Ein sensationeller Fund einer Handschrift: der Bericht eines einfachen preußischen Soldaten aus den Napoleonischen Kriegen - Geschichte »von unten«, hier erstmals gedruckt.Johann Christoph Pickert wurde 1787 in Haldensleben bei Magdeburg geboren und lernte erst den Beruf des Handschuhmachers, bevor er 20 Jahre als Soldat im preußischen Heer diente. Nach seiner Versetzung »zur siebenten Invaliden Compagnie« schrieb dieser einfache Mann seine Lebensgeschichte auf. Darin erzählt er von seiner Jugend- und Lehrzeit, von seiner Rekrutierung und vom harten Leben in der preußischen Armee: Er nahm an der Schlacht von Jena und Auerstedt teil und wurde als Gefangener zur Zwangsarbeit nach Frankreich geschickt.Seine Erinnerungen sind zugleich eine »Körpergeschichte«, eine Geschichte der Freuden und Leiden seines Leibes - vom Kind über den Knaben bis zur martialischen Behandlung des Soldaten im Krieg.Die Erzählperspektive und die stilistische Authentizität, die ausführlichen Detailschilderungen sowie das gänzlich unprätentiöse Schreiben stellen Pickerts Lebensbericht neben Ulrich Bräkers »Armen Mann im Toggenburg« aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Alles, was Pickert für erinnerungswürdig hält, betrifft im Detail nur ihn, zeigt den heutigen Lesern aber einen Ausschnitt aus der Lebenswelt einer sozialen Schicht, die selten zu Wort kommt.Dieses einzigartige autobiographische Dokument wurde zufällig in einem Antiquariat entdeckt und wird hier erstmals veröffentlicht. Der Text wird durch einen Stellenkommentar und ein Nachwort ergänzt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2007Die Kartoffelfressmaschine
Kurios: Leben und Ansichten des Invaliden Johann Chr. Pickert
"Diese kleine Geschichte welche ich von meinem Leben sehr früh anfange, würde bei manchen (sic) Leser Zweifel erregen." In der Tat, das tut sie, hochinteressierten Zweifel allerdings. Vor diesem Eindruck schützt auch der erste Satz nicht, ganz im Gegenteil. Dass der preußische Unteroffizier Johann Christoph Pickert seine "Lebens-Geschichte" aus den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts mit einer poetologischen Selbstreflexion über das Pränatale beginnt, die eines Tristram Shandy würdig wäre, lässt einiges erwarten - und die Erwartung wird nicht enttäuscht.
Der Zweifel könnte auch an anderer Stelle einsetzen. Zwei Herausgeber haben "im Antiquariatshandel" eine unbekannte Handschrift erworben: die alte Manuskriptfiktion, klingelt es jedem Literaturwissenschaftler im Ohr, der nur einmal mit Christoph Martin Wieland in Kontakt kam. Doch die Handschrift existiert wirklich. Der Bibliothekar Christoph Schreckenberg hat sie im August 2000 in Hildesheim erstanden und gemeinsam mit dem Philologen Gotthardt Frühsorge ediert. Dazu wurde sie aufbereitet und mit einem hilfreichen Nachwort versehen.
Alle vorkommenden Personen konnten mittels Kirchenbüchern und anderer Quellen identifiziert werden. Es sei natürlich möglich, so räumt Frühsorge im Gespräch mit dieser Zeitung ein, dass hier eine Abschrift vorliege, denn weitere Handschriftenzeugnisse Pickerts existieren nicht. Doch auch in diesem Fall stammte das Werk - das Papier gibt darüber Aufschluss - aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Ob also Johann Christoph Pickert selbst oder doch ein Redigator für die beachtliche Durchformung des Stoffes und den pointenhaften Stil verantwortlich ist, bleibt ungewiss. Gerecht wird man dem Büchlein indes nur, wenn man es wie etwa Ulrich Bräkers (freilich noch anspruchsvollere) Autobiographie "Der arme Mann im Tockenburg" von 1789 als Literatur betrachtet, nicht lediglich als mentalitätsgeschichtliches Dokument.
Die Passionsgeschichte des Soldaten Pickert, der nach zwanzig von der preußischen Heeresverfassung vorgesehenen Dienstjahren aufgrund von Blasenschwäche vom sechsten brandenburgischen Kürassier-Regiment in eine Invalidenkompanie wechselte, ist nicht durchweg tragisch. Schon innerhalb der Erzählung wird viel gelacht (bis "der Bauch schutterte"), meistens über Ungeschicklichkeiten. Zumal auf der narrativen Ebene aber haben die körperlichen Versehrungen und Stilbrüche einen grobianisch-komischen Effekt.
Oft scheinen sie gegen Autoritäten gerichtet zu sein. Zweimal etwa wird Medizin verordnet, in beiden Fällen mit fatalen Folgen: Einmal stirbt ein Kamerad röchelnd daran, der nächste Einsatz führt bei Pickert zu lebensbedrohlichen Krämpfen: "Die scharfe Saure hatte mir die Zähne so gelößt und gestumpft daß ich in acht Tagen nicht ein weich gekochte Ertoffel beißen konnte." Überhaupt scheint dieser Kürassier vor allem das stets bedrohte Wohl seines Körpers im Sinn zu haben, während andere zur selben Zeit das Abendland versinken sehen: Austerlitz, Jena, Auerstedt. Johann Christoph Pickert, immer am Ort des Geschehens, interessiert das Getümmel wenig; er führt stattdessen genauestens Buch über seinen Kartoffelkonsum.
Schon auf einem seiner ersten Einsätze gegen die Franzosen wird der junge Soldat mit dem Tod im Feld konfrontiert. Selbst den Pferden, so notiert er, würden die Füße abgeschossen. Weit größeren Raum nimmt jedoch gleich darauf die folgende Szene ein: Die Abendration Pellkartoffeln wurde unabsichtlich zu einem Brei vermengt und ist nun ungenießbar. Von den Quartiergebern wird die Bitte um eine weitere Portion Brühkartoffeln ausnahmsweise erhört. Die Soldaten schälen selbst, doch erneut geschieht ein Unglück: Beim ersten Bissen hat Pickert mehr Wolle als Kartoffeln im Mund, denn offenbar wurde "ein ganzes Schaaf mit Haut und Haar" mitgekocht.
Ähnliche "Strabatien" gibt es in den meisten Quartieren. Doch man unterschätze diesen Erzähler nicht, der schließlich spottend angekündigt hat, die Politik den Besserwissern zu überlassen: "Ein Soldat (...) kann von Krieg nicht so viel erzählen, als Einer beim vollen Glase neben den Ofen aus die Zeitung deklamiert." Und doch macht er auf seine Weise unablässig deutlich, was Krieg bedeutet: Hunger und Schmerzen. Dabei unterscheidet sich Gefangenschaft kaum von den üblichen Verhältnissen. Gegen die Franzosen wiederum hat Pickert nichts. Auch sonst kennt er keinen Nationalstolz: "Dieserhalb glaube man nicht das wier die besten Menschen sind."
Man darf diese "Lebens-Geschichte" - mit allen Einschränkungen - als literarisch überformten Gegendiskurs lesen, als Subversion jener hegemonialen Perspektive "aus die Zeitung". Ebendies macht sie so wertvoll. Sich selbst führt Johann Christoph Pickert dabei als eine Art Pikaro ein, welcher, als Frucht eines Fehltritts, bereits unsanft ins Dasein entlassen wurde: "Meine Mutter hatte den ersten Januar eine solche Eßlust zum sauren Kohl, und that sich auch den Magen dermaßen damit überladen, das es mir unerträglich ward länger in dem Sauren Kohlbauch zu verweilen indem meine Mine schon finster war und durch diese scharfe Säure noch finsterer werden konnte."
Was aber ist das für ein Jammertal, diese Welt: "Hier kamen erst Beschwärden die ich nie zu ertragen glaubte." Nachdem das Kind erste Krankheiten überstanden hat, darf es bei der Mutter, einer Schneiderin, auf dem Tisch sitzen, "wobei ich mit Mauersteinen belegt war, damit ich nicht umfiel". Pickerts Miene dürfte sich auch nicht davon aufgehellt haben, dass er bald eine Treppe hinabstürzte: "Meine Mutter die mir für Todt hielt, wußte nicht was sie mit mir machen sollte." Doch gute Freunde geben den Rat, auf den Knaben mit einer Birkenrute einzuschlagen, und diese Hiebe rufen unseren Protagonisten ins Leben zurück: eine abstruse, preußische Auferstehungsszene.
Zunächst erlernt Johann Christoph Pickert das Handschuhmacherhandwerk bei einem Meister in Wolmirstedt, die einzig idyllische Periode seines Lebens. Ihr "bestes Vergnügen" hatten die Gesellen, wenn sie abends Mädchen beim Baden erschreckten und auch sonst näher kennenlernten. Seine Schwäche für das schöne Geschlecht behielt der Rekrut Pickert bei, was ihm allerdings manchen Ärger bescherte. Häufig kam es, wie wir lesen, zum "Einverständniß", an vielen Orten gleich mehrfach: "gefiel es mir nicht bei der einen so ging ich zur anderen". Diese immer wie nebenbei mitlaufende Casanova-Handlung wirkt wie ein Korrektiv zu jenem Gehorsam, den Johann Christoph Pickert bei allem Eigeninteresse eben auch an den Tag legt.
Den hohen Gestaltungswillen bezeugen weiterhin die dialogische Eingangssequenz sowie der klassische Erzählbogen: Von Haldensleben aus geht es in die Welt. In das Städtchen bei Magdeburg kehrt der Protagonist schließlich noch einmal zurück, nachdem er vom Tod der Eltern erfahren hat. Zum Einstieg hat Pickert ein Gespräch zwischen Stiefvater, Mutter, dem vierjährigen Christoph und dessen Vetter entworfen: Es beginnt, schon dies ist programmatisch, mit der Weigerung des Knaben, dem Stiefvater "ein packeth Toback" zu holen, was diesen erzürnt, die Mutter aber zu einer klugen Reflexion über die Reziprozität von Vater- und Kinderliebe veranlasst.
Christoph verspricht dem Vetter, welchem er "anjetzo nur unbedeutendes sagen" könne, dereinst seine "nur unbedeutende Geschichte" schriftlich zu überreichen. Durch einen Sprung in die Erzählzeit reicht er die Bemerkung nach, dies hiermit zu erfüllen.
Auch die Liebe ist präsent in dieser Erzählung: All die Jahre nämlich erwartet Pickert in der Heimat seine Jugendliebe Juliane: "Wer widersteht die Probe wenn ein schönes Geschlecht ihre Schlinge auswirft, und man sich in solche gefangen sieht, und ich entging ihrer Schlinge nicht." Tragisch wirkt da der Schluss, als der Held nach einem letzten Besuch bei der gealterten Juliane nach Rathenow entflieht, "wo mir eine junge, reitzende, schöne die Hand und Mund zum Willkommen reichte". Auf diesen letzten Seiten findet sich auch der Zielpunkt der bis dahin eher unterschwelligen Gesellschaftsanalyse, eine Fundamentalkritik, die in Neid und Undank die herrschenden Prinzipien erkennt.
Das lässt nur eine Lösung zu, nämlich den Rückzug, ohne freilich gleich revolutionär zu werden. In Pickarts Gastropoetik klingt das so: "Nein! - Ich will lieber das Butterbrod welches mir vor Ärger und Verdruß im Hals stecken bleibt, meiden! Will lieber beim Invaliden Corps ein drockenes Stück brod essen, welches mir vieleicht ungehindert und wohlbesegned in den Magen hinab gleitet."
Den Herausgebern und dem Verlag gebühren Dank und verlegerische Anerkennung , dass sie den Wert und die hohen Ambitionen dieser bislang unbekannten Erzählung nicht nur erkannt, sondern in einem schönen Band und in der Originaldiktion dem allgemeinen Publikum zugänglich gemacht haben, anstatt sie etwa in einem Fachorgan zu verstecken.
OLIVER JUNGEN
Johann Christoph Pickert: "Die Lebens-Geschichte des Unter-Officier Pickert. Invalide bey der 7.ten Compagnie". Herausgegeben von Gotthardt Frühsorge und Christoph Schreckenberg. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 172 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kurios: Leben und Ansichten des Invaliden Johann Chr. Pickert
"Diese kleine Geschichte welche ich von meinem Leben sehr früh anfange, würde bei manchen (sic) Leser Zweifel erregen." In der Tat, das tut sie, hochinteressierten Zweifel allerdings. Vor diesem Eindruck schützt auch der erste Satz nicht, ganz im Gegenteil. Dass der preußische Unteroffizier Johann Christoph Pickert seine "Lebens-Geschichte" aus den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts mit einer poetologischen Selbstreflexion über das Pränatale beginnt, die eines Tristram Shandy würdig wäre, lässt einiges erwarten - und die Erwartung wird nicht enttäuscht.
Der Zweifel könnte auch an anderer Stelle einsetzen. Zwei Herausgeber haben "im Antiquariatshandel" eine unbekannte Handschrift erworben: die alte Manuskriptfiktion, klingelt es jedem Literaturwissenschaftler im Ohr, der nur einmal mit Christoph Martin Wieland in Kontakt kam. Doch die Handschrift existiert wirklich. Der Bibliothekar Christoph Schreckenberg hat sie im August 2000 in Hildesheim erstanden und gemeinsam mit dem Philologen Gotthardt Frühsorge ediert. Dazu wurde sie aufbereitet und mit einem hilfreichen Nachwort versehen.
Alle vorkommenden Personen konnten mittels Kirchenbüchern und anderer Quellen identifiziert werden. Es sei natürlich möglich, so räumt Frühsorge im Gespräch mit dieser Zeitung ein, dass hier eine Abschrift vorliege, denn weitere Handschriftenzeugnisse Pickerts existieren nicht. Doch auch in diesem Fall stammte das Werk - das Papier gibt darüber Aufschluss - aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Ob also Johann Christoph Pickert selbst oder doch ein Redigator für die beachtliche Durchformung des Stoffes und den pointenhaften Stil verantwortlich ist, bleibt ungewiss. Gerecht wird man dem Büchlein indes nur, wenn man es wie etwa Ulrich Bräkers (freilich noch anspruchsvollere) Autobiographie "Der arme Mann im Tockenburg" von 1789 als Literatur betrachtet, nicht lediglich als mentalitätsgeschichtliches Dokument.
Die Passionsgeschichte des Soldaten Pickert, der nach zwanzig von der preußischen Heeresverfassung vorgesehenen Dienstjahren aufgrund von Blasenschwäche vom sechsten brandenburgischen Kürassier-Regiment in eine Invalidenkompanie wechselte, ist nicht durchweg tragisch. Schon innerhalb der Erzählung wird viel gelacht (bis "der Bauch schutterte"), meistens über Ungeschicklichkeiten. Zumal auf der narrativen Ebene aber haben die körperlichen Versehrungen und Stilbrüche einen grobianisch-komischen Effekt.
Oft scheinen sie gegen Autoritäten gerichtet zu sein. Zweimal etwa wird Medizin verordnet, in beiden Fällen mit fatalen Folgen: Einmal stirbt ein Kamerad röchelnd daran, der nächste Einsatz führt bei Pickert zu lebensbedrohlichen Krämpfen: "Die scharfe Saure hatte mir die Zähne so gelößt und gestumpft daß ich in acht Tagen nicht ein weich gekochte Ertoffel beißen konnte." Überhaupt scheint dieser Kürassier vor allem das stets bedrohte Wohl seines Körpers im Sinn zu haben, während andere zur selben Zeit das Abendland versinken sehen: Austerlitz, Jena, Auerstedt. Johann Christoph Pickert, immer am Ort des Geschehens, interessiert das Getümmel wenig; er führt stattdessen genauestens Buch über seinen Kartoffelkonsum.
Schon auf einem seiner ersten Einsätze gegen die Franzosen wird der junge Soldat mit dem Tod im Feld konfrontiert. Selbst den Pferden, so notiert er, würden die Füße abgeschossen. Weit größeren Raum nimmt jedoch gleich darauf die folgende Szene ein: Die Abendration Pellkartoffeln wurde unabsichtlich zu einem Brei vermengt und ist nun ungenießbar. Von den Quartiergebern wird die Bitte um eine weitere Portion Brühkartoffeln ausnahmsweise erhört. Die Soldaten schälen selbst, doch erneut geschieht ein Unglück: Beim ersten Bissen hat Pickert mehr Wolle als Kartoffeln im Mund, denn offenbar wurde "ein ganzes Schaaf mit Haut und Haar" mitgekocht.
Ähnliche "Strabatien" gibt es in den meisten Quartieren. Doch man unterschätze diesen Erzähler nicht, der schließlich spottend angekündigt hat, die Politik den Besserwissern zu überlassen: "Ein Soldat (...) kann von Krieg nicht so viel erzählen, als Einer beim vollen Glase neben den Ofen aus die Zeitung deklamiert." Und doch macht er auf seine Weise unablässig deutlich, was Krieg bedeutet: Hunger und Schmerzen. Dabei unterscheidet sich Gefangenschaft kaum von den üblichen Verhältnissen. Gegen die Franzosen wiederum hat Pickert nichts. Auch sonst kennt er keinen Nationalstolz: "Dieserhalb glaube man nicht das wier die besten Menschen sind."
Man darf diese "Lebens-Geschichte" - mit allen Einschränkungen - als literarisch überformten Gegendiskurs lesen, als Subversion jener hegemonialen Perspektive "aus die Zeitung". Ebendies macht sie so wertvoll. Sich selbst führt Johann Christoph Pickert dabei als eine Art Pikaro ein, welcher, als Frucht eines Fehltritts, bereits unsanft ins Dasein entlassen wurde: "Meine Mutter hatte den ersten Januar eine solche Eßlust zum sauren Kohl, und that sich auch den Magen dermaßen damit überladen, das es mir unerträglich ward länger in dem Sauren Kohlbauch zu verweilen indem meine Mine schon finster war und durch diese scharfe Säure noch finsterer werden konnte."
Was aber ist das für ein Jammertal, diese Welt: "Hier kamen erst Beschwärden die ich nie zu ertragen glaubte." Nachdem das Kind erste Krankheiten überstanden hat, darf es bei der Mutter, einer Schneiderin, auf dem Tisch sitzen, "wobei ich mit Mauersteinen belegt war, damit ich nicht umfiel". Pickerts Miene dürfte sich auch nicht davon aufgehellt haben, dass er bald eine Treppe hinabstürzte: "Meine Mutter die mir für Todt hielt, wußte nicht was sie mit mir machen sollte." Doch gute Freunde geben den Rat, auf den Knaben mit einer Birkenrute einzuschlagen, und diese Hiebe rufen unseren Protagonisten ins Leben zurück: eine abstruse, preußische Auferstehungsszene.
Zunächst erlernt Johann Christoph Pickert das Handschuhmacherhandwerk bei einem Meister in Wolmirstedt, die einzig idyllische Periode seines Lebens. Ihr "bestes Vergnügen" hatten die Gesellen, wenn sie abends Mädchen beim Baden erschreckten und auch sonst näher kennenlernten. Seine Schwäche für das schöne Geschlecht behielt der Rekrut Pickert bei, was ihm allerdings manchen Ärger bescherte. Häufig kam es, wie wir lesen, zum "Einverständniß", an vielen Orten gleich mehrfach: "gefiel es mir nicht bei der einen so ging ich zur anderen". Diese immer wie nebenbei mitlaufende Casanova-Handlung wirkt wie ein Korrektiv zu jenem Gehorsam, den Johann Christoph Pickert bei allem Eigeninteresse eben auch an den Tag legt.
Den hohen Gestaltungswillen bezeugen weiterhin die dialogische Eingangssequenz sowie der klassische Erzählbogen: Von Haldensleben aus geht es in die Welt. In das Städtchen bei Magdeburg kehrt der Protagonist schließlich noch einmal zurück, nachdem er vom Tod der Eltern erfahren hat. Zum Einstieg hat Pickert ein Gespräch zwischen Stiefvater, Mutter, dem vierjährigen Christoph und dessen Vetter entworfen: Es beginnt, schon dies ist programmatisch, mit der Weigerung des Knaben, dem Stiefvater "ein packeth Toback" zu holen, was diesen erzürnt, die Mutter aber zu einer klugen Reflexion über die Reziprozität von Vater- und Kinderliebe veranlasst.
Christoph verspricht dem Vetter, welchem er "anjetzo nur unbedeutendes sagen" könne, dereinst seine "nur unbedeutende Geschichte" schriftlich zu überreichen. Durch einen Sprung in die Erzählzeit reicht er die Bemerkung nach, dies hiermit zu erfüllen.
Auch die Liebe ist präsent in dieser Erzählung: All die Jahre nämlich erwartet Pickert in der Heimat seine Jugendliebe Juliane: "Wer widersteht die Probe wenn ein schönes Geschlecht ihre Schlinge auswirft, und man sich in solche gefangen sieht, und ich entging ihrer Schlinge nicht." Tragisch wirkt da der Schluss, als der Held nach einem letzten Besuch bei der gealterten Juliane nach Rathenow entflieht, "wo mir eine junge, reitzende, schöne die Hand und Mund zum Willkommen reichte". Auf diesen letzten Seiten findet sich auch der Zielpunkt der bis dahin eher unterschwelligen Gesellschaftsanalyse, eine Fundamentalkritik, die in Neid und Undank die herrschenden Prinzipien erkennt.
Das lässt nur eine Lösung zu, nämlich den Rückzug, ohne freilich gleich revolutionär zu werden. In Pickarts Gastropoetik klingt das so: "Nein! - Ich will lieber das Butterbrod welches mir vor Ärger und Verdruß im Hals stecken bleibt, meiden! Will lieber beim Invaliden Corps ein drockenes Stück brod essen, welches mir vieleicht ungehindert und wohlbesegned in den Magen hinab gleitet."
Den Herausgebern und dem Verlag gebühren Dank und verlegerische Anerkennung , dass sie den Wert und die hohen Ambitionen dieser bislang unbekannten Erzählung nicht nur erkannt, sondern in einem schönen Band und in der Originaldiktion dem allgemeinen Publikum zugänglich gemacht haben, anstatt sie etwa in einem Fachorgan zu verstecken.
OLIVER JUNGEN
Johann Christoph Pickert: "Die Lebens-Geschichte des Unter-Officier Pickert. Invalide bey der 7.ten Compagnie". Herausgegeben von Gotthardt Frühsorge und Christoph Schreckenberg. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 172 S., geb., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Unspektakulär und wertvoll zugleich findet Alexander Kosenina die Lebensgeschichte des Unteroffiziers Pickert. Nicht die zu entdeckenden poetischen Perlen begeistern Kosenina, sondern die "naturbelassene Rohheit" des "wortgetreu edierten" Textes. Durch sie erst erlangen Pickerts Aufzeichnungen jene Stellvertreterfunktion für "zahllose Gelegenheitsschreiber", die Kosenina fasziniert. Allerdings wird dem Rezensenten schnell bewusst, welchen Glücksfall die eingestreuten literarischen Reflexionen und Gestaltungsweisen darstellen. Für den weitaus größeren, "holprigen" Teil dieser Memoiren empfiehlt Kosenina lakonisch "Lesedisziplin". Den geduldigen Leser, verspricht er, belohnt das Büchlein schließlich mit einer "exemplarischen" Darstellung des alltäglichen Lebens kleiner Leute vor zweihundert Jahren, mit Kostproben des "zeitgenössischen Deutsch der Region Magdeburg" und mit einem "irritierend" unpolitischen Blick auf die Kriege jener Zeit, in denen der Verfasser diente.
© Perlentaucher Medien GmbH
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