Was will die Philosophie? Michael Hampe stellt fest: Sie will belehren und erziehen. Zu diesem Zweck stellt sie Behauptungen auf. Aristoteles behauptet, dass die Welt ewig ist, Thomas von Aquin, dass sie geschaffen wurde. Descartes behauptet, dass es zwei, Spinoza, dass es nur eine Substanz gibt. Und so weiter. Doch was ist das eigentlich für ein Vorhaben - andere belehren? Und hat nicht schon Sokrates dieses Projekt in Frage gestellt?
Hampe untersucht das komplizierte Verhältnis von Philosophie, Erziehung und Erzählung und entwickelt eine sokratisch inspirierte Kritik philosophischer Lehren. Behaupten ist ihm zufolge nur dann ein sinnvolles Projekt, wenn man erklären kann. Erklären ist aber etwas anderes, als Gefolgschaft zu Behauptungen zu organisieren. Es heißt, zu erzählen: von Prozessen der Selbsterkenntnis - von den Leben derer, denen etwas einleuchtet. In diesem Sinne sind Sophokles und Proust Philosophen. Und erziehen heißt nicht, Menschen dazu zu bringen, Neues über die Welt zu behaupten, sondern dazu, von ihr zu berichten, die Verhältnisse auf ihr zu kritisieren. Das wusste schon John Dewey.
Die Lehren der Philosophie ist Einführung, Kritik und Utopie in einem. Hampe zeigt, wie und warum die Philosophie zu dem geworden ist, was sie heute ist: ein akademisches Karriereprogramm, ein zahnloser Tiger im Dschungel der Welt. Und was sie (wieder) sein könnte, wenn sie sich von ihrem doktrinären Anspruch verabschieden würde: ein besonderer Ort des Nachdenkens über das menschliche Leben.
Hampe untersucht das komplizierte Verhältnis von Philosophie, Erziehung und Erzählung und entwickelt eine sokratisch inspirierte Kritik philosophischer Lehren. Behaupten ist ihm zufolge nur dann ein sinnvolles Projekt, wenn man erklären kann. Erklären ist aber etwas anderes, als Gefolgschaft zu Behauptungen zu organisieren. Es heißt, zu erzählen: von Prozessen der Selbsterkenntnis - von den Leben derer, denen etwas einleuchtet. In diesem Sinne sind Sophokles und Proust Philosophen. Und erziehen heißt nicht, Menschen dazu zu bringen, Neues über die Welt zu behaupten, sondern dazu, von ihr zu berichten, die Verhältnisse auf ihr zu kritisieren. Das wusste schon John Dewey.
Die Lehren der Philosophie ist Einführung, Kritik und Utopie in einem. Hampe zeigt, wie und warum die Philosophie zu dem geworden ist, was sie heute ist: ein akademisches Karriereprogramm, ein zahnloser Tiger im Dschungel der Welt. Und was sie (wieder) sein könnte, wenn sie sich von ihrem doktrinären Anspruch verabschieden würde: ein besonderer Ort des Nachdenkens über das menschliche Leben.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Tim Caspar Boehme weiß Michael Hampes Plädoyer für ein nichtdoktrinäres Denken zu schätzen. Die kritische Auseinandersetzung des Philosophen mit der doktrinären, akademischen Philosophie legt in seinen Augen den Finger in die Wunde der gegenwärtigen philosophischen Praxis, die unter fortschreitenden Bedeutungsverlust zu leiden hat. Auch wenn Boehme nicht alles, was der Autor schreibt, brandneu erscheint, findet er hier viel Bedenkenswertes auf den Punkt gebracht. Insbesondere wird für ihn deutlich, was es heißt, die Bedeutung argumentativer Rationalität im Alltag zu verstehen. Denn, so der Rezensent: "einfach stur auf 'der Vernunft' zu beharren, reicht manchmal eben nicht."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2014Unendliches Erzählen
Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik:
Michael Hampe kritisiert das wuchtige Behaupten
VON OLIVER MÜLLER
Elizabeth Costello ist berühmt für ihren Roman, in dem sie Molly Bloom aus der Enge befreit, die ihr James Joyce in Ulysses zugedacht hatte. Als preisgekrönte Schriftstellerin meldet sie sich immer wieder zu ethischen Fragen zu Wort, insbesondere zur Tierethik. Ihre Thesen sind umstritten, gerade auch wegen recht plumper Holocaust-Vergleiche. Trotzdem hat ihre spröde, manchmal funkelnde Stimme in der Debatte Gewicht. Aus diesem Grund fühlte sich der bekannte Philosoph Peter Singer bemüßigt, auf sie zu reagieren. Allerdings hatte er ein gewisses Problem: Elizabeth Costello ist eine Fiktion, sie ist die Erfindung des Schriftstellers J.M. Coetzee.
Nach der Lesung eines Kapitels, in dem Costello einen Vortrag über Tiere hält, wurde es Singer derart unbehaglich zumute, dass er an Coetzee einen ebenfalls fiktiven Dialog (mit seiner Tochter) schickt, weil er nicht weiß, wen er ansprechen soll. Denn wer behauptet die gewagten Thesen, Costello oder Coetzee? Und welche Bedeutung hat so jemand wie Costellos Schwiegertochter, die jene Thesen harsch ablehnt? Das Spiel der Stimmen verwirrt Singer: es müsse manifeste Behauptungen geben!
Genau dies zieht der Philosoph Michael Hampe in Zweifel. Sein neuestes Buch „Die Lehren der Philosophie“ heißt im Untertitel „Eine Kritik“. Es ist eine Kritik an der Tradition des wuchtigen Behauptens. Wer etwas behauptet, drückt damit ein sicheres Wissen aus; will mit seinen Behauptungen Adepten und andere Orientierungsbedürftige an sich binden; will seine Behauptungen gegen andere Behauptungen durchsetzen. Dies ist nach Hampe die doktrinäre Tradition der Philosophie mit ihren großen Lehren über die Welt und die Seele von Platon bis hin zur analytischen Philosophie des Geistes unserer Tage.
Eine nichtdoktrinäre Philosophie will dagegen nicht behaupten, sondern das Behaupten als Sprechweise kritisch befragen; sie will ausprobieren, experimentieren, erzählen. Hampe will ein Verständnis von Philosophie entwickeln, „wonach die reflektierende philosophische Tätigkeit ein Experimentieren mit Begriffen ist, um die Fähigkeit zu erweitern, auf die eigenen Erfahrungen reflektierend zu reagieren und gegebenenfalls das menschliche Leben in der Kultur, in der man sich selbst entwickelt hat, zu verändern.“
Hampe weiß sehr gut, dass er sich gewichtige Probleme einhandelt. Insbesondere muss er dieses experimentieren wollende, an möglicher Veränderung überhaupt interessierte Subjekt plausibilisieren – ohne dieses Subjekt selbst zu behaupten. Das Eingeständnis, keine starken, aber doch „unscheinbare“ Behauptungen aufstellen zu müssen, ist Symptom dieses methodischen Problems. Dass ein bisschen behaupten nicht schaden kann, zeigt die anthropologische Hintergrundtheorie, die Hampe dann doch entwirft. Ausgangspunkt ist Sokrates als erster Held nichtdoktrinären Denkens. Der Pragmatismus von Dewey, Cavell und dem späten Wittgenstein bildet das Rückgrat seines vielschichtigen Begriffs von Subjektivität, den Hampe in Kultivierungsleistungen, Anpassungsvorgängen, Zeichenverwendungstheorien und im Horizont „sprachlicher Dissidenz“ verortet. Damit greift er die Offenheit der Vorstellung einer „human complexity“ (Cavell) auf und unterstreicht die Bedeutung individueller Erfahrungen, die sich in den verschiedenen Mustern des Zusammenlebens bilden. Philosophie sei keine Lehre, sondern Tätigkeit, „man kann Philosophie nicht lernen wie Physik“, ist Hampes Formel.
Ein wichtiges Mittel der philosophischen Selbstverständigung ist das Erzählen, weil es vorführen kann, wie eine Person zu ihren Begriffen kommt, wie sich Orientierungen ausbilden, wie jemand um eine Entscheidung ringt. Wenn Hampe die narrative Bedeutung der Philosophie herausarbeitet, dann legt der an der ETH in Zürich lehrende Philosoph auch Rechenschaft über seine eigenen philosophisch-literarischen Experimente der letzten Jahre ab: In dem Buch „Das vollkommene Leben“ hat er vier unterschiedliche Glückstheorien in Narrative gegossen und miteinander reagieren lassen, in „Tunguska oder Das Ende der Natur“ ein Totengespräch über naturphilosophische Grundfragen inszeniert.
Dabei ist ihm das Pathos der narrativen Selbstschöpfung eines Richard Rorty fremd. Das Ende des Behauptens formuliert er vielmehr als eine Utopie der unendlich Erzählenden, „sofern eine unendliche Erzählung es erlaubt, die Abstraktheit, die die Verwendung von Allgemeinbegriffen auch in der prägnantesten Beschreibung mit sich bringt, durch eine Verfeinerung der Beschreibung zu korrigieren, die kein Ende kennt.“ In einer solchen Utopie ist es dann nicht mehr wichtig, ob es Autoritäten wie Singer oder der Nobelpreisträger Coetzee sind, die sich zur Tierethik äußern, es kann auch die schrullige und bissige, die liebenswerte und selbstzweifelnde Elizabeth Costello sein, von der wir etwas über uns und unsere Behauptungsverstrickungen lernen können – wie irritierend der ontologische Status der Costello auch sein mag.
Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Suhrkamp, Berlin 2014, 455 S., 24,95 Euro.
Nichtdoktrinäre Philosophie will
ausprobieren, sie
experimentiert mit Begriffen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik:
Michael Hampe kritisiert das wuchtige Behaupten
VON OLIVER MÜLLER
Elizabeth Costello ist berühmt für ihren Roman, in dem sie Molly Bloom aus der Enge befreit, die ihr James Joyce in Ulysses zugedacht hatte. Als preisgekrönte Schriftstellerin meldet sie sich immer wieder zu ethischen Fragen zu Wort, insbesondere zur Tierethik. Ihre Thesen sind umstritten, gerade auch wegen recht plumper Holocaust-Vergleiche. Trotzdem hat ihre spröde, manchmal funkelnde Stimme in der Debatte Gewicht. Aus diesem Grund fühlte sich der bekannte Philosoph Peter Singer bemüßigt, auf sie zu reagieren. Allerdings hatte er ein gewisses Problem: Elizabeth Costello ist eine Fiktion, sie ist die Erfindung des Schriftstellers J.M. Coetzee.
Nach der Lesung eines Kapitels, in dem Costello einen Vortrag über Tiere hält, wurde es Singer derart unbehaglich zumute, dass er an Coetzee einen ebenfalls fiktiven Dialog (mit seiner Tochter) schickt, weil er nicht weiß, wen er ansprechen soll. Denn wer behauptet die gewagten Thesen, Costello oder Coetzee? Und welche Bedeutung hat so jemand wie Costellos Schwiegertochter, die jene Thesen harsch ablehnt? Das Spiel der Stimmen verwirrt Singer: es müsse manifeste Behauptungen geben!
Genau dies zieht der Philosoph Michael Hampe in Zweifel. Sein neuestes Buch „Die Lehren der Philosophie“ heißt im Untertitel „Eine Kritik“. Es ist eine Kritik an der Tradition des wuchtigen Behauptens. Wer etwas behauptet, drückt damit ein sicheres Wissen aus; will mit seinen Behauptungen Adepten und andere Orientierungsbedürftige an sich binden; will seine Behauptungen gegen andere Behauptungen durchsetzen. Dies ist nach Hampe die doktrinäre Tradition der Philosophie mit ihren großen Lehren über die Welt und die Seele von Platon bis hin zur analytischen Philosophie des Geistes unserer Tage.
Eine nichtdoktrinäre Philosophie will dagegen nicht behaupten, sondern das Behaupten als Sprechweise kritisch befragen; sie will ausprobieren, experimentieren, erzählen. Hampe will ein Verständnis von Philosophie entwickeln, „wonach die reflektierende philosophische Tätigkeit ein Experimentieren mit Begriffen ist, um die Fähigkeit zu erweitern, auf die eigenen Erfahrungen reflektierend zu reagieren und gegebenenfalls das menschliche Leben in der Kultur, in der man sich selbst entwickelt hat, zu verändern.“
Hampe weiß sehr gut, dass er sich gewichtige Probleme einhandelt. Insbesondere muss er dieses experimentieren wollende, an möglicher Veränderung überhaupt interessierte Subjekt plausibilisieren – ohne dieses Subjekt selbst zu behaupten. Das Eingeständnis, keine starken, aber doch „unscheinbare“ Behauptungen aufstellen zu müssen, ist Symptom dieses methodischen Problems. Dass ein bisschen behaupten nicht schaden kann, zeigt die anthropologische Hintergrundtheorie, die Hampe dann doch entwirft. Ausgangspunkt ist Sokrates als erster Held nichtdoktrinären Denkens. Der Pragmatismus von Dewey, Cavell und dem späten Wittgenstein bildet das Rückgrat seines vielschichtigen Begriffs von Subjektivität, den Hampe in Kultivierungsleistungen, Anpassungsvorgängen, Zeichenverwendungstheorien und im Horizont „sprachlicher Dissidenz“ verortet. Damit greift er die Offenheit der Vorstellung einer „human complexity“ (Cavell) auf und unterstreicht die Bedeutung individueller Erfahrungen, die sich in den verschiedenen Mustern des Zusammenlebens bilden. Philosophie sei keine Lehre, sondern Tätigkeit, „man kann Philosophie nicht lernen wie Physik“, ist Hampes Formel.
Ein wichtiges Mittel der philosophischen Selbstverständigung ist das Erzählen, weil es vorführen kann, wie eine Person zu ihren Begriffen kommt, wie sich Orientierungen ausbilden, wie jemand um eine Entscheidung ringt. Wenn Hampe die narrative Bedeutung der Philosophie herausarbeitet, dann legt der an der ETH in Zürich lehrende Philosoph auch Rechenschaft über seine eigenen philosophisch-literarischen Experimente der letzten Jahre ab: In dem Buch „Das vollkommene Leben“ hat er vier unterschiedliche Glückstheorien in Narrative gegossen und miteinander reagieren lassen, in „Tunguska oder Das Ende der Natur“ ein Totengespräch über naturphilosophische Grundfragen inszeniert.
Dabei ist ihm das Pathos der narrativen Selbstschöpfung eines Richard Rorty fremd. Das Ende des Behauptens formuliert er vielmehr als eine Utopie der unendlich Erzählenden, „sofern eine unendliche Erzählung es erlaubt, die Abstraktheit, die die Verwendung von Allgemeinbegriffen auch in der prägnantesten Beschreibung mit sich bringt, durch eine Verfeinerung der Beschreibung zu korrigieren, die kein Ende kennt.“ In einer solchen Utopie ist es dann nicht mehr wichtig, ob es Autoritäten wie Singer oder der Nobelpreisträger Coetzee sind, die sich zur Tierethik äußern, es kann auch die schrullige und bissige, die liebenswerte und selbstzweifelnde Elizabeth Costello sein, von der wir etwas über uns und unsere Behauptungsverstrickungen lernen können – wie irritierend der ontologische Status der Costello auch sein mag.
Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Suhrkamp, Berlin 2014, 455 S., 24,95 Euro.
Nichtdoktrinäre Philosophie will
ausprobieren, sie
experimentiert mit Begriffen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2014Worüber man verstummen kann
Auf die Einzelfälle kommt es an: Michael Hampe geht ganz grundsätzlich mit der Vorstellung ins Gericht, dass die Philosophie theoretische Lehren zu bieten habe.
Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit." So hielt es der frühe Ludwig Wittgenstein fest; und der späte machte daraus eine entschiedene Absage an alle philosophischen Erklärungsansprüche. Nicht um Theorien und Behauptungen geht es bei der philosophischen Tätigkeit, keine Tiefe unterhalb der gewöhnlichen wissenschaftlichen Erklärungen ist auszuloten, und keine hohen Aussichtspunkte sind zu erklimmen, von denen sich das flache Land der bloßen Empirie kartographieren ließe. Es geht vielmehr um Klärungen unseres Sprachgebrauchs.
Wittgenstein steht mit seiner Absage an eine doktrinäre, also an lehrbare Inhalte geknüpfte Philosophie natürlich nicht allein auf philosophischem Feld. In dieser Hinsicht kann man ihm viele hervorstechende Autoren der modernen Philosophie zur Seite stellen, ob nun Husserl oder Dewey, Heidegger oder Adorno. Aber Wittgenstein ist vielleicht derjenige unter ihnen, der sein antidoktrinäres Selbstverständnis am entschiedensten durch die Form seiner Texte zum Ausdruck brachte. Wozu auch gehörte, dass er selbst so gut wie nichts veröffentlichte und die "Philosophischen Untersuchungen" mit ihren dialogischen Mikro-Dramen erst nach seinem Tod erschienen.
Es überrascht deshalb nicht, in Michael Hampes neuem Buch recht bald auf Wittgenstein zu stoßen. Denn die Kritik, die es ausweislich seines Titels enthält, richtet sich gerade gegen die Ansicht, dass es in der Philosophie um Lehren geht, die sich in Thesen und Theorien ausmünzen lassen.
Weshalb man Hampe, Philosophieprofessor an der ETH Zürich, zuerst unweigerlich im Verdacht hat, offene Türen einzurennen. Was wäre schließlich gründlicher abgehandelt als der Gegensatz zwischen einer thesenbegeisterten, mehr oder minder auf die Wissenschaft(en) oder zumindest wissenschaftliche Form setzenden Tradition und den gegen solche Anlehnungen resistenten philosophischen Ausrichtungen? Ein Gegensatz, der sich im nachkantischen neunzehnten Jahrhundert etablierte und heute noch "analytische" und "nichtanalytische" Sphären scheidet.
Aber der Verdacht, dass Hampe da nur auf vorgespurten Wegen geht, ist voreilig. Denn er legt seine Kritik denkbar grundsätzlich an. So grundsätzlich zum einen, dass er bis zu Sokrates als Patenfigur eines antidoktrinären Philosophierens zurückblicken kann - einer Figur, die freilich von Platon und vor allem von einer platonisierenden Tradition als Etappe auf dem Weg zu philosophischen Einsichten durchaus lehrhafter Art in Anspruch genommen wurde. So grundsätzlich verfährt Hampe aber auch, dass nicht nur philosophische Ambitionen auf Theorie und letzte Einsichten bei ihm eingeklammert werden, sondern behauptendes Reden und seine begriffliche Armatur selbst unter Vorbehalt kommen.
Für diese tief zielende Kritik, die doch ihrerseits nicht in Aburteilungen verfallen darf - den Behauptungen mit negativem Vorzeichen -, spielt Wittgenstein eine Rolle. Er ist bei Hampe der Philosoph, der noch den innersten Kern einer platonisierenden, auf unumstößliche Einsichten pochenden Tradition entzaubert, nämlich die Orientierung an der Mathematik: indem er zeigt, dass selbst die Befolgung ihrer Regeln, wie jede im Leben verankerte Praxis, auf einen Prozess der sozialen Abrichtung zurückgeht. Nichts wird da geschaut, wenn wir sie erlernen, keinen vorgegebenen Strukturen oder Wesenheiten werden wir gerecht, sondern eine Praxis wird eingeübt, deren Einhaltung dafür sorgt, dass die Bedeutungen der verwendeten Zeichen stabil bleiben.
Das aber ist, da tritt Wittgenstein gleich wieder in den Hintergrund, genau jene Form von Unterweisung, die Hampe nicht als Grundlage von philosophischer Erziehung, ja von Erziehung überhaupt verstanden und angewendet sehen möchte. Denn bei dieser Erziehung sollte es gerade nicht darum gehen, die Individuen schlicht auf vorgespurten Bahnen zu halten und die angestammten Bedeutungen blind fortzusetzen, sondern Spielräume möglicher neuer Bedeutungen zu eröffnen. Nicht einmal die "Grammatik" unseres üblichen Sprachgebrauchs, die Wittgenstein als Korrektiv vor Augen führen wollte, nimmt er davon aus: Wenn die Gehirnforscher etwa plötzlich das Gehirn denken lassen anstatt die Individuen - wer will's ihnen verwehren, und wer weiß, ob sich da nicht ein zukünftig als korrekt behandelter Gebrauch abzeichnet.
Die platonisierende Tradition optiert für die Sicht, dass wir es zur Passung an vorgegebene Strukturen bringen müssen, die allererst bestimmen, was uns ausmacht. Hampe tritt dafür ein, in unserem Bild den Individuen den Vortritt zu lassen, die in ihrer sozialen Praxis diese allgemein verbindlichen Strukturen hervorbringen - und dafür sorgen, dass Letztere nicht ein für alle Mal festliegen. Und weil klar ist, dass dem Allgemeinen kaum zu entkommen ist, durch das hindurch sich Individualität entwickelt - im Medium einer gemeinsamen Sprache und Lebensform -, wird bei ihm daraus eine ziemlich forcierte, aber gut überlegte Parteinahme für das Einzelne, das nicht im Allgemeinen aufgeht.
Das gemahnt nicht von ungefähr an die emphatische Beschwörung des Nichtidentischen bei Adorno, wird bei Hampe aber nicht zur dialektischen Rüttelfahrt, sondern mündet in eine Apologie des Verstummens als philosophisches Telos eigenen Rechts. Wobei man dem Autor nicht sagen muss, dass aus den entsprechenden Evidenzen, also sprachlosen Vergegenwärtigungen, kein Leben zu bestreiten ist. Aber der "andere Zustand", um es mit Musil zu formulieren, muss doch im Spiel bleiben, soll nicht wieder das Allgemeine den unbedingten Vortritt erhalten: in Gestalt der bestehenden Sprache und Gemeinschaft.
Denn das mit Dewey formulierte Ideal, Letztere zu einer Gemeinschaft wahrhaft eigenständiger, gemeinsam über Ziele und Wege bestimmender Individuen zu machen - Deweys "große Gemeinschaft" und wahrhafte Demokratie, die ihren engeren politischen Begriff hinter sich lässt -, hängt für Hampe gerade an dieser Widerständigkeit des Einzelnen und seiner auszubildenden Fähigkeit, auf die Welt zu reagieren. An einer Widerständigkeit des Einzelnen, für die Hampe auch eine naturphilosophische Grundierung aufbietet, nämlich Natur nicht als Effekt zugrundeliegender Gesetzmäßigkeiten anzusehen, sondern als Arena einzelner Ereignisse; und die auch hervorgehoben wird im ausführlichen Lob der Literatur als Instanz der erzählerischen Bewahrung von Einsichten, die sich nicht in allgemeine Behauptungen konvertieren lassen.
Beides hat Hampe in vorausgehenden, mehrstimmigen und mit erzählerischen Mitteln arbeitenden Büchern schon vor Augen geführt. Man musste sie gar nicht für ganz gelungen halten, um anzuerkennen, dass hier einer mit hohen Einsätzen schreibt (mit exzellenter Kenntnis der philosophischen Haupt- und mancher Nebenwege sowieso). Das gilt auch für dieses Buch, das ein wenig bündiger hätte ausfallen können. Obwohl es dann vielleicht akademische Shortcuts enthielte, deren Vermeidung man Hampe gerade anrechnen muss. Zwar geht es in ihm nicht zuletzt um Kritik am akademischen Selbstverständnis des Fachs, aber gerade deshalb ist es durchaus für Hörer aller Fakultäten geschrieben.
HELMUT MAYER
Michael Hampe: "Die Lehren der Philosophie". Eine Kritik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 455 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf die Einzelfälle kommt es an: Michael Hampe geht ganz grundsätzlich mit der Vorstellung ins Gericht, dass die Philosophie theoretische Lehren zu bieten habe.
Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit." So hielt es der frühe Ludwig Wittgenstein fest; und der späte machte daraus eine entschiedene Absage an alle philosophischen Erklärungsansprüche. Nicht um Theorien und Behauptungen geht es bei der philosophischen Tätigkeit, keine Tiefe unterhalb der gewöhnlichen wissenschaftlichen Erklärungen ist auszuloten, und keine hohen Aussichtspunkte sind zu erklimmen, von denen sich das flache Land der bloßen Empirie kartographieren ließe. Es geht vielmehr um Klärungen unseres Sprachgebrauchs.
Wittgenstein steht mit seiner Absage an eine doktrinäre, also an lehrbare Inhalte geknüpfte Philosophie natürlich nicht allein auf philosophischem Feld. In dieser Hinsicht kann man ihm viele hervorstechende Autoren der modernen Philosophie zur Seite stellen, ob nun Husserl oder Dewey, Heidegger oder Adorno. Aber Wittgenstein ist vielleicht derjenige unter ihnen, der sein antidoktrinäres Selbstverständnis am entschiedensten durch die Form seiner Texte zum Ausdruck brachte. Wozu auch gehörte, dass er selbst so gut wie nichts veröffentlichte und die "Philosophischen Untersuchungen" mit ihren dialogischen Mikro-Dramen erst nach seinem Tod erschienen.
Es überrascht deshalb nicht, in Michael Hampes neuem Buch recht bald auf Wittgenstein zu stoßen. Denn die Kritik, die es ausweislich seines Titels enthält, richtet sich gerade gegen die Ansicht, dass es in der Philosophie um Lehren geht, die sich in Thesen und Theorien ausmünzen lassen.
Weshalb man Hampe, Philosophieprofessor an der ETH Zürich, zuerst unweigerlich im Verdacht hat, offene Türen einzurennen. Was wäre schließlich gründlicher abgehandelt als der Gegensatz zwischen einer thesenbegeisterten, mehr oder minder auf die Wissenschaft(en) oder zumindest wissenschaftliche Form setzenden Tradition und den gegen solche Anlehnungen resistenten philosophischen Ausrichtungen? Ein Gegensatz, der sich im nachkantischen neunzehnten Jahrhundert etablierte und heute noch "analytische" und "nichtanalytische" Sphären scheidet.
Aber der Verdacht, dass Hampe da nur auf vorgespurten Wegen geht, ist voreilig. Denn er legt seine Kritik denkbar grundsätzlich an. So grundsätzlich zum einen, dass er bis zu Sokrates als Patenfigur eines antidoktrinären Philosophierens zurückblicken kann - einer Figur, die freilich von Platon und vor allem von einer platonisierenden Tradition als Etappe auf dem Weg zu philosophischen Einsichten durchaus lehrhafter Art in Anspruch genommen wurde. So grundsätzlich verfährt Hampe aber auch, dass nicht nur philosophische Ambitionen auf Theorie und letzte Einsichten bei ihm eingeklammert werden, sondern behauptendes Reden und seine begriffliche Armatur selbst unter Vorbehalt kommen.
Für diese tief zielende Kritik, die doch ihrerseits nicht in Aburteilungen verfallen darf - den Behauptungen mit negativem Vorzeichen -, spielt Wittgenstein eine Rolle. Er ist bei Hampe der Philosoph, der noch den innersten Kern einer platonisierenden, auf unumstößliche Einsichten pochenden Tradition entzaubert, nämlich die Orientierung an der Mathematik: indem er zeigt, dass selbst die Befolgung ihrer Regeln, wie jede im Leben verankerte Praxis, auf einen Prozess der sozialen Abrichtung zurückgeht. Nichts wird da geschaut, wenn wir sie erlernen, keinen vorgegebenen Strukturen oder Wesenheiten werden wir gerecht, sondern eine Praxis wird eingeübt, deren Einhaltung dafür sorgt, dass die Bedeutungen der verwendeten Zeichen stabil bleiben.
Das aber ist, da tritt Wittgenstein gleich wieder in den Hintergrund, genau jene Form von Unterweisung, die Hampe nicht als Grundlage von philosophischer Erziehung, ja von Erziehung überhaupt verstanden und angewendet sehen möchte. Denn bei dieser Erziehung sollte es gerade nicht darum gehen, die Individuen schlicht auf vorgespurten Bahnen zu halten und die angestammten Bedeutungen blind fortzusetzen, sondern Spielräume möglicher neuer Bedeutungen zu eröffnen. Nicht einmal die "Grammatik" unseres üblichen Sprachgebrauchs, die Wittgenstein als Korrektiv vor Augen führen wollte, nimmt er davon aus: Wenn die Gehirnforscher etwa plötzlich das Gehirn denken lassen anstatt die Individuen - wer will's ihnen verwehren, und wer weiß, ob sich da nicht ein zukünftig als korrekt behandelter Gebrauch abzeichnet.
Die platonisierende Tradition optiert für die Sicht, dass wir es zur Passung an vorgegebene Strukturen bringen müssen, die allererst bestimmen, was uns ausmacht. Hampe tritt dafür ein, in unserem Bild den Individuen den Vortritt zu lassen, die in ihrer sozialen Praxis diese allgemein verbindlichen Strukturen hervorbringen - und dafür sorgen, dass Letztere nicht ein für alle Mal festliegen. Und weil klar ist, dass dem Allgemeinen kaum zu entkommen ist, durch das hindurch sich Individualität entwickelt - im Medium einer gemeinsamen Sprache und Lebensform -, wird bei ihm daraus eine ziemlich forcierte, aber gut überlegte Parteinahme für das Einzelne, das nicht im Allgemeinen aufgeht.
Das gemahnt nicht von ungefähr an die emphatische Beschwörung des Nichtidentischen bei Adorno, wird bei Hampe aber nicht zur dialektischen Rüttelfahrt, sondern mündet in eine Apologie des Verstummens als philosophisches Telos eigenen Rechts. Wobei man dem Autor nicht sagen muss, dass aus den entsprechenden Evidenzen, also sprachlosen Vergegenwärtigungen, kein Leben zu bestreiten ist. Aber der "andere Zustand", um es mit Musil zu formulieren, muss doch im Spiel bleiben, soll nicht wieder das Allgemeine den unbedingten Vortritt erhalten: in Gestalt der bestehenden Sprache und Gemeinschaft.
Denn das mit Dewey formulierte Ideal, Letztere zu einer Gemeinschaft wahrhaft eigenständiger, gemeinsam über Ziele und Wege bestimmender Individuen zu machen - Deweys "große Gemeinschaft" und wahrhafte Demokratie, die ihren engeren politischen Begriff hinter sich lässt -, hängt für Hampe gerade an dieser Widerständigkeit des Einzelnen und seiner auszubildenden Fähigkeit, auf die Welt zu reagieren. An einer Widerständigkeit des Einzelnen, für die Hampe auch eine naturphilosophische Grundierung aufbietet, nämlich Natur nicht als Effekt zugrundeliegender Gesetzmäßigkeiten anzusehen, sondern als Arena einzelner Ereignisse; und die auch hervorgehoben wird im ausführlichen Lob der Literatur als Instanz der erzählerischen Bewahrung von Einsichten, die sich nicht in allgemeine Behauptungen konvertieren lassen.
Beides hat Hampe in vorausgehenden, mehrstimmigen und mit erzählerischen Mitteln arbeitenden Büchern schon vor Augen geführt. Man musste sie gar nicht für ganz gelungen halten, um anzuerkennen, dass hier einer mit hohen Einsätzen schreibt (mit exzellenter Kenntnis der philosophischen Haupt- und mancher Nebenwege sowieso). Das gilt auch für dieses Buch, das ein wenig bündiger hätte ausfallen können. Obwohl es dann vielleicht akademische Shortcuts enthielte, deren Vermeidung man Hampe gerade anrechnen muss. Zwar geht es in ihm nicht zuletzt um Kritik am akademischen Selbstverständnis des Fachs, aber gerade deshalb ist es durchaus für Hörer aller Fakultäten geschrieben.
HELMUT MAYER
Michael Hampe: "Die Lehren der Philosophie". Eine Kritik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 455 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Originalität der Philosophie liegt ... darin, das theoretische Wissen - und seine Lehren - mit Blick auf die Erfahrungen der Zeitgenossen aufzunehmen und ihm eine zeitgemässe Gestalt zu geben. Das ist Michael Hampe grossartig gelungen. Alle, Philosophen wie Nichtphilosophen, können bei ihm sehen und ermessen, was die Philosophie zu sagen hat."
Ralf Konersmann, Neue Zürcher Zeitung 30.04.2014
Ralf Konersmann, Neue Zürcher Zeitung 30.04.2014
»In seinem Herzen ist Hampes Buch ein Versuch über das Verhältnis von Philosophie und Literatur.« Martin Seel DIE ZEIT 20140814