Nach einem Autounfall diagnostizieren die Ärzte den klinischen Tod eines jungen Manns. Zugleich stellen fest, dass er sich zum Organspender eignet.
Die Konsequenzen einer Entscheidung zur Transplantation verfolgt der Phantasie und Gefühle aufregende Roman von Maylis de Kerangal über einen Zeitraum von 24 Stunden. Wie verhalten sich Ärzte und die Familien in solchen Situationen auf Leben und Tod? Wie verkraften Menschen überhaupt solche unerwartbaren, unausweichlichen Chancen und das gleichzeitige Ende aller Chancen?
Maylis de Kerangal präsentiert die Abfolge dieser 24 Stunden in einer rasanten Folge von emotional aufrührenden Szenen und deskriptivem Reportagestil. Und so stellt sich beim Leser Betroffenheit ein. Die sieben renommierten Auszeichnungen, die dieser Roman in Frankreich erhalten hat, sind ein Beleg für solche Wirkung.
Die Konsequenzen einer Entscheidung zur Transplantation verfolgt der Phantasie und Gefühle aufregende Roman von Maylis de Kerangal über einen Zeitraum von 24 Stunden. Wie verhalten sich Ärzte und die Familien in solchen Situationen auf Leben und Tod? Wie verkraften Menschen überhaupt solche unerwartbaren, unausweichlichen Chancen und das gleichzeitige Ende aller Chancen?
Maylis de Kerangal präsentiert die Abfolge dieser 24 Stunden in einer rasanten Folge von emotional aufrührenden Szenen und deskriptivem Reportagestil. Und so stellt sich beim Leser Betroffenheit ein. Die sieben renommierten Auszeichnungen, die dieser Roman in Frankreich erhalten hat, sind ein Beleg für solche Wirkung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2015Die Pumpe, die quietscht, verstopft und verrückt spielt
In ihrem postmetaphysischen Organspende-Roman "Die Lebenden reparieren" untersucht Maylis de Kerangal alle Aspekte des Herzens
Seit 2004 belebt die Gruppe Inculte ("unkultiviert", "unwissend") die französische Literatur: eine Handvoll Romanciers im Alter zwischen Ende dreißig und fünfzig Jahren, die erst in der Zeitschrift und dann im Verlag gleichen Namens hervorgetreten sind. Namhaft sind Matthias Énard ("Zone") und François Bégaudau, Autor des Romans und Hauptdarsteller des Films "Zwischen den Mauern" (Goldene Palme 2008), der allerdings nicht zum Kern gehört. Wofür steht die Gruppe? Die kollektiv verfassten Bände "Devenirs du roman" I und II ("Werdegänge des Romans"), 2007 und 2014 erschienen, geben auf den ersten Blick wenig Aufschluss. Auch wenn der Name ironisch bildungsfeindliche Avantgarden evoziert: Inculte bietet kein großes gemeinsames Programm; böse Zungen vermuten ein Karrierenetzwerk. Vielleicht funktionieren heute selbst Autorengruppen wie Zweckgemeinschaften in Coworking Spaces? Es finden sich immerhin Schwerpunkte: ein sozialrealistischer Ansatz, emphatisches Gegenwartsbewusstsein, Interesse für Popkultur und Biographisches.
Maylis de Kerangal, geboren 1967, hierzulande durch "Die Brücke von Coca" bekannt, sticht aus dem "Collectif" heraus. Sie kann Kritik und Leserschaft begeistern: Ihr neuester Roman "Die Lebenden reparieren" hat zehn Preise erhalten und lag in jeder Bahnhofsbuchhandlung aus. Auch auf das Titelblatt von "Télérama" schaffen es Nicht-Houellebecqs selten. Ihr Erfolg hat vermutlich drei Gründe. Die ersten zwei sind rasch genannt: Kerangal wählt Themen, die den Nerv der Zeit treffen, und versteht es, ihnen eine epische Form zu geben. "Die Brücke von Coca" erzählte von einem Brückenbau in der globalisierten Welt, ließ vom Hilfsarbeiter bis zum Bauleiter und Bürgermeister alle auftreten. Ein gigantisches Projekt, ein komplexer Kosmos, eine geschichtliche Dynamik - in den besten Momenten spürte man einen Hauch Zola.
"Die Lebenden reparieren" entwirft ebenfalls ein Universum um ein Projekt herum, das diesmal allerdings ganz anders aussieht. Der Roman erzählt die Geschichte von Simon Limbres, 20 Jahre, genauer: die letzten 24 Stunden seines Körpers. Denn früh an einem Februarmorgen prallt Simon bei einem Autounfall auf einer Landstraße mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe; im Krankenhaus von Le Havre stellt man den Hirntod fest. Ein junger, gesunder Körper, bis auf den Kopf unversehrt: Die Organspendemaschinerie springt an.
Der Leser verfolgt die Wege von Angehörigen, Ärzten, Krankenschwestern, Empfängern. Pierre Révol, der Leiter der Intensivstation, stellt den Tod fest; eine Reihe von Untersuchungen bestätigt ihn. Die Eltern sehen sich gedrängt, in kürzester Zeit den Tod ihres Sohnes zu akzeptieren und eine Entscheidung über seinen Körper zu treffen. Thomas Rémige, der Leiter der Koordinierungsstelle für Organspenden, spricht das heikle Thema an und präsentiert die Möglichkeiten. Das zerrüttete Paar rauft sich zusammen und beschließt, dass die inneren Organe gespendet werden sollen. Rémige kontaktiert die Pariser Zentrale, Datenbanken mit Empfängern werden durchsucht, Wege berechnet, Ärzte kontaktiert. Experten aus ganz Frankreich machen sich auf den Weg, entnehmen die Organe und bringen sie so schnell wie möglich in ihr Krankenhaus. Rémige richtet den Körper wieder her: 24 Stunden nach Simons Tod schlägt sein Herz in einer neuen Brust.
In ihrem Beitrag zu "Devenirs du roman II" erklärt Kerangal, wie bedeutend der Ort der Handlung für ihre Romane ist. In der Tat, das Krankenhaus wird "zum Organismus, zum Ökosystem", dessen Regeln die Handlung bestimmen. Zum zentralen Ort gehört ein zentrales Organ, der Herzmuskel: Sein Parcours wird detailliert geschildert, er steht im Zentrum aller Sorgen. Was aber ist ein Herz? Einerseits ein abgesetzter König: Das Herz entscheidet nicht mehr über Leben und Tod. Seit 1959 ist der Ausfall der Hirnfunktionen das Kriterium: Dank der "Perfektionierung der Reanimationsapparate und -techniken" wird das "irreversible Koma" ausschlaggebend, die Organentnahme ist "eine Konsequenz dieses wissenschaftlichen Wandels von unerhörter philosophischer Tragweite". Den Folgen spürt "Die Lebenden reparieren" nach: Vor allem zeigt der Roman, wie wenig diese medizinische Definition unserer Erfahrung entspricht. Für Kerangal und Leser ist Simon nicht tot, er befindet sich, wie sein Name Limbres andeutet ("les limbes": das Fegefeuer), in einer Zwischenwelt - sein Körper jedoch wird zur Organbank, das Herz zum simplen "Motor", wie Virgilio Breva feststellt, der es entnimmt: "Die Pumpe, die quietscht, die verstopft, die verrückt spielt." Andererseits ist das Herz nach wie vor ein starkes Symbol, "das zentrale Organ des Körpers, der Ort, wo das Leben sich in entscheidender, maßgeblicher Weise manifestiert". Das gilt für den jungen, ehrgeizigen Kardiologen selbst, war Motiv seiner Berufswahl. Und es gilt für den ganzen Roman: Das Herz ist ein "Operator des Imaginären", in der Sprache befindet es sich "an der magischen Schnittstelle zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung, zwischen Muskel und Affekt". Damit benennt Kerangal ihr Programm: Sie erforscht alle Aspekte des Herzens, vom Motiv bis zur Metapher, und gibt ihm so seine Bedeutung zurück.
Um das Kernorgan gruppieren sich die Geschichten. Kerangal gelingt es, eine Vielzahl von Lebenswegen einzuführen, zu entfalten, ein kleines Universum zu entwickeln. Die Eltern des Unfallopfers, ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung berühren. Ihre Entscheidung über Simons Körper fällt auf einem Spaziergang an der Seine-Mündung, ein Schiff zieht vorbei, "öliges Rot, exakt die Farbe von getrocknetem Blut"; "ein roter Vorhang, der nach und nach über die Wirklichkeit gezogen wird (...), und der Bug, der das Wasser teilt, bekräftigt die stechende Gegenwart ihres Schmerzes".
Gegenpol der Trauer ist Rémige, der Leiter der Koordinierungsstelle. Er will dank des Herzens Leben retten und verkörpert den schonenden Umgang mit dem Tod. Auf Wunsch der Angehörigen spielt er dem Toten Wellenrauschen vor, obwohl die Ärzte mit gezücktem Messer warten; nach der Entnahme pflegt er singend den Leichnam. Den höchstens vage gläubigen Angehörigen bietet er eine symbolische Befriedung: "er versetzt ihn in einen postmortalen Raum, den der Tod nicht mehr erreicht, den Raum des unsterblichen Ruhms, der Legenden, des Gesangs und der Schrift". Im Grunde versucht Kerangal dasselbe: Sie erfindet Symbole und Geschichten, die dem Tod in einer areligiösen, wissenschaftlich-technischen Gesellschaft den Schrecken nehmen. Das Tschechow-Zitat des Titels - "Die Toten begraben und die Lebenden reparieren" ("Platonow") - ist Programm. Postmetaphysische Erbauung: Das ist der dritte Grund für den Erfolg des Romans.
Die Identifikation mit Rémiges Tun verpasst dem Roman freilich eine kitschige Schlagseite: Die von der Autorin selbst konstatierte "versteckte Gewalt" - die Anonymität der Spende, die Plünderung der warmen Leiche - muss nicht gegen eine Spende sprechen, aber sie wird durch die Identifikation mit dem medizinischen Personal spürbar heruntergespielt. Diese und allgemeiner das Wohlwollen gegenüber den Figuren ermüdet: Alle sind, manchen Fehlern und Schwächen zum Trotz, nur positiv gezeichnet, im Grunde ist jedermann gut und kompetent. Wenn es selbst über den namenlosen Kardiotechniker heißt, "niemand hier würde sich in dem Wirrwarr von Schläuchen, die aus schwarzen Gehäusen quellen, besser auskennen als er", dann ist der Arztroman nicht fern. Auch sprachlich gibt es rosarote Einsprengsel, wenn es von der Freundin des Verstorbenen heißt, sie sei "Simons Herz".
Die Kritik darf nicht in die Irre führen: "Die Lebenden reparieren" ist ein spannender, anrührender, ein wichtiger Roman. Er enttäuscht nur deshalb ab und an, weil Kerangal große Erwartungen weckt. Ihr gelingt es, ein brennend aktuelles Thema mit Schwung und Feingefühl anzufassen, es in eine psychologisch und sprachlich meist überzeugende Gestalt zu bringen. Ihr Sinn für kollektive Dynamik, für Ereignisfolgen und menschliche Wechselwirkungen ist bemerkenswert. Auch wenn man die Aufgabe weniger apologetisch anpacken kann, ist doch viel wichtiger, dass Kerangal sich daranwagt: mit und dank der Literatur einen globalen Blick auf das zu entwickeln, was durch den medizinischen Fortschritt aus uns Menschen wird.
NIKLAS BENDER
Maylis de Kerangal: "Die Lebenden reparieren". Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem postmetaphysischen Organspende-Roman "Die Lebenden reparieren" untersucht Maylis de Kerangal alle Aspekte des Herzens
Seit 2004 belebt die Gruppe Inculte ("unkultiviert", "unwissend") die französische Literatur: eine Handvoll Romanciers im Alter zwischen Ende dreißig und fünfzig Jahren, die erst in der Zeitschrift und dann im Verlag gleichen Namens hervorgetreten sind. Namhaft sind Matthias Énard ("Zone") und François Bégaudau, Autor des Romans und Hauptdarsteller des Films "Zwischen den Mauern" (Goldene Palme 2008), der allerdings nicht zum Kern gehört. Wofür steht die Gruppe? Die kollektiv verfassten Bände "Devenirs du roman" I und II ("Werdegänge des Romans"), 2007 und 2014 erschienen, geben auf den ersten Blick wenig Aufschluss. Auch wenn der Name ironisch bildungsfeindliche Avantgarden evoziert: Inculte bietet kein großes gemeinsames Programm; böse Zungen vermuten ein Karrierenetzwerk. Vielleicht funktionieren heute selbst Autorengruppen wie Zweckgemeinschaften in Coworking Spaces? Es finden sich immerhin Schwerpunkte: ein sozialrealistischer Ansatz, emphatisches Gegenwartsbewusstsein, Interesse für Popkultur und Biographisches.
Maylis de Kerangal, geboren 1967, hierzulande durch "Die Brücke von Coca" bekannt, sticht aus dem "Collectif" heraus. Sie kann Kritik und Leserschaft begeistern: Ihr neuester Roman "Die Lebenden reparieren" hat zehn Preise erhalten und lag in jeder Bahnhofsbuchhandlung aus. Auch auf das Titelblatt von "Télérama" schaffen es Nicht-Houellebecqs selten. Ihr Erfolg hat vermutlich drei Gründe. Die ersten zwei sind rasch genannt: Kerangal wählt Themen, die den Nerv der Zeit treffen, und versteht es, ihnen eine epische Form zu geben. "Die Brücke von Coca" erzählte von einem Brückenbau in der globalisierten Welt, ließ vom Hilfsarbeiter bis zum Bauleiter und Bürgermeister alle auftreten. Ein gigantisches Projekt, ein komplexer Kosmos, eine geschichtliche Dynamik - in den besten Momenten spürte man einen Hauch Zola.
"Die Lebenden reparieren" entwirft ebenfalls ein Universum um ein Projekt herum, das diesmal allerdings ganz anders aussieht. Der Roman erzählt die Geschichte von Simon Limbres, 20 Jahre, genauer: die letzten 24 Stunden seines Körpers. Denn früh an einem Februarmorgen prallt Simon bei einem Autounfall auf einer Landstraße mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe; im Krankenhaus von Le Havre stellt man den Hirntod fest. Ein junger, gesunder Körper, bis auf den Kopf unversehrt: Die Organspendemaschinerie springt an.
Der Leser verfolgt die Wege von Angehörigen, Ärzten, Krankenschwestern, Empfängern. Pierre Révol, der Leiter der Intensivstation, stellt den Tod fest; eine Reihe von Untersuchungen bestätigt ihn. Die Eltern sehen sich gedrängt, in kürzester Zeit den Tod ihres Sohnes zu akzeptieren und eine Entscheidung über seinen Körper zu treffen. Thomas Rémige, der Leiter der Koordinierungsstelle für Organspenden, spricht das heikle Thema an und präsentiert die Möglichkeiten. Das zerrüttete Paar rauft sich zusammen und beschließt, dass die inneren Organe gespendet werden sollen. Rémige kontaktiert die Pariser Zentrale, Datenbanken mit Empfängern werden durchsucht, Wege berechnet, Ärzte kontaktiert. Experten aus ganz Frankreich machen sich auf den Weg, entnehmen die Organe und bringen sie so schnell wie möglich in ihr Krankenhaus. Rémige richtet den Körper wieder her: 24 Stunden nach Simons Tod schlägt sein Herz in einer neuen Brust.
In ihrem Beitrag zu "Devenirs du roman II" erklärt Kerangal, wie bedeutend der Ort der Handlung für ihre Romane ist. In der Tat, das Krankenhaus wird "zum Organismus, zum Ökosystem", dessen Regeln die Handlung bestimmen. Zum zentralen Ort gehört ein zentrales Organ, der Herzmuskel: Sein Parcours wird detailliert geschildert, er steht im Zentrum aller Sorgen. Was aber ist ein Herz? Einerseits ein abgesetzter König: Das Herz entscheidet nicht mehr über Leben und Tod. Seit 1959 ist der Ausfall der Hirnfunktionen das Kriterium: Dank der "Perfektionierung der Reanimationsapparate und -techniken" wird das "irreversible Koma" ausschlaggebend, die Organentnahme ist "eine Konsequenz dieses wissenschaftlichen Wandels von unerhörter philosophischer Tragweite". Den Folgen spürt "Die Lebenden reparieren" nach: Vor allem zeigt der Roman, wie wenig diese medizinische Definition unserer Erfahrung entspricht. Für Kerangal und Leser ist Simon nicht tot, er befindet sich, wie sein Name Limbres andeutet ("les limbes": das Fegefeuer), in einer Zwischenwelt - sein Körper jedoch wird zur Organbank, das Herz zum simplen "Motor", wie Virgilio Breva feststellt, der es entnimmt: "Die Pumpe, die quietscht, die verstopft, die verrückt spielt." Andererseits ist das Herz nach wie vor ein starkes Symbol, "das zentrale Organ des Körpers, der Ort, wo das Leben sich in entscheidender, maßgeblicher Weise manifestiert". Das gilt für den jungen, ehrgeizigen Kardiologen selbst, war Motiv seiner Berufswahl. Und es gilt für den ganzen Roman: Das Herz ist ein "Operator des Imaginären", in der Sprache befindet es sich "an der magischen Schnittstelle zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung, zwischen Muskel und Affekt". Damit benennt Kerangal ihr Programm: Sie erforscht alle Aspekte des Herzens, vom Motiv bis zur Metapher, und gibt ihm so seine Bedeutung zurück.
Um das Kernorgan gruppieren sich die Geschichten. Kerangal gelingt es, eine Vielzahl von Lebenswegen einzuführen, zu entfalten, ein kleines Universum zu entwickeln. Die Eltern des Unfallopfers, ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung berühren. Ihre Entscheidung über Simons Körper fällt auf einem Spaziergang an der Seine-Mündung, ein Schiff zieht vorbei, "öliges Rot, exakt die Farbe von getrocknetem Blut"; "ein roter Vorhang, der nach und nach über die Wirklichkeit gezogen wird (...), und der Bug, der das Wasser teilt, bekräftigt die stechende Gegenwart ihres Schmerzes".
Gegenpol der Trauer ist Rémige, der Leiter der Koordinierungsstelle. Er will dank des Herzens Leben retten und verkörpert den schonenden Umgang mit dem Tod. Auf Wunsch der Angehörigen spielt er dem Toten Wellenrauschen vor, obwohl die Ärzte mit gezücktem Messer warten; nach der Entnahme pflegt er singend den Leichnam. Den höchstens vage gläubigen Angehörigen bietet er eine symbolische Befriedung: "er versetzt ihn in einen postmortalen Raum, den der Tod nicht mehr erreicht, den Raum des unsterblichen Ruhms, der Legenden, des Gesangs und der Schrift". Im Grunde versucht Kerangal dasselbe: Sie erfindet Symbole und Geschichten, die dem Tod in einer areligiösen, wissenschaftlich-technischen Gesellschaft den Schrecken nehmen. Das Tschechow-Zitat des Titels - "Die Toten begraben und die Lebenden reparieren" ("Platonow") - ist Programm. Postmetaphysische Erbauung: Das ist der dritte Grund für den Erfolg des Romans.
Die Identifikation mit Rémiges Tun verpasst dem Roman freilich eine kitschige Schlagseite: Die von der Autorin selbst konstatierte "versteckte Gewalt" - die Anonymität der Spende, die Plünderung der warmen Leiche - muss nicht gegen eine Spende sprechen, aber sie wird durch die Identifikation mit dem medizinischen Personal spürbar heruntergespielt. Diese und allgemeiner das Wohlwollen gegenüber den Figuren ermüdet: Alle sind, manchen Fehlern und Schwächen zum Trotz, nur positiv gezeichnet, im Grunde ist jedermann gut und kompetent. Wenn es selbst über den namenlosen Kardiotechniker heißt, "niemand hier würde sich in dem Wirrwarr von Schläuchen, die aus schwarzen Gehäusen quellen, besser auskennen als er", dann ist der Arztroman nicht fern. Auch sprachlich gibt es rosarote Einsprengsel, wenn es von der Freundin des Verstorbenen heißt, sie sei "Simons Herz".
Die Kritik darf nicht in die Irre führen: "Die Lebenden reparieren" ist ein spannender, anrührender, ein wichtiger Roman. Er enttäuscht nur deshalb ab und an, weil Kerangal große Erwartungen weckt. Ihr gelingt es, ein brennend aktuelles Thema mit Schwung und Feingefühl anzufassen, es in eine psychologisch und sprachlich meist überzeugende Gestalt zu bringen. Ihr Sinn für kollektive Dynamik, für Ereignisfolgen und menschliche Wechselwirkungen ist bemerkenswert. Auch wenn man die Aufgabe weniger apologetisch anpacken kann, ist doch viel wichtiger, dass Kerangal sich daranwagt: mit und dank der Literatur einen globalen Blick auf das zu entwickeln, was durch den medizinischen Fortschritt aus uns Menschen wird.
NIKLAS BENDER
Maylis de Kerangal: "Die Lebenden reparieren". Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nicht zuletzt ist Die Lebenden reparieren hervorragend recherchiert und erklärt, bisweilen brutal detailreich, wie ein Hirntod festgestellt wird, ... Man möchte diesen Roman allen empfehlen, die aus Angst, von korrumpierten Ärzten vorschnell für tot erklärt und auf eine Handvoll verwertbarer Innereien reduziert zu werden, das Thema Organspende bislang ignoriert haben."
Dana Buchzik, SPIEGEL ONLINE 06.05.2015
Dana Buchzik, SPIEGEL ONLINE 06.05.2015