Drei Generationen. Eine Lebensgeschichte 1946 wird im Nordwesten Deutschlands ein Kind geboren. Der Vater ist Pole, Soldat der Besatzungstruppen, die Mutter eine Deutsche. Die Liebe scheitert. Das Kind wächst heran, ohne den Vater, der in seine Heimat zurückgekehrt ist, je kennenzulernen. Viele Jahre später macht sich Kolja Mensing, der Enkel jenes polnischen Soldaten, auf die Suche nach einem Phantom.
Der Journalist Kolja Mensing erzählt diese Suche suggestiv und anschaulich wie einen Roman. Von der vorsichtigen Annäherung dreier Generationen, die durch die historischen Verwerfungen des 20. Jahrhundert von einander getrennt wurden, aber auch davon, wie Erinnerungen in Familien weitergegeben und dabei wie von selbst zu Literatur werden.
Der Journalist Kolja Mensing erzählt diese Suche suggestiv und anschaulich wie einen Roman. Von der vorsichtigen Annäherung dreier Generationen, die durch die historischen Verwerfungen des 20. Jahrhundert von einander getrennt wurden, aber auch davon, wie Erinnerungen in Familien weitergegeben und dabei wie von selbst zu Literatur werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011Süß schmeckt nur der Mohn
Heldensuche: Kolja Mensing erforscht die Geschichte seiner Familie und entzaubert dabei nicht nur "Die Legenden der Väter".
Von Sandra Kegel
Auf das Kind wirkten die Erinnerungen des Vaters wie Berichte aus einem verzauberten Land, wenn er davon erzählte, wie er in der Tischlerei des Großvaters mit Holzresten spielte, Nägel sortierte und in Musterbüchern für Messingbeschläge blätterte. Von den Geschichten konnte das Kind nicht genug bekommen, weil es fest daran glaubte, dass ihm nichts passieren würde, "solange mein Vater mit seiner tiefen Stimme in wenigen Sätzen die Zeit seiner Kindheit heraufbeschwören konnte", schreibt Kolja Mensing. Dass es sich in Wahrheit um Geschichten eines zu Tode erschreckten Jungen in den fünfziger Jahren handelte, der in der Werkstatt des Großvaters Zuflucht suchte, wurde dem Sohn erst als erwachsenem Schriftsteller bewusst - aber dann auch gleich zum literarischen Stoff.
Mehr als dreißig Jahre sollte Kolja Mensing die Erinnerungen seines Vaters mit sich herumtragen. Dann erst begann der 1971 in Oldenburg geborene Autor und Journalist sie zu erforschen. Was von dieser Dekonstruktion am Ende übrig bleibt, sind Märchen, Luftschlösser, Legenden, eben "Die Legenden der Väter", wie Mensing sein Buch genannt hat. Es ist kein Roman, der literarisch ambitioniert eine Familiengeschichte aufarbeitet, es ist auch kein Sachbuch über die polnische Besetzung des Emslands. Vielmehr trifft der Untertitel die Sache ziemlich genau: Tatsächlich ist es "Eine Suche", die Mensing mit Heidegger im Sinn unternimmt, wonach jedes Fragen zugleich ein Suchen ist.
Das erzählerische Fragen nach der eigenen Herkunft hat in diesem Herbst Konjunktur. Betrachtet man nur einmal die Romane von Josef Bierbichler, Jan Brandt oder Eugen Ruge, sieht man freilich ganz unterschiedliche formale wie reflexive Herangehensweisen an das große Thema Heimat. Der Journalist Mensing stellt sich in seinem Buch ganz in den Dienst der Recherche. Alles, was er erzählt, meint man beim Lesen, könnte sich tatsächlich so ereignet haben. Mensings Sprache, die sich zunächst eher zaghaft der Familie nähert, die durch die politischen Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts zerrissen wurde, ist klar, schnörkellos und von lautloser Trauer.
Kolja Mensing ist sechs Jahre alt, als er den Namen Jósef Kózlik zum ersten Mal hört und erfährt, dass der Mann sein Großvater ist. Bald ranken sich die abenteuerlichsten Geschichten um den Polen, der im Krieg Fallschirmspringer war, von den deutschen Truppen desertierte, um über Palästina zu den britischen Truppen zu stoßen und in der berühmten Anders-Armee gegen die Deutschen zu kämpfen.
In Romanen, in denen es um Familien und ihre Geheimnisse geht, beobachtet Mensing, gebe es meist einen Moment, in dem der Erzähler, ausgelöst etwa durch die achtlose Bemerkung eines Verwandten oder ein zufällig wiederentdecktes Foto, plötzlich Einsicht in eine dunkle Vergangenheit erhält. Er selbst habe kein solches Erlebnis gehabt. Vielmehr habe stets alles offen zutage gelegen. Bloß habe er "das Geflecht von widersprüchlichen Geschichten und einzelnen, unverbundenen Erinnerungen einfach nur lange Zeit nicht hinterfragt".
Als er damit anfängt, hält er sich gerade als Stipendiat in einer Krakauer Villa auf. Die Kurzgeschichten über bindungsunfähige Großstädter, an denen er sich versucht, wollen nicht recht gelingen, da kommt ihm der Großvater in den Sinn, jene Figur, die ihn als Kind so gefesselt hat. Von Krakau aus begibt er sich auf die Reise über Oskusz ins oberschlesische Industriegebiet mit seinen Bergwerken und Stahlfabriken, in Jósef Kózliks Heimatstadt Lubliniec. Dort, tausend Kilometer östlich von der norddeutschen Heimat, nimmt die verborgene Familiengeschichte ihren Anfang, als eine junge hübsche Frau, Jósefs Mutter, ein Auge verliert, weil ein enttäuschter Liebhaber mit einem Luftgewehr auf sie schießt.
Zehn Jahre beschäftigt sich Mensing mit der Geschichte des fremden Großvaters, der 1945 als Besatzungssoldat mit der norddeutschen Tischlertochter Marianne ein uneheliches Kind zeugt, Mensings Vater. Kolja Mensing hat Jósef nie kennen gelernt, er starb, noch keine sechzig Jahre alt, arm und krank. Auch Mensings Vater traf ihn nur ein einziges Mal, als er selbst schon eine Familie gegründet hatte. Dass Verstorbene, die selbst zu Lebzeiten überwiegend abwesend waren, gleichwohl die Geschicke einer Familie bis in die übernächste Generation hinein prägen können, auch davon handelt diese Geschichte.
Auf knapp zweihundertdreißig Seiten schildert Mensing, wie er sich in die großen und kleinen Geschichten vergräbt. Detektivisch arbeitet er sich durch Archive und Kirchenchroniken, um auf Spuren seiner Vorfahren zu stoßen. Er besucht Sprachkurse, um Interviews auf Polnisch führen zu können, er reist in oberschlesische Ortschaften, wo man Kaffee ungefiltert trinkt und süßen Mohnkuchen isst und wo noch immer Pferdefuhrwerke durch die Straßen rumpeln. Nicht immer empfängt man ihn freundlich, hält man ihn doch meist für einen Vertriebenen, der "Genealogia", Ahnenforschung, betreibt. Es ist dieses langsame Vortasten, diese immer größer werdende Diskrepanz zwischen den eigenen Erlebnissen und den Erinnerungen an den Helden aus den Gutenachtgeschichten seiner Kindheit, die fesseln. Nur schade, dass sich der Autor immer wieder selbst dabei unterbricht, indem er, ganz und gar unnötig, in bisweilen langatmigen Resümees historische Zusammenhänge erläutert.
Es kommt, wie es kommen muss: Jósef Kózlik verließ Frau und Kind Ende der vierziger Jahre nicht, wie es die Familienlegende besagte, aus einer unglücklichen Verkettung der Umstände, die ihn als Geschäftsmann im Westen scheitern ließ. Im Gegenteil entpuppt er sich als fragwürdiger, jedenfalls meist glückloser Zeitgenosse, der vor allem ein Alkoholproblem hat. Das strahlende Heldenbild von Jósef bricht in sich zusammen wie die monumentalen Kommunistendenkmäler nach der Wende. Für Kolja Mensings Vater jedoch war Jósef der unbekannte, ferne Vater, nach dem er sich ein Leben lang sehnte. Er war die Heiligenfigur seiner Phantasie, weil sie es ihm als Kind möglich machte, die täglichen Prügel seiner Mutter, die im Dorf nur die Polenhure hieß, überhaupt zu ertragen.
Kolja Mensing: "Die Legenden der Väter". Eine Suche.
Aufbau Verlag, Berlin 2011. 234 S., geb. 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heldensuche: Kolja Mensing erforscht die Geschichte seiner Familie und entzaubert dabei nicht nur "Die Legenden der Väter".
Von Sandra Kegel
Auf das Kind wirkten die Erinnerungen des Vaters wie Berichte aus einem verzauberten Land, wenn er davon erzählte, wie er in der Tischlerei des Großvaters mit Holzresten spielte, Nägel sortierte und in Musterbüchern für Messingbeschläge blätterte. Von den Geschichten konnte das Kind nicht genug bekommen, weil es fest daran glaubte, dass ihm nichts passieren würde, "solange mein Vater mit seiner tiefen Stimme in wenigen Sätzen die Zeit seiner Kindheit heraufbeschwören konnte", schreibt Kolja Mensing. Dass es sich in Wahrheit um Geschichten eines zu Tode erschreckten Jungen in den fünfziger Jahren handelte, der in der Werkstatt des Großvaters Zuflucht suchte, wurde dem Sohn erst als erwachsenem Schriftsteller bewusst - aber dann auch gleich zum literarischen Stoff.
Mehr als dreißig Jahre sollte Kolja Mensing die Erinnerungen seines Vaters mit sich herumtragen. Dann erst begann der 1971 in Oldenburg geborene Autor und Journalist sie zu erforschen. Was von dieser Dekonstruktion am Ende übrig bleibt, sind Märchen, Luftschlösser, Legenden, eben "Die Legenden der Väter", wie Mensing sein Buch genannt hat. Es ist kein Roman, der literarisch ambitioniert eine Familiengeschichte aufarbeitet, es ist auch kein Sachbuch über die polnische Besetzung des Emslands. Vielmehr trifft der Untertitel die Sache ziemlich genau: Tatsächlich ist es "Eine Suche", die Mensing mit Heidegger im Sinn unternimmt, wonach jedes Fragen zugleich ein Suchen ist.
Das erzählerische Fragen nach der eigenen Herkunft hat in diesem Herbst Konjunktur. Betrachtet man nur einmal die Romane von Josef Bierbichler, Jan Brandt oder Eugen Ruge, sieht man freilich ganz unterschiedliche formale wie reflexive Herangehensweisen an das große Thema Heimat. Der Journalist Mensing stellt sich in seinem Buch ganz in den Dienst der Recherche. Alles, was er erzählt, meint man beim Lesen, könnte sich tatsächlich so ereignet haben. Mensings Sprache, die sich zunächst eher zaghaft der Familie nähert, die durch die politischen Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts zerrissen wurde, ist klar, schnörkellos und von lautloser Trauer.
Kolja Mensing ist sechs Jahre alt, als er den Namen Jósef Kózlik zum ersten Mal hört und erfährt, dass der Mann sein Großvater ist. Bald ranken sich die abenteuerlichsten Geschichten um den Polen, der im Krieg Fallschirmspringer war, von den deutschen Truppen desertierte, um über Palästina zu den britischen Truppen zu stoßen und in der berühmten Anders-Armee gegen die Deutschen zu kämpfen.
In Romanen, in denen es um Familien und ihre Geheimnisse geht, beobachtet Mensing, gebe es meist einen Moment, in dem der Erzähler, ausgelöst etwa durch die achtlose Bemerkung eines Verwandten oder ein zufällig wiederentdecktes Foto, plötzlich Einsicht in eine dunkle Vergangenheit erhält. Er selbst habe kein solches Erlebnis gehabt. Vielmehr habe stets alles offen zutage gelegen. Bloß habe er "das Geflecht von widersprüchlichen Geschichten und einzelnen, unverbundenen Erinnerungen einfach nur lange Zeit nicht hinterfragt".
Als er damit anfängt, hält er sich gerade als Stipendiat in einer Krakauer Villa auf. Die Kurzgeschichten über bindungsunfähige Großstädter, an denen er sich versucht, wollen nicht recht gelingen, da kommt ihm der Großvater in den Sinn, jene Figur, die ihn als Kind so gefesselt hat. Von Krakau aus begibt er sich auf die Reise über Oskusz ins oberschlesische Industriegebiet mit seinen Bergwerken und Stahlfabriken, in Jósef Kózliks Heimatstadt Lubliniec. Dort, tausend Kilometer östlich von der norddeutschen Heimat, nimmt die verborgene Familiengeschichte ihren Anfang, als eine junge hübsche Frau, Jósefs Mutter, ein Auge verliert, weil ein enttäuschter Liebhaber mit einem Luftgewehr auf sie schießt.
Zehn Jahre beschäftigt sich Mensing mit der Geschichte des fremden Großvaters, der 1945 als Besatzungssoldat mit der norddeutschen Tischlertochter Marianne ein uneheliches Kind zeugt, Mensings Vater. Kolja Mensing hat Jósef nie kennen gelernt, er starb, noch keine sechzig Jahre alt, arm und krank. Auch Mensings Vater traf ihn nur ein einziges Mal, als er selbst schon eine Familie gegründet hatte. Dass Verstorbene, die selbst zu Lebzeiten überwiegend abwesend waren, gleichwohl die Geschicke einer Familie bis in die übernächste Generation hinein prägen können, auch davon handelt diese Geschichte.
Auf knapp zweihundertdreißig Seiten schildert Mensing, wie er sich in die großen und kleinen Geschichten vergräbt. Detektivisch arbeitet er sich durch Archive und Kirchenchroniken, um auf Spuren seiner Vorfahren zu stoßen. Er besucht Sprachkurse, um Interviews auf Polnisch führen zu können, er reist in oberschlesische Ortschaften, wo man Kaffee ungefiltert trinkt und süßen Mohnkuchen isst und wo noch immer Pferdefuhrwerke durch die Straßen rumpeln. Nicht immer empfängt man ihn freundlich, hält man ihn doch meist für einen Vertriebenen, der "Genealogia", Ahnenforschung, betreibt. Es ist dieses langsame Vortasten, diese immer größer werdende Diskrepanz zwischen den eigenen Erlebnissen und den Erinnerungen an den Helden aus den Gutenachtgeschichten seiner Kindheit, die fesseln. Nur schade, dass sich der Autor immer wieder selbst dabei unterbricht, indem er, ganz und gar unnötig, in bisweilen langatmigen Resümees historische Zusammenhänge erläutert.
Es kommt, wie es kommen muss: Jósef Kózlik verließ Frau und Kind Ende der vierziger Jahre nicht, wie es die Familienlegende besagte, aus einer unglücklichen Verkettung der Umstände, die ihn als Geschäftsmann im Westen scheitern ließ. Im Gegenteil entpuppt er sich als fragwürdiger, jedenfalls meist glückloser Zeitgenosse, der vor allem ein Alkoholproblem hat. Das strahlende Heldenbild von Jósef bricht in sich zusammen wie die monumentalen Kommunistendenkmäler nach der Wende. Für Kolja Mensings Vater jedoch war Jósef der unbekannte, ferne Vater, nach dem er sich ein Leben lang sehnte. Er war die Heiligenfigur seiner Phantasie, weil sie es ihm als Kind möglich machte, die täglichen Prügel seiner Mutter, die im Dorf nur die Polenhure hieß, überhaupt zu ertragen.
Kolja Mensing: "Die Legenden der Väter". Eine Suche.
Aufbau Verlag, Berlin 2011. 234 S., geb. 18,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kolja Mensings Suche nach Spuren seines polnischen, nur aus verklärenden Erzählungen des eigenen Vaters bekannten Großvaters ist weder ein literarisch ambitionierter Familienroman noch Sachbuch, sondern eine sprachlich klar verfasste Dekonstruktion "im Dienst der Recherche", schreibt Sandra Kegel. Gefesselt verfolgt die Rezensentin, wie Mensing mit einigem Aufwand - zehn Jahre arbeitete sich Mensing durch Archive und führte Interviews, nicht ohne zuvor Polnisch gelernt zu haben - zum ernüchternden Kern der Geschichte vordringt: So entpuppt sich der vom Vater hochgehaltene Großvater am Ende als "fragwürdiger, jedenfalls meist glückloser Zeitgenosse". Bedauerlich findet Kegel es allein, dass diese historische Detektivarbeit mitunter durch etwas langatmige Geschichtserklärungen unterbrochen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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