Lena Poljanskaja hat sich mit der neuen russischen Wirklichkeit arrangiert. Tagsüber beschäftigt sie sich mit ihrer kleinen Tochter, und nachts arbeitet sie für eine Literaturzeitschrift. Doch ihr Leben gerät aus den Fugen, als ihre Freundin Olga ihr vom Tod ihres Bruders berichtet. Der Liedermacher Mitja soll sich in seiner Wohnung im Drogenrausch erhängt haben. Anders als die Polizei, die sofort an Selbstmord glaubt, hat Lena ihre Zweifel. Im Gegensatz zu seiner Frau nahm Mitja niemals Drogen, und außerdem bereitete er gerade sein Comeback vor. Als Lena von einer sonderbaren Ärztin Besuch erhält, die aber beim Gesundheitsamt niemand kennt, ahnt sie, dass sie selbst ins Fadenkreuz geraten ist. Jemand stellt ihr nach und scheint zu fürchten, dass sie zuviel über Mitjas Tod herausfinden könnte. Zwei Tage später hat Lena Gewissheit: Ein zweiter Mord ist geschehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2001Moskau, ein Verbrechernest?
Warme Herzen, kalte Seele: Polina Daschkowa dreht am Thermostat
Von Polina Daschkowa wurden binnen weniger Jahre neun Romane in ihrer russischen Muttersprache veröffentlicht, einer liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor. Und der hinterläßt mit seiner Schilderung von Kriminalität und sittlichem Verfall einen verheerenden Eindruck: Es stimmt also, mag sich ein behüteter Leser aus dem Westen denken, das heutige Rußland ist genau so gefährlich und verkommen, wie man immer sagt. Millionen von Russen und Russinnen, die zur treuen Leserschaft der Daschkowa zählen, empfinden es offenkundig ähnlich. Die Bürger fühlen sich nicht sicher.
Diese kollektive Gemütslage greift die Daschkowa in "Die leichten Schritte des Wahnsinns" geschickt auf. Die Identität des Täters wird schon bald preisgegeben, spannend ist fortan nicht die Suche nach ihm, an den Nerven zerrt sein langer Atem. Denn aus dem ehemaligen Komsomolzen Wenja Wolkow, der ungesühnt sechs Mädchen umgebracht hatte, ist nach der Wende ein Gigant der Moskauer Unterhaltungsindustrie geworden. Und seine Gattin, die machtgierige Psychotherapeutin Regina Gradskaja, versucht mit allen Mitteln, ihren Mann vor der Vergangenheit zu schützen und so den Konzern "Wenjamin" zu erhalten. Als der Liedermacher Mitja den Giganten erpressen will, läßt sie ihn umbringen. Dessen Schwester Olga berichtet den Tod des Bruders ihrer Freundin Lena.
Hier setzt der Roman ein. Lena Poljanskaja arbeitet abends als Redakteurin einer Literaturzeitschrift und sorgt tagsüber für ihre kleine Tochter Lisa. Ihr Mann ist Offizier der Miliz, der sich just auf eine längere Dienstreise ins ferne London begibt. All diese Umstände prädestinieren Lena zur Haupt- und Identifikationsfigur des Romans. An die These vom Selbstmord des Sängers mag sie nicht glauben, der folgende gewaltsame Tod der drogenabhängigen Freundin des Liedermachers verstärkt ihre Zweifel, sie beginnt mit eigenen Nachforschungen. Mutter und Tochter geraten nun ernsthaft in Gefahr, aber es soll noch eine Weile dauern, bis sie den Ursprung der langen Schatten, die sie verfolgen, in Sibirien verorten kann. Anfang der achtziger Jahre absolvierten Lena, Olga und Mitja dort ein Journalistenpraktikum und lernten besagten Wenja kennen, der sich sofort unglücklich in Lena verliebte. Eines Tages tauchte er mit Blutflecken auf dem Hemd auf, die angeblich von einem Nasenbluten herrührten.
Das Erwachen seiner alten Liebe zu Lena wird Wenja vierzehn Jahre später den Kopf kosten. Aber bis dahin müssen noch oft die Erzählperspektive, die Schauplätze und zum Leidwesen der deutschen Leser auch die Namen des Personals gewechselt werden. Zur Komplizierung des Falls trägt bei, daß auch die Mafia in ihn verwickelt wird. Das beflügelt die Phantasie und ist vielleicht sogar der Prosa der russischen Verhältnisse geschuldet.
Dabei sind die anfänglichen Hypothesen der Miliz und des Geheimdienstes über den Ursprung der Mordserie im mafiösen Milieu pikanterweise ja falsch. Erst ein Zufall und ein Irrtum lassen das organisierte Verbrechen aktiv werden, und die Gunst der Stunde nutzen, um den Unterhaltungskonzern in ihre Hände zu kriegen. Der Roman mündet in einem Zweikampf zwischen dem "Paten der Taiga" und der Gradskaja, die ihren Gatten inzwischen um die Ecke gebracht hat. Wer vermutet, daß der Roman hier zur Kolportage verkommt, liegt gewiß nicht falsch, sollte aber doch wissen, daß er zuvor psychologische Nuancen kannte, einfühlsame Milieuschilderungen enthielt und in einzelnen Passagen sogar eine satirische Kraft entfalten konnte.
Als sich der Leser schon mit der zynischen Erkenntnis abfinden will, daß sich Kapitalverbrechen in der postsowjetischen Gesellschaft offenbar lohnen, da schickt die Autorin auf der letzten Seite einen Killer auf den Weg, der sich an der Gradskaja aus ganz persönlichen Motiven zu rächen gedenkt. Am Ende bleibt die deprimierende Vorstellung von einem ewigen Kreislauf der Gewalt, von Schuld und Sühne im Kopf des Lesers hängen. Intensiv beschäftigt sich der Roman mit der Psychopathologie des Verbrechers. Mehrfach spielt der Artikel "Die Grausamkeit des Opfers" eines David Crowell eine Rolle. Sowohl die Redakteurin und Übersetzerin Poljanskaja als auch ihrer Widersacherin Gradskaja kennen Crowells These vom Mörder, der "schon als kleines Kind nur Kälte und Tod" verspürte. Aber sie verwenden ihr Wissen zu ganz unterschiedlichen Zwecken.
Unter der Hand zeichnet der Roman nämlich eine etwas krude Typologie der russischen Intelligenz. Die Gradskaja nutzt ihr Wissen, um mit dem Verbrechen gleichzeitig auch den Verbrecher zu beherrschen, sie ist zynisch und liebt die Kälte. Lena dagegen will die gesellschaftlichen Temperaturen lieber erhöhen. Es ist von einer schon fast aufdringlichen Symbolik, daß just in dem Moment, als sie den letzten Teil des Artikels für ihre Zeitschrift übersetzt, ihre kleine Tocher erwacht, "Mama" schreit und sogleich verköstigt wird. Diesem Bild der warmherzigen Mutter stellt der Roman die Figur der herrischen Frau gegenüber. Durch die Kunst der Hypnose kann Regina ihren Mann von den mörderischen Traumata heilen, die ihm seine böse Mutter verpaßt hat, und willfährig machen. Nun scheint die symbolische Macht der Hypnose immer dann zu wachsen, wenn eine moderne Gesellschaft aus den Fugen gerät. So legt es auch der Kriminalroman "Dr. Mabuse" nahe, der in seiner ersten Fassung zur Zeit der Hyperinflation in der Weimarer Republik spielt. Während man hier wie dort den Organen der Staatsmacht nicht mehr viel zutraut, wächst der Glaube an die charismatischen Kräfte eines kranken Dichters, eines verrückten Psychiaters oder eines zwielichtigen Magnaten ins Unermeßliche.
MICHAEL ANGELE
Polina Daschkowa: "Die leichten Schritte des Wahnsinns". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Margret Fieseler. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 454 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warme Herzen, kalte Seele: Polina Daschkowa dreht am Thermostat
Von Polina Daschkowa wurden binnen weniger Jahre neun Romane in ihrer russischen Muttersprache veröffentlicht, einer liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor. Und der hinterläßt mit seiner Schilderung von Kriminalität und sittlichem Verfall einen verheerenden Eindruck: Es stimmt also, mag sich ein behüteter Leser aus dem Westen denken, das heutige Rußland ist genau so gefährlich und verkommen, wie man immer sagt. Millionen von Russen und Russinnen, die zur treuen Leserschaft der Daschkowa zählen, empfinden es offenkundig ähnlich. Die Bürger fühlen sich nicht sicher.
Diese kollektive Gemütslage greift die Daschkowa in "Die leichten Schritte des Wahnsinns" geschickt auf. Die Identität des Täters wird schon bald preisgegeben, spannend ist fortan nicht die Suche nach ihm, an den Nerven zerrt sein langer Atem. Denn aus dem ehemaligen Komsomolzen Wenja Wolkow, der ungesühnt sechs Mädchen umgebracht hatte, ist nach der Wende ein Gigant der Moskauer Unterhaltungsindustrie geworden. Und seine Gattin, die machtgierige Psychotherapeutin Regina Gradskaja, versucht mit allen Mitteln, ihren Mann vor der Vergangenheit zu schützen und so den Konzern "Wenjamin" zu erhalten. Als der Liedermacher Mitja den Giganten erpressen will, läßt sie ihn umbringen. Dessen Schwester Olga berichtet den Tod des Bruders ihrer Freundin Lena.
Hier setzt der Roman ein. Lena Poljanskaja arbeitet abends als Redakteurin einer Literaturzeitschrift und sorgt tagsüber für ihre kleine Tochter Lisa. Ihr Mann ist Offizier der Miliz, der sich just auf eine längere Dienstreise ins ferne London begibt. All diese Umstände prädestinieren Lena zur Haupt- und Identifikationsfigur des Romans. An die These vom Selbstmord des Sängers mag sie nicht glauben, der folgende gewaltsame Tod der drogenabhängigen Freundin des Liedermachers verstärkt ihre Zweifel, sie beginnt mit eigenen Nachforschungen. Mutter und Tochter geraten nun ernsthaft in Gefahr, aber es soll noch eine Weile dauern, bis sie den Ursprung der langen Schatten, die sie verfolgen, in Sibirien verorten kann. Anfang der achtziger Jahre absolvierten Lena, Olga und Mitja dort ein Journalistenpraktikum und lernten besagten Wenja kennen, der sich sofort unglücklich in Lena verliebte. Eines Tages tauchte er mit Blutflecken auf dem Hemd auf, die angeblich von einem Nasenbluten herrührten.
Das Erwachen seiner alten Liebe zu Lena wird Wenja vierzehn Jahre später den Kopf kosten. Aber bis dahin müssen noch oft die Erzählperspektive, die Schauplätze und zum Leidwesen der deutschen Leser auch die Namen des Personals gewechselt werden. Zur Komplizierung des Falls trägt bei, daß auch die Mafia in ihn verwickelt wird. Das beflügelt die Phantasie und ist vielleicht sogar der Prosa der russischen Verhältnisse geschuldet.
Dabei sind die anfänglichen Hypothesen der Miliz und des Geheimdienstes über den Ursprung der Mordserie im mafiösen Milieu pikanterweise ja falsch. Erst ein Zufall und ein Irrtum lassen das organisierte Verbrechen aktiv werden, und die Gunst der Stunde nutzen, um den Unterhaltungskonzern in ihre Hände zu kriegen. Der Roman mündet in einem Zweikampf zwischen dem "Paten der Taiga" und der Gradskaja, die ihren Gatten inzwischen um die Ecke gebracht hat. Wer vermutet, daß der Roman hier zur Kolportage verkommt, liegt gewiß nicht falsch, sollte aber doch wissen, daß er zuvor psychologische Nuancen kannte, einfühlsame Milieuschilderungen enthielt und in einzelnen Passagen sogar eine satirische Kraft entfalten konnte.
Als sich der Leser schon mit der zynischen Erkenntnis abfinden will, daß sich Kapitalverbrechen in der postsowjetischen Gesellschaft offenbar lohnen, da schickt die Autorin auf der letzten Seite einen Killer auf den Weg, der sich an der Gradskaja aus ganz persönlichen Motiven zu rächen gedenkt. Am Ende bleibt die deprimierende Vorstellung von einem ewigen Kreislauf der Gewalt, von Schuld und Sühne im Kopf des Lesers hängen. Intensiv beschäftigt sich der Roman mit der Psychopathologie des Verbrechers. Mehrfach spielt der Artikel "Die Grausamkeit des Opfers" eines David Crowell eine Rolle. Sowohl die Redakteurin und Übersetzerin Poljanskaja als auch ihrer Widersacherin Gradskaja kennen Crowells These vom Mörder, der "schon als kleines Kind nur Kälte und Tod" verspürte. Aber sie verwenden ihr Wissen zu ganz unterschiedlichen Zwecken.
Unter der Hand zeichnet der Roman nämlich eine etwas krude Typologie der russischen Intelligenz. Die Gradskaja nutzt ihr Wissen, um mit dem Verbrechen gleichzeitig auch den Verbrecher zu beherrschen, sie ist zynisch und liebt die Kälte. Lena dagegen will die gesellschaftlichen Temperaturen lieber erhöhen. Es ist von einer schon fast aufdringlichen Symbolik, daß just in dem Moment, als sie den letzten Teil des Artikels für ihre Zeitschrift übersetzt, ihre kleine Tocher erwacht, "Mama" schreit und sogleich verköstigt wird. Diesem Bild der warmherzigen Mutter stellt der Roman die Figur der herrischen Frau gegenüber. Durch die Kunst der Hypnose kann Regina ihren Mann von den mörderischen Traumata heilen, die ihm seine böse Mutter verpaßt hat, und willfährig machen. Nun scheint die symbolische Macht der Hypnose immer dann zu wachsen, wenn eine moderne Gesellschaft aus den Fugen gerät. So legt es auch der Kriminalroman "Dr. Mabuse" nahe, der in seiner ersten Fassung zur Zeit der Hyperinflation in der Weimarer Republik spielt. Während man hier wie dort den Organen der Staatsmacht nicht mehr viel zutraut, wächst der Glaube an die charismatischen Kräfte eines kranken Dichters, eines verrückten Psychiaters oder eines zwielichtigen Magnaten ins Unermeßliche.
MICHAEL ANGELE
Polina Daschkowa: "Die leichten Schritte des Wahnsinns". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Margret Fieseler. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 454 S., geb., 39,90 DM.
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