Althochdeutschen bis in die Gegenwart. Er befragt diese Geschichte nach dem Traditionszusammenhang, der kontinuierlich und ‚lebendig‘ da ist für die Sprachnation und bei Dichtern und Lesern sich ständig aktualisiert. Aus diesem Aspekt ergibt sich seine Scheidung einer so verstandenen Überlieferungsgeschichte von dem in der Germanistik entworfenen Geschichtsbild. Für die Philologie ist die deutsche Literatur lückenlos ‚da‘ von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Aber hat sie dieses Da-Sein je auch außerhalb der Bibliotheken und nicht nur bei den wissenschaftlichen Spezialisten und in deren akademischem Unterricht gehabt? Hat sie sich im Geschichtsverlauf bis ins 18. Jahrhundert je anders dargestellt als diskontinuierlich, mit immer wiederholten Abbrüchen ihrer Entwicklung, mit dem Erlöschen der memoria? Schlaffer setzt dagegen das „literarische Gedächtnis der Gebildeten”, von dem über die Wirklichkeit der deutschen Literatur und ihrer Geschichte entschieden werde – womit er freilich eine Instanz ins Spiel bringt, mit deren Zustand es fortschreitend bis zum heutigen Tag immer weniger gut aussieht. Dass ihm selbst ihre problematische Existenz, wenigstens unterschwellig, bewusst ist, deutet sich gelegentlich an: „Viel wird geforscht, wenig gelesen.” Und der von resignierter Ironie getönte Schlusssatz seines Buches erklärt, dasselbe sei so kurz, damit dem Leser Zeit bleibe, sich wieder der Lektüre der deutschen Literatur zuzuwenden.
So auf anderen Grund gestellt, kommt die Geschichte der deutschen Literatur in Schlaffers Entwurf – man erinnert sich dabei an das Diktum Hofmannsthals, wir hätten Goethe und Ansätze – zu dieser tatsächlichen Gestalt: „ihr langes Verweilen in einem Zustand der Latenz, der unverhoffte Aufbruch im 18. Jahrhundert, der erste Höhepunkt 1770-1830, die Stagnation im 19. Jahrhundert, der zweite Höhepunkt 1900-1950”. (Die seitdem geschriebene Literatur wird aufgehoben in einem lapidaren: „und schließlich ihr Ende”). Schlaffer arbeitet mit Argumenten, die von der Historiographie längst anerkannt sind, wenn er die Genese unserer ‚klassischen‘ Dichtung aus protestantisch-pietistischem Geist vorstellt, aus dem sie ihre Eigentümlichkeit gegenüber den anderen europäischen Literaturen und zugleich ihren ebenbürtigen Rang gewinnt. Mosebachs süffisante Bemerkung, die Betonung dieser religiösen Prägung erfolge nur, „um die widersprüchliche Ungreifbarkeit deutscher Literatur doch noch in den Kasten der Kategorie zu zwängen”, und sein Verweis auf den gleichfalls religiösen Charakter spanischer, französischer, russischer Werke, schmecken nach der Methode, den Unterschied zwischen Äpfeln und Aprikosen für unwesentlich zu erklären, weil es sich beidemale um Baumfrüchte handle.
Die Rede von der „widersprüchlichen Ungreifbarkeit” ist eine Weisheit, mit der man allem menschlichen Tun und Treiben begegnen kann; sollte sie der Weisheit letzter Schluss sein, täte man gut daran, überhaupt und einfürallemale den Mund zu halten. Schlaffer macht sich – und damit sind wir bei seinen zweiten Thema – gerade das zum Problem: was denn das Deutsche an der deutschen Literatur sei. Darin ist sein Buch eine Art von „Unzeitgemäßer Betrachtung”, mit der er der so heikel gewordenen Frage nicht aus dem Weg geht, was die deutsche Identität – in diesem Fall: die unserer Literatur – markiere. Er denkt darüber nach, was es denn mit der Qualität „Tiefe” auf sich habe, und sein Nachdenken bleibt dabei ganz und gar ‚sachlich‘. Er kommt ohne ironischen Vorbehalt aus und verliert sich dabei weder in der Nacht „widersprüchlicher Ungreifbarkeit”, in der alle Katzen grau sind, noch in einer Spekulation über Volksseele und nationales „Wesen”. Es ist „die Bildungsgeschichte kulturellen Elite”, aus der er das eigentümlich Deutsche unserer Literatur herleitet.
Bürger in verlassener Gegend
Liest man das Büchlein als Essay, als Versuch, als (Gedanken- )Experiment, dann wird man auch das – gelegentlich auf der Hand liegende – Problematische mancher Thesen goutieren und bedenkenswert finden können. Auch das Diskutable darin ist diskussionswürdig. Und selbstverständlich diskutabel sind eine Reihe der Prämissen, die unausgesprochen den Schlüssen vorausgehen, zu denen Schlaffer kommt. Ulrich Raulff hat ihn einen „Klassizisten” genannt, der in sich einen Savonarola berge (SZ vom 26. Februar). „Savonarola” geht ein wenig weit, weder errichtet Schlaffer selbst Scheiterhaufen, noch werden seine Fachkollegen ihn auf einem solchen verbrennen wollen. Aber der „Klassizist” ist in gewissen seiner Urteile über literarische Werke, ja Epochen nicht zu verkennen. Damit steht in Verbindung, dass er an dem festhält, was man einen ‚emphatischen‘ Dichtungsbegriff nennen mag, und dass er Literaturgeschichte als Dichtungsgeschichte vorstellt – was so quer läuft zu fast allen aktuellen Tendenzen seiner Wissenschaft seit mehr als drei Jahrzehnten, dass es vielleicht schon wieder als innovativer Schub gelten kann.
Und um noch einmal vom Echo zu sprechen, das Schlaffers Büchlein gefunden hat: Kommt es am Ende, über seine spezifische Thematik hinaus, nicht auch dadurch zustande, dass da einem die Frage nicht gleichgültig ist, wie das akademische Bildungswissen mit der Lebenswelt außerhalb der Akademien sich berührt und vermittelt? Was das öffentliche Interesse erregt hat, mag der ‚rücksichtslose‘ Blick sein, mit dem ein Repräsentant dieses Bildungswissens dasselbe einer Prüfung unterzieht. Und last but not least wäre auch von dem Vergnügen zu sprechen, das die Lektüre dieses Büchleins bereitet: von der luziden, scharf konturierenden, suggestiven Sprache des Autors, und jener Art abgehobener Beteiligtheit, die sich in ihr ausdrückt.
An keiner Stelle erklärt er sich darüber, und ist doch gegenwärtig im Sinne des mea res agitur – so dass auch der Leser sich dazu gebracht findet, in der Sache seine eigene zu erkennen. Man spricht als Deutscher nicht über das Deutsche unserer Literatur, ohne von sich selbst dabei zu sprechen. Gelegentlich seiner Bemerkungen über die in der deutschen Lieddichtung des 19. Jahrhunderts auffallende „Vergesellschaftung der Einsamkeit”, und im Anschluss an eines der Lieder aus der „Winterreise”, schreibt Schlaffer: „Zum deutschen Bürgertum gehört, wer die Verse einer unbürgerlichen Existenz in verlassenen Gegenden kennt und als Ausdruck seiner innersten Wahrheit empfindet.” Haben wir mit diesem deutschen Bürgertum nichts mehr zu tun? Georges Satz, den Max Kommerell zum Motto seines großen Jean-Paul-Buches gemacht hat – „Sind sie nicht alle etwas von unserem Fleische: seine Wesen, in denen wir nur die kämpfenden und sich versöhnenden Teile der eigenen Seele sehen...?” –, wäre dazu die passende Überlegung.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Was wir brauchen? Pietistische Pfarrerssöhne!
Einstürzende Altbauten, Abriß der Moderne: Heinz Schlaffers Literaturgeschichte / Von Hans-Jürgen Schings
Womöglich haben wir einen neuen Faust. Sein "Habe nun, ach!" richtet sich auf die Geschichte der deutschen Literatur. Der Germanistikprofessor Heinz Schlaffer blickt zurück auf zwölfhundert Jahre und stellt fest: Eigentlich zählen da nur die von 1770 bis 1830 und die von 1900 bis 1950. Danach ist Schluß, davor gibt es nur Kauderwelsch, formalistischen Pomp oder eine künstlich hergerichtete, "germanistische" Literaturgeschichte. Anders als sein Vorgänger verzweifelt dieser Faust nicht, er evaluiert. Und die Evaluation ist denkbar erfolgreich: Über eintausend Jahre können eingespart werden. Das Ressentiment, stets zur Stelle, wenn es der Germanistik eins auszuwischen gilt, jauchzte reklamewirksam auf, ehe das Büchlein überhaupt auf den Markt kam.
Das Unternehmen "Kurzer Prozeß" versteckt sich hinter dem listigen Titel "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur". Ohne den bestimmten Artikel hätte nun tatsächlich so etwas wie eine Literaturgeschichte geschrieben werden müssen. Das kann mühsam sein. Hier dagegen handelt es sich um einen Essay über die Kürze der deutschen Literatur, der aus diesem Befund gleich auch das Privileg der eigenen Kürze zieht und die eingesparte Mühe in die "Anstrengung, besonders zu sein" (Wilhelm Grimm), investiert. Das Resultat ist aufgeräumte Kurzweiligkeit, ein Feuerwerk an Pointen, das den amüsierten Leser gleich auch auf Gutgläubigkeit einstimmt. Da prasselt es: "Die Ausgrabungen der Germanisten sind lediglich Umbettungen: von den Bibliotheken . . . wieder zurück in die ewige Ruhe der Bibliotheken - unter Umgehung der Leser." "Viel wird geforscht, wenig gelesen." "In Deutschland hat die Mitwelt meistens die falschen Bücher gelesen." "Man liest gerne etwas über das Mittelalter . . ., doch nicht gerne etwas aus dem Mittelalter." Bis zum Schlußsatz: "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, daß dem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt." Zuvor allerdings wird er sich fragen, ob er, trotz der verlockenden Sparangebote, mehr als eine Sammlung von Aperçus gelesen hat.
Immerhin erfährt man, was deutsche Literatur ausmacht: umgewandelte religiöse, christliche Energie. Was also benötigt sie zu ihrer Entstehung? Nicht zu wenige protestantische Pfarrersöhne als personales und soziales Substrat, viel Pietismus als umformbare religiöse und sprachliche Masse und eine gehörige Portion Aufklärung, möglichst von der radikalen Sorte, die die Energietransformation, sprich Säkularisation, erzwingt. Daß diese Konstellation für die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts fruchtbar ist, haben Herbert Schöffler und Albrecht Schöne längst und im Detail gezeigt. Zwar fehlt ausgerechnet Goethe das Merkmal Pfarrersohn, doch macht das sein "Werther" mehr als wett; er enthält für Schlaffer die ganze Geschichte der deutschen Literatur, mit Vergangenheit und Zukunft, von der Passionsangleichung bis zum Abschied vom Christentum, bis zum ketzerisch neuen "Evangelium der Natur, der Kunst, der Liebe".
Was diesem Evangelium gehorcht, bildet monumental die große deutsche Literatur der klassisch-romantischen Periode; was nie von ihm gehört hat, findet seinen Platz allenfalls in den Werkstätten der germanistischen Literaturgeschichte, die der "gebildete Leser", Schlaffers Lieblingsinstanz, getrost meidet. Unversehens wird aus der einzigartigen literarhistorischen Lage der Werther-Zeit ein normatives Modell, wird aus dem Andersartigen das Abartige. Besonders hart trifft es dabei den Zeitraum vom vierzehnten bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, die frühe Neuzeit: Er ist schlechterdings "unbedeutend" und könnte fehlen, ohne daß sonderlich Schaden entstünde. Auffällig ist der vorwurfsvolle Ton, den Schlaffer anschlägt, als hätten fehlende Leser, das schwache nachmittelalterliche Gedächtnis, die Kämpfe der Reformation und der Dreißigjährige Krieg, rückständige Autoren und vor allem seine Berufskollegen ihn persönlich gekränkt. Indigniert weicht er deshalb vor allem zurück, was Curtius selbst in der Germanistik eingebürgert hatte. Es geht wieder ohne die lateinische Tradition, das Neulateinische, die Rhetorik, den Manierismus. Nur ein paar Kirchenlieder und Grimmelshausen können sich in die Arche der deutschen Literatur retten. Statt "Barock" (Achtung, der Name ist ein Täuschungsmanöver) sollte man "Formalismus" sagen (wo hat man das zuletzt gehört?), um das "versäumte siebzehnte Jahrhundert" (Helmuth Plessner) vollends zu eliminieren.
Über eigene Lektüren berichtet die "Kurze Geschichte" ungern, wohl aber hat sie Phantasien über "denkbare" Dichtung in trostloser Zeit parat. Gibt es doch selbst im Mittelalter "religiöse Züge" und "frommen Ernst", vor allem aber, und dies in der Volkssprache, mystische Spiritualität. Da deutet sich immerhin der deutsch-pietistisch-literarische Komplex an, gar eine Tradition, was ausnahmsweise auch belegt wird: "So erscheint 1703 im Umkreis des Hallenser Pietisten Spener eine Ausgabe von Taulers Predigten." Wackliger kann kein literarhistorischer Satz daherkommen - nichts stimmt: weder die Jahreszahl noch der "Umkreis", noch der Hallenser Spener. Ein Pietismus-Kenner scheint unser Theoretiker des literaturstiftenden Pietismus nicht zu sein. Dafür weiß er, wie man aus der Mystik Meister Eckharts hätte Literatur machen können: "durch die ironische Brechung der Bilder, durch eine ästhetische Reflexion auf die Kunstmittel, durch die Zerstörung literarischer Erwartungen, durch das Aussprechen von Ideen in Begriffen" und so fort, also durch russischen Formalismus, Goethesche Symbolik und moderne Ausdruckskunst.
Im Fluge ist dieser Literarhistoriker dann nicht bei den mystischen Literaten des siebzehnten Jahrhunderts, sondern bei Jean Pauls bekanntem Wort von dem durch das Christentum bewirkten Einsturz der äußeren Welt in die innere und der Folgerung, daß es nur noch "des Einsturzes der christlichen Welt" bedurfte, "damit ihre poetischen Möglichkeiten uneingeschränkt dem poetischen Geist zur Verfügung stehen konnten". Eher wecken die beiden Seiten, auf denen dies alles geschieht, die Furcht vor dem einstürzenden Neubau der "Kurzen Geschichte". Kein Wunder, daß deren Liaison mit dem Pietismus auch später skurrile Züge annimmt. Da sie sich paradigmatisch auf die Metaphorik des Wassers beruft, gilt: Wo Wasser ist, da ist auch säkularisierter Pietismus, und mithin: "Kommt unter den Dichtern seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das Schwimmen in Mode, so hat daran die mystische Metapher des Wassers ebenso mitgewirkt wie das Bedürfnis, lyrische Wörter im Leben zu bewahrheiten." Und wie steht es, mit Verlaub, mit dem Schlittschuhlaufen?
Man sollte annehmen, daß nach dem endlich "geglückten Anfang" um 1770 bessere Zeiten aufziehen. Doch nachdem das Buch sein vormodernes Kürzungsprogramm erledigt hat, macht sich ein anderes Genre der Kürze geltend, die Kurzatmigkeit. Rasch gleiten jetzt die üblichen Topoi vorbei: stürmisch-drängende Jugendlichkeit und Studentenherrlichkeit (in diese Rubrik gehört Faust), Seelenausdruck und Genie, Innerlichkeit und deutsche Tiefe (vom romantischen Bergbau bis zu Freuds Archäologie und zur Hermeneutik), Antikensehnsucht, Klassik (die es freilich nie gegeben habe), Autonomie (auch sie eine Illusion, die nur die "dubiose Vorgeschichte" der entlaufenen Pfarrersöhne verdeckt). Fahrt nimmt der Essay erst wieder auf, wenn er der neuen Kunstreligion die Überschreitung ihres "Zuständigkeitsbereichs" ankreiden kann. "Die unsterbliche Poesie" - wird deshalb also in der deutschen Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts so "viel geschwebt"? Die "Verstrickung" der "von Hause aus protestantischen Romantik in eine katholische Mythologie" paßt sowenig in den Thesenrahmen, daß sie auf wenigen Zeilen abgetan wird. Nein, wirklich zufrieden ist die "Kurze Geschichte" auch mit ihrer Blütezeit nicht.
Das neunzehnte Jahrhundert ist die karge Zeit der Epigonen - da bleiben nur Keller und Fontane und, als eigentliches Zentrum, Büchner und Marx; Schopenhauer und Nietzsche werden durch Nichtbeachtung gestraft. Um so plötzlicher erfolgt der neue Aufstieg, der "Auftritt der Moderne", mit katholischen und jüdischen Autoren. Jetzt muß die Säkularisationsthese zaubern, damit sich eine genaue Analogie zum ersten Erfolgsschub zeigt, und sie tut es: die modernen Autoren, gleich welcher Provenienz, katholisch zurückgeblieben nach Art bayerischer Bauernsöhne oder assimiliert und bildungsbeflissen wie die jüdischen Eliten, treten kurzerhand zum "literarischen Protestantismus" über, landen also mit ihren religiösen Restenergien dort, wo die deutsche Literatur nun einmal hingehört. Sie bevorzugen das Thema Untergang, was aber nichts anderes besagt, als daß sich "die große deutsche Vergangenheit" nicht "in die Gegenwart" retten läßt. Die Katastrophe der Juden beendet die "klassische Moderne" - ab 1950 kommt eigentlich, abgesehen vielleicht von ein paar sektiererischen Außenseitern, einseitigen Formexperimentierern und besonderen Schützlingen der Germanistik (wie Paul Celan), nichts mehr. Den Autoren in West und Ost wird ausgerechnet ihr "Protestantismus" zum Verhängnis, der Status des Bußpredigers, der immer "für das Gute" ist, die politische Korrektheit, die eine "Freiheit des poetischen Zynismus" verbietet. Unwirsch und freudlos klingt die "Kurze Geschichte" aus. Sie entledigt sich ihres Gegenstandes, um gerade noch zur Lektüre ihrer selbst einzuladen. So fügt sie der nicht immer glücklichen Geschichte der deutschen Literatur ein weiteres kleines Malheur hinzu, eine germanistische Fußnote allerdings nur. Und gewiß eine kurze.
Heinz Schlaffer: "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur". Hanser Verlag, München und Wien 2002. 158 S., geb., 12,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einstürzende Altbauten, Abriß der Moderne: Heinz Schlaffers Literaturgeschichte / Von Hans-Jürgen Schings
Womöglich haben wir einen neuen Faust. Sein "Habe nun, ach!" richtet sich auf die Geschichte der deutschen Literatur. Der Germanistikprofessor Heinz Schlaffer blickt zurück auf zwölfhundert Jahre und stellt fest: Eigentlich zählen da nur die von 1770 bis 1830 und die von 1900 bis 1950. Danach ist Schluß, davor gibt es nur Kauderwelsch, formalistischen Pomp oder eine künstlich hergerichtete, "germanistische" Literaturgeschichte. Anders als sein Vorgänger verzweifelt dieser Faust nicht, er evaluiert. Und die Evaluation ist denkbar erfolgreich: Über eintausend Jahre können eingespart werden. Das Ressentiment, stets zur Stelle, wenn es der Germanistik eins auszuwischen gilt, jauchzte reklamewirksam auf, ehe das Büchlein überhaupt auf den Markt kam.
Das Unternehmen "Kurzer Prozeß" versteckt sich hinter dem listigen Titel "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur". Ohne den bestimmten Artikel hätte nun tatsächlich so etwas wie eine Literaturgeschichte geschrieben werden müssen. Das kann mühsam sein. Hier dagegen handelt es sich um einen Essay über die Kürze der deutschen Literatur, der aus diesem Befund gleich auch das Privileg der eigenen Kürze zieht und die eingesparte Mühe in die "Anstrengung, besonders zu sein" (Wilhelm Grimm), investiert. Das Resultat ist aufgeräumte Kurzweiligkeit, ein Feuerwerk an Pointen, das den amüsierten Leser gleich auch auf Gutgläubigkeit einstimmt. Da prasselt es: "Die Ausgrabungen der Germanisten sind lediglich Umbettungen: von den Bibliotheken . . . wieder zurück in die ewige Ruhe der Bibliotheken - unter Umgehung der Leser." "Viel wird geforscht, wenig gelesen." "In Deutschland hat die Mitwelt meistens die falschen Bücher gelesen." "Man liest gerne etwas über das Mittelalter . . ., doch nicht gerne etwas aus dem Mittelalter." Bis zum Schlußsatz: "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, daß dem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt." Zuvor allerdings wird er sich fragen, ob er, trotz der verlockenden Sparangebote, mehr als eine Sammlung von Aperçus gelesen hat.
Immerhin erfährt man, was deutsche Literatur ausmacht: umgewandelte religiöse, christliche Energie. Was also benötigt sie zu ihrer Entstehung? Nicht zu wenige protestantische Pfarrersöhne als personales und soziales Substrat, viel Pietismus als umformbare religiöse und sprachliche Masse und eine gehörige Portion Aufklärung, möglichst von der radikalen Sorte, die die Energietransformation, sprich Säkularisation, erzwingt. Daß diese Konstellation für die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts fruchtbar ist, haben Herbert Schöffler und Albrecht Schöne längst und im Detail gezeigt. Zwar fehlt ausgerechnet Goethe das Merkmal Pfarrersohn, doch macht das sein "Werther" mehr als wett; er enthält für Schlaffer die ganze Geschichte der deutschen Literatur, mit Vergangenheit und Zukunft, von der Passionsangleichung bis zum Abschied vom Christentum, bis zum ketzerisch neuen "Evangelium der Natur, der Kunst, der Liebe".
Was diesem Evangelium gehorcht, bildet monumental die große deutsche Literatur der klassisch-romantischen Periode; was nie von ihm gehört hat, findet seinen Platz allenfalls in den Werkstätten der germanistischen Literaturgeschichte, die der "gebildete Leser", Schlaffers Lieblingsinstanz, getrost meidet. Unversehens wird aus der einzigartigen literarhistorischen Lage der Werther-Zeit ein normatives Modell, wird aus dem Andersartigen das Abartige. Besonders hart trifft es dabei den Zeitraum vom vierzehnten bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, die frühe Neuzeit: Er ist schlechterdings "unbedeutend" und könnte fehlen, ohne daß sonderlich Schaden entstünde. Auffällig ist der vorwurfsvolle Ton, den Schlaffer anschlägt, als hätten fehlende Leser, das schwache nachmittelalterliche Gedächtnis, die Kämpfe der Reformation und der Dreißigjährige Krieg, rückständige Autoren und vor allem seine Berufskollegen ihn persönlich gekränkt. Indigniert weicht er deshalb vor allem zurück, was Curtius selbst in der Germanistik eingebürgert hatte. Es geht wieder ohne die lateinische Tradition, das Neulateinische, die Rhetorik, den Manierismus. Nur ein paar Kirchenlieder und Grimmelshausen können sich in die Arche der deutschen Literatur retten. Statt "Barock" (Achtung, der Name ist ein Täuschungsmanöver) sollte man "Formalismus" sagen (wo hat man das zuletzt gehört?), um das "versäumte siebzehnte Jahrhundert" (Helmuth Plessner) vollends zu eliminieren.
Über eigene Lektüren berichtet die "Kurze Geschichte" ungern, wohl aber hat sie Phantasien über "denkbare" Dichtung in trostloser Zeit parat. Gibt es doch selbst im Mittelalter "religiöse Züge" und "frommen Ernst", vor allem aber, und dies in der Volkssprache, mystische Spiritualität. Da deutet sich immerhin der deutsch-pietistisch-literarische Komplex an, gar eine Tradition, was ausnahmsweise auch belegt wird: "So erscheint 1703 im Umkreis des Hallenser Pietisten Spener eine Ausgabe von Taulers Predigten." Wackliger kann kein literarhistorischer Satz daherkommen - nichts stimmt: weder die Jahreszahl noch der "Umkreis", noch der Hallenser Spener. Ein Pietismus-Kenner scheint unser Theoretiker des literaturstiftenden Pietismus nicht zu sein. Dafür weiß er, wie man aus der Mystik Meister Eckharts hätte Literatur machen können: "durch die ironische Brechung der Bilder, durch eine ästhetische Reflexion auf die Kunstmittel, durch die Zerstörung literarischer Erwartungen, durch das Aussprechen von Ideen in Begriffen" und so fort, also durch russischen Formalismus, Goethesche Symbolik und moderne Ausdruckskunst.
Im Fluge ist dieser Literarhistoriker dann nicht bei den mystischen Literaten des siebzehnten Jahrhunderts, sondern bei Jean Pauls bekanntem Wort von dem durch das Christentum bewirkten Einsturz der äußeren Welt in die innere und der Folgerung, daß es nur noch "des Einsturzes der christlichen Welt" bedurfte, "damit ihre poetischen Möglichkeiten uneingeschränkt dem poetischen Geist zur Verfügung stehen konnten". Eher wecken die beiden Seiten, auf denen dies alles geschieht, die Furcht vor dem einstürzenden Neubau der "Kurzen Geschichte". Kein Wunder, daß deren Liaison mit dem Pietismus auch später skurrile Züge annimmt. Da sie sich paradigmatisch auf die Metaphorik des Wassers beruft, gilt: Wo Wasser ist, da ist auch säkularisierter Pietismus, und mithin: "Kommt unter den Dichtern seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das Schwimmen in Mode, so hat daran die mystische Metapher des Wassers ebenso mitgewirkt wie das Bedürfnis, lyrische Wörter im Leben zu bewahrheiten." Und wie steht es, mit Verlaub, mit dem Schlittschuhlaufen?
Man sollte annehmen, daß nach dem endlich "geglückten Anfang" um 1770 bessere Zeiten aufziehen. Doch nachdem das Buch sein vormodernes Kürzungsprogramm erledigt hat, macht sich ein anderes Genre der Kürze geltend, die Kurzatmigkeit. Rasch gleiten jetzt die üblichen Topoi vorbei: stürmisch-drängende Jugendlichkeit und Studentenherrlichkeit (in diese Rubrik gehört Faust), Seelenausdruck und Genie, Innerlichkeit und deutsche Tiefe (vom romantischen Bergbau bis zu Freuds Archäologie und zur Hermeneutik), Antikensehnsucht, Klassik (die es freilich nie gegeben habe), Autonomie (auch sie eine Illusion, die nur die "dubiose Vorgeschichte" der entlaufenen Pfarrersöhne verdeckt). Fahrt nimmt der Essay erst wieder auf, wenn er der neuen Kunstreligion die Überschreitung ihres "Zuständigkeitsbereichs" ankreiden kann. "Die unsterbliche Poesie" - wird deshalb also in der deutschen Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts so "viel geschwebt"? Die "Verstrickung" der "von Hause aus protestantischen Romantik in eine katholische Mythologie" paßt sowenig in den Thesenrahmen, daß sie auf wenigen Zeilen abgetan wird. Nein, wirklich zufrieden ist die "Kurze Geschichte" auch mit ihrer Blütezeit nicht.
Das neunzehnte Jahrhundert ist die karge Zeit der Epigonen - da bleiben nur Keller und Fontane und, als eigentliches Zentrum, Büchner und Marx; Schopenhauer und Nietzsche werden durch Nichtbeachtung gestraft. Um so plötzlicher erfolgt der neue Aufstieg, der "Auftritt der Moderne", mit katholischen und jüdischen Autoren. Jetzt muß die Säkularisationsthese zaubern, damit sich eine genaue Analogie zum ersten Erfolgsschub zeigt, und sie tut es: die modernen Autoren, gleich welcher Provenienz, katholisch zurückgeblieben nach Art bayerischer Bauernsöhne oder assimiliert und bildungsbeflissen wie die jüdischen Eliten, treten kurzerhand zum "literarischen Protestantismus" über, landen also mit ihren religiösen Restenergien dort, wo die deutsche Literatur nun einmal hingehört. Sie bevorzugen das Thema Untergang, was aber nichts anderes besagt, als daß sich "die große deutsche Vergangenheit" nicht "in die Gegenwart" retten läßt. Die Katastrophe der Juden beendet die "klassische Moderne" - ab 1950 kommt eigentlich, abgesehen vielleicht von ein paar sektiererischen Außenseitern, einseitigen Formexperimentierern und besonderen Schützlingen der Germanistik (wie Paul Celan), nichts mehr. Den Autoren in West und Ost wird ausgerechnet ihr "Protestantismus" zum Verhängnis, der Status des Bußpredigers, der immer "für das Gute" ist, die politische Korrektheit, die eine "Freiheit des poetischen Zynismus" verbietet. Unwirsch und freudlos klingt die "Kurze Geschichte" aus. Sie entledigt sich ihres Gegenstandes, um gerade noch zur Lektüre ihrer selbst einzuladen. So fügt sie der nicht immer glücklichen Geschichte der deutschen Literatur ein weiteres kleines Malheur hinzu, eine germanistische Fußnote allerdings nur. Und gewiß eine kurze.
Heinz Schlaffer: "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur". Hanser Verlag, München und Wien 2002. 158 S., geb., 12,90
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"Wann ist zum letzten Mal so kenntnisreich und klar, mit derart federnder Eleganz, Literaturgeschichte geschrieben worden? ...Denn dieses Buch ist ein Ereignis - in der Literaturgeschichte und weit darüber hinaus."
Ulrich Raulff, Süddeutsche Zeitung, 26.02.02
"Schlaffer schreibt kenntnisreich, polemisch und provokativ, übrigens auch sehr anschaulich und unterhaltsam: Über diese "kurze Geschichte" können Experten und interessierte Laien lang und produktiv streiten, und das ist mehr, als man von den meisten Konkurrenzunternehmungen sagen kann."
Martin Halter, Tages- Anzeiger Zürich, 8.3.02
Ulrich Raulff, Süddeutsche Zeitung, 26.02.02
"Schlaffer schreibt kenntnisreich, polemisch und provokativ, übrigens auch sehr anschaulich und unterhaltsam: Über diese "kurze Geschichte" können Experten und interessierte Laien lang und produktiv streiten, und das ist mehr, als man von den meisten Konkurrenzunternehmungen sagen kann."
Martin Halter, Tages- Anzeiger Zürich, 8.3.02
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Polemisch schreibt der Autor. Das zumindest will Hanno Helbling den Kritikern des Buches zugestehen. Die These von der "Nationalphilologie", die eine Nationalliteratur erfunden hat, meint der Rezensent, vertritt Schlaffer gleichwohl "beneidenswert brillant". Dabei kommt es Helbling offenbar weniger auf die durchgängige Tragfähigkeit der These an ("Auch Schlaffer führt die Tendenz zur Systematisierung in die Nähe der historischen Erfindung") als vielmehr darauf, dass die von Schlaffer unterstellten "Bruchstellen" im philologisch postulierten Kontinuum der Literaturgeschichte dann und wann immerhin deutlich werden und das Buch dank seiner Kürze und der vom Autor eingestreuten "unzähligen Apercus" "nie langweilig" wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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