"Kennst Du jemanden, der glücklich ist? Der pure Freude darüber empfindet, zu genau diesem Zeitpunkt an genau diesem Ort zu sein?" Ob dieser Ort womöglich Albertas chaotische Küche ist, in der der etwas verwirrte Luca eben einen Topf Spaghettiwasser aufsetzt? Alberta jedenfalls war wenige Stunden zuvor Lucas Retterin gewesen, die ihn in ihrem verbeulten roten Kastenwagen vom Straßenrand aufgelesen hatte - nachdem er bei einem Reitunfall dramatisch gestürzt war. Dieser kurze Moment, in dem sein Leben in Gefahr war, öffnet Luca die Augen und verändert sein Bewusstsein unwiederbringlich. Was hält ihn eigentlich noch bei seiner langjährigen Freundin Anna, was ist aus seinen Aussteigerträumen geworden? Das Unbeschwerte und Authentische, das er sich vom Leben auf dem Lande erhofft hatte, ist bereits wieder so gleichförmig geworden. Intuitiv folgt Luca der Eingebung eines Augenblicks... Die Laune eines Augenblicks ist es, die das Leben von Luca in neue Bahnen lenkt. Ein dramatischer Sturz vom Pferd, die Begegnung mit einer ungewöhnlichen Frau - und von einem Moment auf den anderen weiß Luca: Er muß sein Leben ändern. Er verläßt seine Freundin Anna und den Reiterhof, um seiner Retterin Alberta zu folgen. Doch diese Begegnung verläuft völlig anders als erwartet
"Eine elegant erzählte Mixtur aus Lovestory und scharf beobachteter Studie über die Unmöglichkeit von Beziehungen." (Süddeutsche Zeitung)
"Eine elegant erzählte Mixtur aus Lovestory und scharf beobachteter Studie über die Unmöglichkeit von Beziehungen." (Süddeutsche Zeitung)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2002Barfuß am Meer
Viel Gefühl: Andrea De Carlos hedonistische Aventiurefahrt
Erfolg verpflichtet. Hat jemand, dessen erster Roman bereits zum Kultbuch einer Generation wurde, danach noch wirklich die Freiheit, zu schreiben, wie er will? Der 1952 geborene Andrea De Carlo hat von Anfang an Erfolg gehabt, und er ist ihm, so und so, treu geblieben: er den Erwartungen und das Publikum ihm. Dieser Erfolg hat Methode. Bereits sein Debüt mit "Cream-train" ("Treno di panna", 1981) hat gleichsam schon über das set-up der folgenden entschieden. Ein junger Mann in den Zwanzigern treibt durch Amerika, mittendrin und doch außen vor, und holt sich dabei den Weltschmerz der sechziger Jahre: daß das Dasein entfremdet ist, die Leute unecht, wandelnde Klischees aus Film und Fernsehen. Dieser Überdruß wird alle weiteren Geschichten grundieren. Er ist das notwendige Übel, das allen Helden das Recht gibt, aus den bestehenden Verhältnissen auszusteigen. Das ist ihre - Philosophie wäre zuviel gesagt - Lebensanimation. Denn da die Verhältnisse immer nur so sind, wie sie sind, machen sie auch den Ausstieg aus der Zivilisation jeder Zeit möglich und nötig. Die große Wohlstandsillusion, die De Carlo bewirtschaftet, rät deshalb von Zeit zu Zeit zu einer ideologischen Entschlackungskur: alles hinter sich zu lassen, die Gegenwart abzuschütteln, sich frei zu fühlen, ein neues Leben anzufangen.
Das Schöne (und Marktgängige) daran ist, daß keiner ernsthaft mit Risiken und Nebenwirkungen rechnen muß. Stets wird man von einem "alternativen" Jenseits bereits erwartet: von einer Hippie-Existenz mit Hasch-Pfeifen, freier Liebe und griechischen Inseln; von einem grünen Ökoidyll auf dem Lande, außerhalb des Industriekapitalismus; von Sekten und Gurus, die, nirgendwo anders als in "Peaceville", den Frieden und den anderen lieben; von zynischem "Schickeria-Überdruß", gegen den kein "Liebesbogen" Amors ankommt. De Carlos Romane sind stets auf der Höhe zeitgenössischer Lebensgefühle. Das ist seine Stärke und seine Kunst. Sensibel verzeichnet er ihre Trends und gibt ihnen eine Geschichte, in der kein markanter Reflex fehlt. Insofern scheint alles richtig, ja wahr, was er erzählt. Er legt es darauf an, daß der Leser sich wiedererkennt. Mit Erkenntnis hat dies allerdings wenig zu tun.
Eine Bedingung will allerdings erfüllt sein: Man muß das richtige Alter haben. De Carlo ist der Schriftsteller einer Generation, die etwa so alt ist wie er (oder sich so fühlt). Sein Erfolg beruht deshalb zugleich auf einer Art Fortsetzungsroman: Er begleitet diese Generation von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt und schreibt ihre Wunsch- und Gegenbilder zeitgemäß fort. Denn sobald der Reiz des Neuen (mit ihnen) gealtert ist, heißt es (wie im jüngsten Roman): "in Rekordzeit ein neues Leben beginnen". Es kommt jeweils aus demselben ideologischen Jungbrunnen. Wer 1970 etwa zwanzig war, so die Lebensregel, hat gelernt, sich sein Glück jeweils auf dem Rücken der Realität zu verschaffen. Nur in der pauschalen Auflehnung, im Protest und im Widerstand "gegen den Strom der Zeit" zeigt sich echtes, authentisches Leben. Dies weiß De Carlo gekonnt in Szene zu setzen. Aber so wohlfeil den Helden die Kritik an den Verhältnissen ist - ihre eigenen Ausflüchte bleiben davon unberührt.
Inzwischen ist De Carlo in zwanzig Jahren beim zehnten Roman und mit ihm bei den Vierzigjährigen angekommen. Welches sind ihre Lebensabschnittserwartungen? "Nel momento", gibt der italienische Titel zur Antwort. Der deutsche meint ihm mit "Die Laune eines Augenblicks" aufhelfen zu müssen. Dabei hat sich De Carlo bemüht, ernsthaft zu sein. Menschen dieses, seines Alters beginnen zu ahnen, daß die Zeit knapp werden könnte - die Zeit zum Glücklichwerden. Das ist das Lebensprojekt des Helden Luca, der nicht "erwachsen" sein will. Inzwischen ist er auf dem Sprung zur dritten existentiellen Runderneuerung. Zuvor hatte er abrupt Frau und Kind und einen Verleih anspruchsvoller Filme hinter sich gelassen, um mit Anna das Ökoglück zu finden, das früher, in "Zwei von Zwei" (deutsch 1991), bereits ausgemalt wurde. Daß es nicht gutgehen konnte, war zu befürchten. Mit "grünem Erbauungskitsch" (F.A.Z. vom 27. September 1991) ließ sich schon damals keine Welt außerhalb der Welt bauen. Jetzt, zu Beginn dieses Romans, hat auch diese Illusion abgewirtschaftet. Daraus ergibt sich das Folgethema: wie neu anfangen?
De Carlo vertraut auf Erfolgerprobtes. Luca, der Held, reitet aus, ein Ritter auf der Suche nach Aventiure. Das Pferd ist wild; er schlägt zu Boden. Das ist die Erweckung, auf die er dunkel gewartet hatte. Mit diesem "plötzlichen Sturz", wie es schon in "Cream-train" geheißen hatte, war er "ins Zentrum der Dinge gefallen". Den Umständen entsprechend, also schlagartig, geht ihm auf, daß er nicht mehr gelebt hat, sondern gelebt wurde. Der körperlich beschädigte, emotional aber befreite Held wird von Alberta - wahrhaftig Dea ex machina: sie kommt zufällig mit dem Auto vorbei - ins Krankenhaus gebracht. Er sieht sie wieder; seine erotischen Reflexe zeigen ihm, wo das Zentrum der Dinge ist.
Allerdings nicht sofort. Er besucht sie in Rom; sie hat gerade einen Selbstmordversuch hinter sich. An ihrer Seite aber ist, jung, attraktiv, vital, künstlerisch und blond, ihre Schwester Maria Chiara. Man ahnt sofort: sie ist es. Doch der Autor läßt sich 160 (von 265) Seiten Zeit, bis es soweit ist. Er nutzt den langen Anweg, um diese neue Liebe analytisch und sprachlich auszukosten. Tugenden und Laster dieses Schreibens eifern dabei um die Wette. Einerseits der narzißtisch sich selbst absuchende Blick, der gierig und doch genau jede innere Regung aufsaugt und protokolliert. Auch Maria Chiara bleibt weithin ein Prospekt seiner Bedürfnisse. Am meisten verrät ihn dabei seine Sprache. Statt wie bisher "in einem fremden Leben" herumzufahren, nun die Rückkehr in die Eigentlichkeit. Das sieht so aus: barfuß auf dem Sofa sitzen, am Meer ziellos spazierengehen, in abgelegenen Gasthäusern herzhaft essen, sich in einem Kombi wie Kinder balgen; im Gewitterregen naß regnen lassen und manch anderes in der Art von "Frühstück bei Tiffany": das Ganze angereichert mit einem Schuß latin lover. Das neue Ich hat eine Schwäche für gebrauchte literarische Kleidungsstücke.
Doch es bemüht sich, sie mit unkonventionellen Pailletten zu verzieren. De Carlo durchsetzt seine Beobachtungen fortlaufend mit Bildern, Vergleichen und tieferen Worten. Es ist, als ob das neue Gefühl auch die Sprache aus ihrer Verkrustung löst. "Fünf Jahre Landleben" hatten, sagt der sensible Held, "das Geflecht meiner städtischen Beziehungen zerfasert". Aber jetzt "rannten wir mit aller Kraft, die in unseren Beinen steckte, weiter, liefen um die Wette mit der Zeit und der Unvermeidlichkeit der Dinge". Wie schön trifft es sich da, daß das Unvermeidliche genau das Gewünschte ist. Als es endlich soweit war - "ich wollte nur die Augen schließen und mit geringstmöglichen Fußbewegungen im Jetzt schwimmen" -, konnte der Glückliche sich "nicht erinnern, je eine so vollkommene Verbindung von Konkav und Konvex gefunden zu haben". Ob ihm hier nicht neben dem Pferd auch der Pegasus durchgegangen ist?
De Carlo veranstaltet eine Gala der absoluten Liebe. Alle Pflichten der lästigen Vernunft dürfen entfallen, wenn der wahre Amor kommt. Nach der Ökologie der Natur nun also eine Ökologie des Naturtriebs. De Carlo setzt dabei auf den surrealistischen "amour fou" - unterschlägt aber, daß er, literarisch wie politisch, gescheitert ist. Nur um diesen Preis kann er seinen Helden zum Ritter eines unbedingten Gefühls machen, "der sich weigert", wie er in einem Interview meinte, "dem Bedürfnis nach Absolutem zu entsagen". Obwohl er sonst genau zu unterscheiden weiß, ist er der Stimme des Bauches gegenüber ganz unkritisch. Er benimmt sich wie ein Neopostromantiker. Er will glauben, was er eigentlich besser wissen müßte, und macht dadurch seine Geschichte selbst unglaubwürdig.
Doch wird sie gerade dadurch und gegen ihre Ambitionen zu einer unfreiwilligen Diagnose zeitgenössischer Lebensinnenansichten. Denn der Aussteiger Luca hat, auf den zweiten Blick, gewissermaßen ein Recht, von Zeit zu Zeit alle zwischenmenschlichen Brücken abzubrechen: Dies erlaubt ihm sein Begriff von Arbeit. Er ist es, der insgeheim die sozialpsychologischen Fäden zieht. Er wirkt sich so aus: Jemandem, der die Gesellschaft von links betreten hat, steht ein geradezu politischer Anspruch auf freie Selbstentfaltung zu. Wer dann dennoch sozial mitmacht, liefert sich bewußt einem "Teufelskreis von Arbeit und Mühe und gnadenlosen Verpflichtungen" aus. Dafür aber kann er sich mehr denn andere als Held der Arbeit fühlen. Er hat sich eine ethische Höchstleistung abgerungen.
WINFRIED WEHLE
Andrea De Carlo: "Die Laune eines Augenblicks". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Renate Heimbucher. Piper Verlag, München 2001. 265 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viel Gefühl: Andrea De Carlos hedonistische Aventiurefahrt
Erfolg verpflichtet. Hat jemand, dessen erster Roman bereits zum Kultbuch einer Generation wurde, danach noch wirklich die Freiheit, zu schreiben, wie er will? Der 1952 geborene Andrea De Carlo hat von Anfang an Erfolg gehabt, und er ist ihm, so und so, treu geblieben: er den Erwartungen und das Publikum ihm. Dieser Erfolg hat Methode. Bereits sein Debüt mit "Cream-train" ("Treno di panna", 1981) hat gleichsam schon über das set-up der folgenden entschieden. Ein junger Mann in den Zwanzigern treibt durch Amerika, mittendrin und doch außen vor, und holt sich dabei den Weltschmerz der sechziger Jahre: daß das Dasein entfremdet ist, die Leute unecht, wandelnde Klischees aus Film und Fernsehen. Dieser Überdruß wird alle weiteren Geschichten grundieren. Er ist das notwendige Übel, das allen Helden das Recht gibt, aus den bestehenden Verhältnissen auszusteigen. Das ist ihre - Philosophie wäre zuviel gesagt - Lebensanimation. Denn da die Verhältnisse immer nur so sind, wie sie sind, machen sie auch den Ausstieg aus der Zivilisation jeder Zeit möglich und nötig. Die große Wohlstandsillusion, die De Carlo bewirtschaftet, rät deshalb von Zeit zu Zeit zu einer ideologischen Entschlackungskur: alles hinter sich zu lassen, die Gegenwart abzuschütteln, sich frei zu fühlen, ein neues Leben anzufangen.
Das Schöne (und Marktgängige) daran ist, daß keiner ernsthaft mit Risiken und Nebenwirkungen rechnen muß. Stets wird man von einem "alternativen" Jenseits bereits erwartet: von einer Hippie-Existenz mit Hasch-Pfeifen, freier Liebe und griechischen Inseln; von einem grünen Ökoidyll auf dem Lande, außerhalb des Industriekapitalismus; von Sekten und Gurus, die, nirgendwo anders als in "Peaceville", den Frieden und den anderen lieben; von zynischem "Schickeria-Überdruß", gegen den kein "Liebesbogen" Amors ankommt. De Carlos Romane sind stets auf der Höhe zeitgenössischer Lebensgefühle. Das ist seine Stärke und seine Kunst. Sensibel verzeichnet er ihre Trends und gibt ihnen eine Geschichte, in der kein markanter Reflex fehlt. Insofern scheint alles richtig, ja wahr, was er erzählt. Er legt es darauf an, daß der Leser sich wiedererkennt. Mit Erkenntnis hat dies allerdings wenig zu tun.
Eine Bedingung will allerdings erfüllt sein: Man muß das richtige Alter haben. De Carlo ist der Schriftsteller einer Generation, die etwa so alt ist wie er (oder sich so fühlt). Sein Erfolg beruht deshalb zugleich auf einer Art Fortsetzungsroman: Er begleitet diese Generation von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt und schreibt ihre Wunsch- und Gegenbilder zeitgemäß fort. Denn sobald der Reiz des Neuen (mit ihnen) gealtert ist, heißt es (wie im jüngsten Roman): "in Rekordzeit ein neues Leben beginnen". Es kommt jeweils aus demselben ideologischen Jungbrunnen. Wer 1970 etwa zwanzig war, so die Lebensregel, hat gelernt, sich sein Glück jeweils auf dem Rücken der Realität zu verschaffen. Nur in der pauschalen Auflehnung, im Protest und im Widerstand "gegen den Strom der Zeit" zeigt sich echtes, authentisches Leben. Dies weiß De Carlo gekonnt in Szene zu setzen. Aber so wohlfeil den Helden die Kritik an den Verhältnissen ist - ihre eigenen Ausflüchte bleiben davon unberührt.
Inzwischen ist De Carlo in zwanzig Jahren beim zehnten Roman und mit ihm bei den Vierzigjährigen angekommen. Welches sind ihre Lebensabschnittserwartungen? "Nel momento", gibt der italienische Titel zur Antwort. Der deutsche meint ihm mit "Die Laune eines Augenblicks" aufhelfen zu müssen. Dabei hat sich De Carlo bemüht, ernsthaft zu sein. Menschen dieses, seines Alters beginnen zu ahnen, daß die Zeit knapp werden könnte - die Zeit zum Glücklichwerden. Das ist das Lebensprojekt des Helden Luca, der nicht "erwachsen" sein will. Inzwischen ist er auf dem Sprung zur dritten existentiellen Runderneuerung. Zuvor hatte er abrupt Frau und Kind und einen Verleih anspruchsvoller Filme hinter sich gelassen, um mit Anna das Ökoglück zu finden, das früher, in "Zwei von Zwei" (deutsch 1991), bereits ausgemalt wurde. Daß es nicht gutgehen konnte, war zu befürchten. Mit "grünem Erbauungskitsch" (F.A.Z. vom 27. September 1991) ließ sich schon damals keine Welt außerhalb der Welt bauen. Jetzt, zu Beginn dieses Romans, hat auch diese Illusion abgewirtschaftet. Daraus ergibt sich das Folgethema: wie neu anfangen?
De Carlo vertraut auf Erfolgerprobtes. Luca, der Held, reitet aus, ein Ritter auf der Suche nach Aventiure. Das Pferd ist wild; er schlägt zu Boden. Das ist die Erweckung, auf die er dunkel gewartet hatte. Mit diesem "plötzlichen Sturz", wie es schon in "Cream-train" geheißen hatte, war er "ins Zentrum der Dinge gefallen". Den Umständen entsprechend, also schlagartig, geht ihm auf, daß er nicht mehr gelebt hat, sondern gelebt wurde. Der körperlich beschädigte, emotional aber befreite Held wird von Alberta - wahrhaftig Dea ex machina: sie kommt zufällig mit dem Auto vorbei - ins Krankenhaus gebracht. Er sieht sie wieder; seine erotischen Reflexe zeigen ihm, wo das Zentrum der Dinge ist.
Allerdings nicht sofort. Er besucht sie in Rom; sie hat gerade einen Selbstmordversuch hinter sich. An ihrer Seite aber ist, jung, attraktiv, vital, künstlerisch und blond, ihre Schwester Maria Chiara. Man ahnt sofort: sie ist es. Doch der Autor läßt sich 160 (von 265) Seiten Zeit, bis es soweit ist. Er nutzt den langen Anweg, um diese neue Liebe analytisch und sprachlich auszukosten. Tugenden und Laster dieses Schreibens eifern dabei um die Wette. Einerseits der narzißtisch sich selbst absuchende Blick, der gierig und doch genau jede innere Regung aufsaugt und protokolliert. Auch Maria Chiara bleibt weithin ein Prospekt seiner Bedürfnisse. Am meisten verrät ihn dabei seine Sprache. Statt wie bisher "in einem fremden Leben" herumzufahren, nun die Rückkehr in die Eigentlichkeit. Das sieht so aus: barfuß auf dem Sofa sitzen, am Meer ziellos spazierengehen, in abgelegenen Gasthäusern herzhaft essen, sich in einem Kombi wie Kinder balgen; im Gewitterregen naß regnen lassen und manch anderes in der Art von "Frühstück bei Tiffany": das Ganze angereichert mit einem Schuß latin lover. Das neue Ich hat eine Schwäche für gebrauchte literarische Kleidungsstücke.
Doch es bemüht sich, sie mit unkonventionellen Pailletten zu verzieren. De Carlo durchsetzt seine Beobachtungen fortlaufend mit Bildern, Vergleichen und tieferen Worten. Es ist, als ob das neue Gefühl auch die Sprache aus ihrer Verkrustung löst. "Fünf Jahre Landleben" hatten, sagt der sensible Held, "das Geflecht meiner städtischen Beziehungen zerfasert". Aber jetzt "rannten wir mit aller Kraft, die in unseren Beinen steckte, weiter, liefen um die Wette mit der Zeit und der Unvermeidlichkeit der Dinge". Wie schön trifft es sich da, daß das Unvermeidliche genau das Gewünschte ist. Als es endlich soweit war - "ich wollte nur die Augen schließen und mit geringstmöglichen Fußbewegungen im Jetzt schwimmen" -, konnte der Glückliche sich "nicht erinnern, je eine so vollkommene Verbindung von Konkav und Konvex gefunden zu haben". Ob ihm hier nicht neben dem Pferd auch der Pegasus durchgegangen ist?
De Carlo veranstaltet eine Gala der absoluten Liebe. Alle Pflichten der lästigen Vernunft dürfen entfallen, wenn der wahre Amor kommt. Nach der Ökologie der Natur nun also eine Ökologie des Naturtriebs. De Carlo setzt dabei auf den surrealistischen "amour fou" - unterschlägt aber, daß er, literarisch wie politisch, gescheitert ist. Nur um diesen Preis kann er seinen Helden zum Ritter eines unbedingten Gefühls machen, "der sich weigert", wie er in einem Interview meinte, "dem Bedürfnis nach Absolutem zu entsagen". Obwohl er sonst genau zu unterscheiden weiß, ist er der Stimme des Bauches gegenüber ganz unkritisch. Er benimmt sich wie ein Neopostromantiker. Er will glauben, was er eigentlich besser wissen müßte, und macht dadurch seine Geschichte selbst unglaubwürdig.
Doch wird sie gerade dadurch und gegen ihre Ambitionen zu einer unfreiwilligen Diagnose zeitgenössischer Lebensinnenansichten. Denn der Aussteiger Luca hat, auf den zweiten Blick, gewissermaßen ein Recht, von Zeit zu Zeit alle zwischenmenschlichen Brücken abzubrechen: Dies erlaubt ihm sein Begriff von Arbeit. Er ist es, der insgeheim die sozialpsychologischen Fäden zieht. Er wirkt sich so aus: Jemandem, der die Gesellschaft von links betreten hat, steht ein geradezu politischer Anspruch auf freie Selbstentfaltung zu. Wer dann dennoch sozial mitmacht, liefert sich bewußt einem "Teufelskreis von Arbeit und Mühe und gnadenlosen Verpflichtungen" aus. Dafür aber kann er sich mehr denn andere als Held der Arbeit fühlen. Er hat sich eine ethische Höchstleistung abgerungen.
WINFRIED WEHLE
Andrea De Carlo: "Die Laune eines Augenblicks". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Renate Heimbucher. Piper Verlag, München 2001. 265 S., geb., 18,90 [Euro].
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