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Was ist deutsch an der deutschen Literatur? Gibt es tatsächlich eine kontinuierliche deutsche Literaturgeschichte vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart? Heinz Schlaffer geht diesen Fragen nach und kommt zu überraschenden Ergebnissen.
Erst von 1750 an - lange nach den klassischen Epochen der italienischen, französischen oder englischen Literatur - gibt es in Deutschland Werke, die zur Weltliteratur zählen. Als späte Auswirkung der Sprache der Mystik, der Reformation Luthers und der Aufklärung entsteht die Literatur der klassisch-romantischen Epoche - eine Blütezeit von rund achtzig Jahren,…mehr

Produktbeschreibung
Was ist deutsch an der deutschen Literatur? Gibt es tatsächlich eine kontinuierliche deutsche Literaturgeschichte vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart? Heinz Schlaffer geht diesen Fragen nach und kommt zu überraschenden Ergebnissen.

Erst von 1750 an - lange nach den klassischen Epochen der italienischen, französischen oder englischen Literatur - gibt es in Deutschland Werke, die zur Weltliteratur zählen. Als späte Auswirkung der Sprache der Mystik, der Reformation Luthers und der Aufklärung entsteht die Literatur der klassisch-romantischen Epoche - eine Blütezeit von rund achtzig Jahren, gefolgt von einer zweiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hauptgrund für diesen verspäteten Eintritt in die Weltliteratur ist, dass in Deutschland »das Mittelalter nicht enden wollte«.

Provokant, geistreich und stilistisch brillant vermittelt Schlaffer gänzlich neue Einsichten in die Geschichte der deutschen Literatur, die die bisherigen Erkenntnisse der Germanistikgehörig auf den Kopf stellen.
Autorenporträt
Schlaffer, Heinz
Heinz Schlaffer, geboren 1939, war bis zu seiner Emeritierung (2004) Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. 2007 erschien sein Buch 'Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen'. 2008 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis für Essayistik. Bei dtv ist lieferbar: 'Die kurze Geschichte der deutschen Literatur' (34022).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.03.2002

Fromme Enttäuschung
Heinz Schlaffer kürzt die deutsche Poesie / Von Martin Mosebach
Hundertfünfzig Seiten kurz ist diese „Kleine Geschichte der deutschen Literatur”. Ein Kunststück sei es nicht gewesen, sich so knapp zu fassen, versichert der Autor. Mit Hohn blickt er auf die vielbändigen Literaturgeschichten. „Getretner Quark / wird breit, nicht stark”, könnte Schlaffer angesichts solcher Anstrengungen zitieren. Ein Quark ist ihm der größte Teil der deutschen Literatur. Gerade die achtzig Jahre von Goethes Lebenszeit halten für ihn einer genaueren Betrachtung stand. Davor tappten die deutschen Dichter tausend Jahre im Nebel und danach ging es schnell bergab. Für das Jahr 1950 verkündet der Gelehrte „das Ende der deutschen Literatur”. Ist das die Analyse eines wagemutigen Provokateurs oder des Wiedergängers einer „Goethe, Schiller, Lessing / Ludendorff aus Messing”– Germanistik?
Mit Heinz Schlaffers „Kleiner Geschichte der deutschen Literatur” (Hanser Verlag) beginnt die überfällige Selbstrevision der Geisteswissenschaften, so die Botschaft einer Rezension, mit der wir dieses Buch am Tag seines Erscheinens (SZvom 26. Februar) begrüßten: „Wann hat es zum letzten Mal ein so hochmütiges und angriffslustiges Buch gegeben, über das sich mit intelligenten Leuten so trefflich streiten ließe?” Der Streit ist da: mit einer Polemik des Frankfurter Schriftstellers Martin Mosebach.
In Geschichte und Politik gibt es einen Gemeinplatz, wenn die Ursachen des deutschen Unglücks erwogen werden: „die verspätete Nation”. Dies Wort betrachtet die Geschichte wie ein Hunderennen; der lahme Köter, der als letzter durchs eindeutig festgelegte Ziel schleicht, ist gegenüber dem Sieger zweifellos „verspätet”. Wer ist der Sieger der europäischen Geschichte? Sie beginnt mit dem Untergang Roms, dem eine nicht abreißende Kette von Untergängen folgt: nicht nur Staufer, Spanier und die napoleonischen Franzosen gingen unter, sondern auch die dänischen, schwedischen, portugiesischen, böhmischen, holländischen und polnischen Großreiche. Als man Deutschland als „verspätet” zu empfinden begann, stand der souveräne Nationalstaat hoch im Kurs. Von ihrer Souveränität befreien sich die europäischen Nationalstaaten soeben; was als neues politisches Gebilde heranwächst, hat sein Vorbild in dem einstmals rückschrittlichsten Staatenverbund, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. In der Geschichte vertauschen die Ersten und die Letzten unablässig die Plätze – wer das fragwürdige Geschäft der Prophetie betreiben möchte, der richte sein Augenmerk stets auf die am weitesten abgeschlagene Partei.
So gering der Ertrag der Vorstellung einer „Verspätung von Nationen” im Historischen ist, so absurd muss er im Ästhetischen sein. Schlaffer selbst weist den Gedanken eines „Fortschritts” im Reich der Literatur zwar von sich, spricht aber dennoch in vielfacher Wiederholung von der „Verspätung der deutschen Literatur”. Als die Italiener schon ihren Dante, als die Spanier schon ihren Cervantes hatten, da war kein deutscher Dante, kein deutscher Cervantes in Sicht. Wo blieb der deutsche Shakespeare? Gemeinsam mit dem russischen, dem französischen und dem spanischen Shakespeare verharrte er saumselig im Reich der unverwirklichten Möglichkeiten. Als Engländer und Franzosen im 19. Jahrhundert emsig Gesellschaftsromane schrieben, vermochten ihnen die Deutschen auch darin nicht das Wasser zu reichen. Dafür schrieb Adalbert Stifter – es gehört zu den Vorzügen der Schlafferschen Literaturgeschichte, dass sie sich weigert, zwischen der deutschen und der österreichischen Literatur eine Grenze zu ziehen – in dieser Zeit einen Roman, der nicht seinesgleichen hat: den „Witiko”. Was Heimito von Doderer „roman muet” genannt hat, das Epos mit „dem Erzähltempo Null”, ist hier ein weiteres Mal verwirklicht worden, das erste Mal erschien dieser immer noch nicht verstandene Romantypus in Gestalt von „Wilhelm Meisters Wanderjahren”. Die Bedeutung dieser Werke ist Schlaffer nicht bekannt: herablassend schreibt er von „den Stifters und Mörikes und Eichendorffs” – allein dieser Plural sollte ein gerichtliches Nachspiel haben. Allein, die Schlaffers – hier passt der Plural – wollten gern bei der Pointe bleiben, dass nach 1830 in Deutschland nichts Rechtes mehr kam.
Die alte Leier
Schlaffer vertritt eine solche Fülle fragwürdiger Thesen, dass es nicht möglich ist, auch nur auf die Hälfte davon einzugehen. Aus der Tatsache, dass die mittelhochdeutsche Literatur wenig gelesen wird, leitet er das Recht ab, Nibelungenlied, Parzifal und Tristan „nur zum Vorrat, nicht aber zum Bestand der deutschen Literatur” zu zählen. Gelesen Werden und Wirken sind aber verschiedene Sachverhalte. Die große Literatur zeichnet sich überall auf der Welt dadurch aus, dass sie in die Seelen auch jener einsickert, die selten ein Buch aufschlagen. Parzifal ist ein typisch deutscher Held geworden. Von Tristan zu Werther führt eine ungebrochne Genealogie. Wagners Opern haben erreicht, dass die ganze Welt sich mit den mittelhochdeutschen Stoffen vertraut gemacht hat; und Wagner ist, was Schlaffer nicht erwähnt, mindestens ebenso ein Phänomen der Literatur wie der Musik. Tadelnd bemerkt Schlaffer, der deutsche Minnesang habe seine Motive von den Franzosen; die hinwiederum lernten aber bei den Arabern, und die haben das hohe Frauenlob wahrscheinlich auch nicht erfunden. Literatur besteht in Europa aus einem Weiterreichen von Formen und Stoffen, die sich an jeder Station verändern.
Wenn Schlaffer auf die Barockliteratur zu sprechen kommt, verstummt sein Ehrgeiz, neu und herausfordernd zu sein. Da dreht er die alte Leier von „leerem Formalismus, ödem Prunk, gestelzter Unnatur”, als habe Albrecht Schönes große Barock-Anthologie ein breites Publikum nicht längst eines Besseren belehrt. Kann es eine deutsche Literaturgeschichte geben, die Fischarts „Geschichtsklitterung”, die deutsche Antwort auf Rabelais, nicht einmal nennt? Das ist eine rhetorische Frage, sie wird in ähnlicher Form noch öfter gestellt werden müssen.
Gerade nach 1950 – nach Schlaffers „Ende der deutschen Literatur” allerdings – haben viele Dichter „konkrete”, abstrakte, formalistische und Nonsens-Poesie nach barockem Vorbild geschrieben. Da wäre es für eine Literaturgeschichte ein leicht zu erringendes Verdienst, dem Publikum etwa das Genie eines Quirinus Kuhlmann und seines „Kühlpsalters” nahezubringen, die kühnsten Expeditionen in die körperlosen Regionen des Lichtes, die in deutscher Sprache möglich sind. Und dabei entspräche Kuhlmann vorzüglich der Theorie Schlaffers, die deutsche Literatur sei durch religiöse Prägung bestimmt, anders als alle anderen Nationalliteraturen stamme die deutsche nahezu ausschließlich aus religiösen Wurzeln.
Wieder eine schöne These, um die widersprüchliche Ungreifbarkeit deutscher Literatur doch noch in den Kasten der Kategorie zu zwängen. Gibt es eine religiösere Literatur als die spanische des Siglo d’ oro? Vielleicht die französische des ganz von Port Royal beherrschten grand siècle. Und was war die Antriebskraft der russischen Romanciers?
Eine eigentümliche Omerta
Die zentrale Gestalt in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die wie eine Linse alles Vorhergehende zusammenfasst und in neuer Farbigkeit in die Zukunft strahlt, der Anti-Aufklärer Johann Georg Hamann, wird von Schlaffer fast überhaupt nicht erwähnt. Hamann, der für die Deutschen Rabelais, Cervantes und Sterne entdeckt hat, ist die Schlüsselfigur zum Verständnis Goethes und Jean Pauls, Herders und Heideggers. Was kann eine Literaturgeschichte über die deutsche Klassik sagen, wenn sie Hamann übersieht? Statt dessen zerbricht sich Schlaffer darüber den Kopf, was aus der deutschen Literatur geworden wäre, „wenn Brentano nicht fromm geworden wäre”, und wiederholt damit eines der übelsten Klischees der preußischen Germanistik. Die Frucht der Brentano’schen Frömmigkeit, die vielbändigen Visionen der Anna Katharina Emmerich, müssen ihm deshalb entgehen – dabei ist vielleicht niemals besser deutsch geschrieben worden.
Aber nicht nur die enigmatischen Werke mag Schlaffer nicht, auch die wenigen deutschen Bücher, die sich der Welt erschlossen haben, sucht man bei ihm vergebens. Seine Literaturgeschichte ist sich für den Weltbestseller „Struwwelpeter” zu fein, der ein exquisites Sprachkunstwerk ist, und die „Kinder- und Hausmärchen” der Gebrüder Grimm findet er vernachlässigenswert. Das Wörterbuch der Brüder Grimm, das den Versuch unternimmt, der deutschen Literatur aller Jahrhunderte die Hoheit über die Sprache zuzuweisen und die frühe Bindung der deutschen Sprache an das Latein zu bestätigen, ist ihm keiner Erwähnung wert. Die Rolle des Lateins als Mutter der deutschen Sprache ist ihm ohnehin verborgen geblieben. Ebenso wenig mag er sich mit der bedeutenden Dialektdichtung befassen, Hebels Alemannisch, Runges und Reuters Mecklenburger Platt bleiben ausgespart. Schopenhauer und Nietzsche gelten längst als Autoren der Deutschen Literatur, nicht bloß als „Philosophen” – aber wenn man sie besprochen hätte, dann wäre die schöne These vom kläglichen Abfall in Gefahr geraten.
Für das 20. Jahrhundert stellt Schlaffer einen sehr interessanten Gedanken vor: der wichtigere Teil der Literatur sei nun von den katholischen und jüdischen Autoren aus der Habsburger Monarchie geschrieben worden – gleichzeitig mit dem Erstarken der lateinamerikanischen Literatur, die ja gleichfalls aus Habsburgischer Einflusssphäre stammt. Die Vermutung, dass die katholische Welt vormoderne Erfahrungen in fruchtbarer Spannung zur Moderne ermögliche, sollte auch dann erwogen werden, wenn man im Gedächtnis behält, dass Wien vor dem Ersten Weltkrieg eine hochmoderne Stadt war. Warum aber nennt Schlaffer nicht den bedeutendsten Epiker, den Wien hervorgebracht hat? Heimito von Doderers Werk ist in seiner Unerschöpflichkeit bis heute nicht wirklich rezipiert worden; es gehört zu der eigentümlichen Omerta, die diesen Autor umgibt, dass sogar eine Literaturgeschichte, die das Gewicht Österreichs im 20. Jahrhundert herausstellt, seinen Namen verschweigt. Was vermag eine Literaturgeschichte über die neuere deutsche Literatur auszusagen, wenn sie Doderer nicht berücksichtigt? Dies soll die letzte rhetorische Frage an dieses Buch sein. Gereizt und bitter klingt Schlaffers Stimme,wenn er von der deutschen Literatur spricht. Eine tiefe Enttäuschung macht sich in seinem kleinen, aber leidenschaftlichen Werk Luft. Mit trotzigem Freimut bekennt er sich darin zur „radikalen Aufklärung”. Einer solchen „radikalen Aufklärung” sind in der deutschen Literatur aber beinahe ausschließlich Geister zweiten Ranges zuzurechnen. Das erklärt vielleicht Schlaffers Frustration als Germanist. Es mag ihm mit der Germanistik gehen wie Prousts Monsieur Swann mit seiner einstigen Liebe Odette, als er erkennt, dass er seine ganze Leidenschaft für eine Frau verschwendet hat, „die nicht sein Genre war”.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Was wir brauchen? Pietistische Pfarrerssöhne!
Einstürzende Altbauten, Abriß der Moderne: Heinz Schlaffers Literaturgeschichte / Von Hans-Jürgen Schings

Womöglich haben wir einen neuen Faust. Sein "Habe nun, ach!" richtet sich auf die Geschichte der deutschen Literatur. Der Germanistikprofessor Heinz Schlaffer blickt zurück auf zwölfhundert Jahre und stellt fest: Eigentlich zählen da nur die von 1770 bis 1830 und die von 1900 bis 1950. Danach ist Schluß, davor gibt es nur Kauderwelsch, formalistischen Pomp oder eine künstlich hergerichtete, "germanistische" Literaturgeschichte. Anders als sein Vorgänger verzweifelt dieser Faust nicht, er evaluiert. Und die Evaluation ist denkbar erfolgreich: Über eintausend Jahre können eingespart werden. Das Ressentiment, stets zur Stelle, wenn es der Germanistik eins auszuwischen gilt, jauchzte reklamewirksam auf, ehe das Büchlein überhaupt auf den Markt kam.

Das Unternehmen "Kurzer Prozeß" versteckt sich hinter dem listigen Titel "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur". Ohne den bestimmten Artikel hätte nun tatsächlich so etwas wie eine Literaturgeschichte geschrieben werden müssen. Das kann mühsam sein. Hier dagegen handelt es sich um einen Essay über die Kürze der deutschen Literatur, der aus diesem Befund gleich auch das Privileg der eigenen Kürze zieht und die eingesparte Mühe in die "Anstrengung, besonders zu sein" (Wilhelm Grimm), investiert. Das Resultat ist aufgeräumte Kurzweiligkeit, ein Feuerwerk an Pointen, das den amüsierten Leser gleich auch auf Gutgläubigkeit einstimmt. Da prasselt es: "Die Ausgrabungen der Germanisten sind lediglich Umbettungen: von den Bibliotheken . . . wieder zurück in die ewige Ruhe der Bibliotheken - unter Umgehung der Leser." "Viel wird geforscht, wenig gelesen." "In Deutschland hat die Mitwelt meistens die falschen Bücher gelesen." "Man liest gerne etwas über das Mittelalter . . ., doch nicht gerne etwas aus dem Mittelalter." Bis zum Schlußsatz: "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, daß dem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt." Zuvor allerdings wird er sich fragen, ob er, trotz der verlockenden Sparangebote, mehr als eine Sammlung von Aperçus gelesen hat.

Immerhin erfährt man, was deutsche Literatur ausmacht: umgewandelte religiöse, christliche Energie. Was also benötigt sie zu ihrer Entstehung? Nicht zu wenige protestantische Pfarrersöhne als personales und soziales Substrat, viel Pietismus als umformbare religiöse und sprachliche Masse und eine gehörige Portion Aufklärung, möglichst von der radikalen Sorte, die die Energietransformation, sprich Säkularisation, erzwingt. Daß diese Konstellation für die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts fruchtbar ist, haben Herbert Schöffler und Albrecht Schöne längst und im Detail gezeigt. Zwar fehlt ausgerechnet Goethe das Merkmal Pfarrersohn, doch macht das sein "Werther" mehr als wett; er enthält für Schlaffer die ganze Geschichte der deutschen Literatur, mit Vergangenheit und Zukunft, von der Passionsangleichung bis zum Abschied vom Christentum, bis zum ketzerisch neuen "Evangelium der Natur, der Kunst, der Liebe".

Was diesem Evangelium gehorcht, bildet monumental die große deutsche Literatur der klassisch-romantischen Periode; was nie von ihm gehört hat, findet seinen Platz allenfalls in den Werkstätten der germanistischen Literaturgeschichte, die der "gebildete Leser", Schlaffers Lieblingsinstanz, getrost meidet. Unversehens wird aus der einzigartigen literarhistorischen Lage der Werther-Zeit ein normatives Modell, wird aus dem Andersartigen das Abartige. Besonders hart trifft es dabei den Zeitraum vom vierzehnten bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, die frühe Neuzeit: Er ist schlechterdings "unbedeutend" und könnte fehlen, ohne daß sonderlich Schaden entstünde. Auffällig ist der vorwurfsvolle Ton, den Schlaffer anschlägt, als hätten fehlende Leser, das schwache nachmittelalterliche Gedächtnis, die Kämpfe der Reformation und der Dreißigjährige Krieg, rückständige Autoren und vor allem seine Berufskollegen ihn persönlich gekränkt. Indigniert weicht er deshalb vor allem zurück, was Curtius selbst in der Germanistik eingebürgert hatte. Es geht wieder ohne die lateinische Tradition, das Neulateinische, die Rhetorik, den Manierismus. Nur ein paar Kirchenlieder und Grimmelshausen können sich in die Arche der deutschen Literatur retten. Statt "Barock" (Achtung, der Name ist ein Täuschungsmanöver) sollte man "Formalismus" sagen (wo hat man das zuletzt gehört?), um das "versäumte siebzehnte Jahrhundert" (Helmuth Plessner) vollends zu eliminieren.

Über eigene Lektüren berichtet die "Kurze Geschichte" ungern, wohl aber hat sie Phantasien über "denkbare" Dichtung in trostloser Zeit parat. Gibt es doch selbst im Mittelalter "religiöse Züge" und "frommen Ernst", vor allem aber, und dies in der Volkssprache, mystische Spiritualität. Da deutet sich immerhin der deutsch-pietistisch-literarische Komplex an, gar eine Tradition, was ausnahmsweise auch belegt wird: "So erscheint 1703 im Umkreis des Hallenser Pietisten Spener eine Ausgabe von Taulers Predigten." Wackliger kann kein literarhistorischer Satz daherkommen - nichts stimmt: weder die Jahreszahl noch der "Umkreis", noch der Hallenser Spener. Ein Pietismus-Kenner scheint unser Theoretiker des literaturstiftenden Pietismus nicht zu sein. Dafür weiß er, wie man aus der Mystik Meister Eckharts hätte Literatur machen können: "durch die ironische Brechung der Bilder, durch eine ästhetische Reflexion auf die Kunstmittel, durch die Zerstörung literarischer Erwartungen, durch das Aussprechen von Ideen in Begriffen" und so fort, also durch russischen Formalismus, Goethesche Symbolik und moderne Ausdruckskunst.

Im Fluge ist dieser Literarhistoriker dann nicht bei den mystischen Literaten des siebzehnten Jahrhunderts, sondern bei Jean Pauls bekanntem Wort von dem durch das Christentum bewirkten Einsturz der äußeren Welt in die innere und der Folgerung, daß es nur noch "des Einsturzes der christlichen Welt" bedurfte, "damit ihre poetischen Möglichkeiten uneingeschränkt dem poetischen Geist zur Verfügung stehen konnten". Eher wecken die beiden Seiten, auf denen dies alles geschieht, die Furcht vor dem einstürzenden Neubau der "Kurzen Geschichte". Kein Wunder, daß deren Liaison mit dem Pietismus auch später skurrile Züge annimmt. Da sie sich paradigmatisch auf die Metaphorik des Wassers beruft, gilt: Wo Wasser ist, da ist auch säkularisierter Pietismus, und mithin: "Kommt unter den Dichtern seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das Schwimmen in Mode, so hat daran die mystische Metapher des Wassers ebenso mitgewirkt wie das Bedürfnis, lyrische Wörter im Leben zu bewahrheiten." Und wie steht es, mit Verlaub, mit dem Schlittschuhlaufen?

Man sollte annehmen, daß nach dem endlich "geglückten Anfang" um 1770 bessere Zeiten aufziehen. Doch nachdem das Buch sein vormodernes Kürzungsprogramm erledigt hat, macht sich ein anderes Genre der Kürze geltend, die Kurzatmigkeit. Rasch gleiten jetzt die üblichen Topoi vorbei: stürmisch-drängende Jugendlichkeit und Studentenherrlichkeit (in diese Rubrik gehört Faust), Seelenausdruck und Genie, Innerlichkeit und deutsche Tiefe (vom romantischen Bergbau bis zu Freuds Archäologie und zur Hermeneutik), Antikensehnsucht, Klassik (die es freilich nie gegeben habe), Autonomie (auch sie eine Illusion, die nur die "dubiose Vorgeschichte" der entlaufenen Pfarrersöhne verdeckt). Fahrt nimmt der Essay erst wieder auf, wenn er der neuen Kunstreligion die Überschreitung ihres "Zuständigkeitsbereichs" ankreiden kann. "Die unsterbliche Poesie" - wird deshalb also in der deutschen Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts so "viel geschwebt"? Die "Verstrickung" der "von Hause aus protestantischen Romantik in eine katholische Mythologie" paßt sowenig in den Thesenrahmen, daß sie auf wenigen Zeilen abgetan wird. Nein, wirklich zufrieden ist die "Kurze Geschichte" auch mit ihrer Blütezeit nicht.

Das neunzehnte Jahrhundert ist die karge Zeit der Epigonen - da bleiben nur Keller und Fontane und, als eigentliches Zentrum, Büchner und Marx; Schopenhauer und Nietzsche werden durch Nichtbeachtung gestraft. Um so plötzlicher erfolgt der neue Aufstieg, der "Auftritt der Moderne", mit katholischen und jüdischen Autoren. Jetzt muß die Säkularisationsthese zaubern, damit sich eine genaue Analogie zum ersten Erfolgsschub zeigt, und sie tut es: die modernen Autoren, gleich welcher Provenienz, katholisch zurückgeblieben nach Art bayerischer Bauernsöhne oder assimiliert und bildungsbeflissen wie die jüdischen Eliten, treten kurzerhand zum "literarischen Protestantismus" über, landen also mit ihren religiösen Restenergien dort, wo die deutsche Literatur nun einmal hingehört. Sie bevorzugen das Thema Untergang, was aber nichts anderes besagt, als daß sich "die große deutsche Vergangenheit" nicht "in die Gegenwart" retten läßt. Die Katastrophe der Juden beendet die "klassische Moderne" - ab 1950 kommt eigentlich, abgesehen vielleicht von ein paar sektiererischen Außenseitern, einseitigen Formexperimentierern und besonderen Schützlingen der Germanistik (wie Paul Celan), nichts mehr. Den Autoren in West und Ost wird ausgerechnet ihr "Protestantismus" zum Verhängnis, der Status des Bußpredigers, der immer "für das Gute" ist, die politische Korrektheit, die eine "Freiheit des poetischen Zynismus" verbietet. Unwirsch und freudlos klingt die "Kurze Geschichte" aus. Sie entledigt sich ihres Gegenstandes, um gerade noch zur Lektüre ihrer selbst einzuladen. So fügt sie der nicht immer glücklichen Geschichte der deutschen Literatur ein weiteres kleines Malheur hinzu, eine germanistische Fußnote allerdings nur. Und gewiß eine kurze.

Heinz Schlaffer: "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur". Hanser Verlag, München und Wien 2002. 158 S., geb., 12,90 .

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"So elegant er in seiner Polemik den Einmann-Abbruchunternehmer spielt, so nüchtern er klarstellt, dass mit dem Verdämmern der Klassiker auch das Ende echter Belesenheit gekommen sein dürfte: Im Grunde hängt Schlaffer viel zu sehr an der großen Literatur, als dass er auf sie verzichten könnte. Sein brillantes Büchlein, als cool-nostalgische 'Flaschenpost' in den Strom der Zeit geworfen, zeigt es auf jeder Seite - zwischen den Zeilen: Eigentlich, ganz eigentlich hätte Heinz Schlaffer wohl am liebsten Unrecht." DER SPIEGEL

"Es singen die Wasser im Schlafe noch fort, wohl wahr, aber man sollte sie ruhig hin und wieder mal aufwecken. Heinz Schlaffer hat es getan. Er hat es kurz und gut gemacht. Er lässt uns, indem er unsere Aufmerksamkeit dankenswerterweise nicht mit einem Tausend-Seiten-Opus okkupiert, sondern uns ein leicht verdauliches amuse-gueule zuwirft, Zeit, sie uns zurückzuerobern, jene deutsche Literatur der inneren Dringlichkeit, die auch für diejenigen, die meinen, auf sie verzichten zu können, bereit hält, in der Fülle des Wohllauts, was wir uns insgeheim alle wünschen: Freiheit und Glück." DIE WELT

"Lässig schwingt Schlaffer das Stöckchen des geübten Causeurs, und seine zarten, gut gezielten Streiche treffen germanistische Traditionen wie Gepflogenheiten des bürgerlichen Theaterbesuches, die spezifische Untergangsverliebtheit deutschsprachiger Avantgarde wie die Dauerbereitschaft zum Sprachverbot und das Gewürge ums 'Deutschsein'." Stuttgarter Zeitung

"Mit der Respektlosigkeit des klarsichtigen Forschers beschreibt Schlaffer eine Geschichte von Fremdeinflüssen und verlorenen Anfängen, von Abbrüchen und Neuanfängen, von einer diffusen langen Vorgeschichte und einem ersten Höhepunkt auf Weltliteraturniveau um 1770 bis 1830, gefolgt von einer kurzen 'Nachgeschichte' mit einem erneuten Höhepunkt von 1900 bis 1950, und dann, behauptet Schlaffer, war Schluss. Eine 'kurze Geschichte' eben. ... Wirkungsvoll genug: das Deutsche an der deutschen Literatur ist für einmal gedacht worden." Cord Barkhausen in der 'ZEIT'

"Die Betonung liegt auf deutsch, und deutsch ist die Verbindung von Pietismus und Antike, wie sie in der Klassik zum Ausdruck kam. In einer nachholenden Bewegung wurde so die deutsche Literatur, die zuvor nur eine schwächliche Nachahmung fremder Muster zustande gebracht hatte, zur Weltliteratur. Zwar hat Schlaffer leichte Probleme, die katholischen Romantiker und jüdischen Österreicher seiner Definition unterzuordnen, aber der glänzend geschriebene Essay hat den Vorzug, aus einer unhaltbaren These haltbare Einsichten zu gewinnen." Ulrich Greiner in der 'ZEIT'

"Erst jetzt, nachdem einer der großen Philologen im Lande gegen den antiquarischen Geist seines Faches zu Felde gezogen ist, erkennen wir, wie staubtrocken und schwach die historisch-philologischen Disziplinen geworden sind. Und bitten jetzt, der polemische Essayist, der den Staub der Germanistik aufwirbelt, möge Nachahmer in anderen Fächern finden. Man stelle sich vor: ein Buch wie dieses aus der Mitte der Historie oder der Philosophie - nicht auszudenken, das Glück." Ulrich Raulff in der 'Süddeutschen Zeitung'

"Mit trotzigem Freimut bekennt Schlaffer sich zur 'radikalen Aufklärung'. Einer solchen sind in der deutschen Literatur aber beinahe ausschließlich Geister zweiten Ranges zuzurechnen. Das erklärt vielleicht Schlaffers Frustration als Germanist. Es mag ihm mit der Germanistik gehen wie Prousts Monsieur Swann mit seiner einstigen Liebe Odette, als er erkennt, dass er seine ganze Leidenschaft für eine Frau verschwendet hat, 'die nicht sein Genre war'." Martin Mosebach in der 'Süddeutschen Zeitung'
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"Wann ist zum letzten Mal so kenntnisreich und klar, mit derart federnder Eleganz, Literaturgeschichte geschrieben worden? ...Denn dieses Buch ist ein Ereignis - in der Literaturgeschichte und weit darüber hinaus."
Ulrich Raulff, Süddeutsche Zeitung, 26.02.02

"Schlaffer schreibt kenntnisreich, polemisch und provokativ, übrigens auch sehr anschaulich und unterhaltsam: Über diese "kurze Geschichte" können Experten und interessierte Laien lang und produktiv streiten, und das ist mehr, als man von den meisten Konkurrenzunternehmungen sagen kann."
Martin Halter, Tages- Anzeiger Zürich, 8.3.02

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Polemisch schreibt der Autor. Das zumindest will Hanno Helbling den Kritikern des Buches zugestehen. Die These von der "Nationalphilologie", die eine Nationalliteratur erfunden hat, meint der Rezensent, vertritt Schlaffer gleichwohl "beneidenswert brillant". Dabei kommt es Helbling offenbar weniger auf die durchgängige Tragfähigkeit der These an ("Auch Schlaffer führt die Tendenz zur Systematisierung in die Nähe der historischen Erfindung") als vielmehr darauf, dass die von Schlaffer unterstellten "Bruchstellen" im philologisch postulierten Kontinuum der Literaturgeschichte dann und wann immerhin deutlich werden und das Buch dank seiner Kürze und der vom Autor eingestreuten "unzähligen Apercus" "nie langweilig" wird.

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