Die Karikaturistin Catherine Meurisse, die seit vielen Jahren für Charlie Hebdo arbeitet, entkommt dem Attentat auf Charlie Hebdo nur, weil sie an diesem Morgen im Januar 2015 für die Redaktionssitzung zu spät dran ist. Viele ihrer Kollegen und Freunde werden bei dem Anschlag aus dem Leben gerissen. Sie selbst sucht seitdem nach einem Umgang mit der Tragödie und einem neuen Zugang zu ihrem Leben. Meurisse sucht in der Schönheit der Natur und der Künste nach anderen Bildern, macht sich nach Italien auf und beginnt langsam, zu ihrer eigenen Leichtigkeit zurückzufinden. Mit "Die Leichtigkeit" hat Catherine Meurisse ein intensives und sehr persönliches Buch geschaffen, das ihrer Trauer Raum gibt und zugleich eine Ermutigung ist, sich die Schönheit des Lebens zurückzuerobern.
buecher-magazin.deAm 7. Januar 2015 kam Catherine Meurisse zu spät zur Arbeit. Deshalb lebt sie noch. Sie harrte in einem benachbarten Gebäude aus, während Attentäter elf ihrer Kollegen erschossen, elf Redakteure der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo. In diesem Comic erzählt sie von der Zeit danach. Wie die Überlebenden sich zusammenfinden und pünktlich die nächste Ausgabe herausbringen. Wie Catherine nach der Schlussredaktion zusammenbricht. Draußen sind inzwischen alle Charlie. Und Catherine weiß nicht mehr, wer sie ist. Eine Dissoziation, erklärt der Psychologe, eine Schutzreaktion des Gehirns. Zwischen Demonstrationen und Befragungen versucht Catherine, sich zu heilen. "Schönheit wird die Welt retten", schrieb Dostojewski. (Im Comic sagt es ein Frosch, der Dostojewski zitiert.) Das Stendhal-Syndrom, "die Ohnmacht, die einen jeden angesichts einer Flut von Schönheit ergreifen kann" (wieder der Frosch) soll dem Syndrom des 7. Januar entgegenwirken. Sie findet Trost in den Massakern der Kunst. Immer wieder erzählt sie auch vom Alltag bei Charlie Hebdo und feiert die, die sie verloren hat. Der feine Humor in diesem Comic ist die Folge ihrer Ehrlichkeit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2017Neues Reisebuch
Für den Tisch Sie kam zu spät, und das hat ihr Leben gerettet - und zerstört war es doch auch. Catherine Meurisse ist Comiczeichnerin in Paris, sie gilt als großes Talent - deswegen wohl wurde sie schon im Studium direkt von der Zeitschrift "Charlie Hebdo" engagiert. Der Traum aller Satiriker Frankreichs.
Am 7. Januar 2015 verschläft Meurisse. Sie hat Liebeskummer, ihr Freund hat sich am Vorabend von ihr getrennt. Sie überhört den Wecker, springt auf, versucht noch, den 69er Bus zu schaffen, um die Redaktionskonferenz zu erreichen - das alles sieht man auf den ersten Seiten ihres neuen Comics "Die Leichtigkeit". Der Bus fährt vor ihrer Nase ab.
Als sie vor der Redaktion ankommt, sind ihre Kollegen und Freunde tot. Sie ist dem Attentat auf die Redaktion des Satireblattes knapp entgangen. Catherine ist 35, zehn Jahre war sie in der Redaktion von "Charlie Hebdo". Die Ausgabe nach dem Attentat gestaltet sie noch mit, dann geht nichts mehr, sie kann nicht mehr zeichnen, sie verliert das Gedächtnis.
Im schrecklichsten Moment dieser gezeichneten Geschichte beginnt etwas, das eine erstaunliche Schönheit entwickeln wird: Meurisse geht auf Reisen. Getrieben von dem Wunsch, zu verarbeiten, was geschehen ist, fährt sie immer weiter. Zunächst nur nach Cabourg, das Seebad in der Normandie, in dem Marcel Proust seine Sommer verbrachte. Der Urlaub einer Bildungsbürgerin, die ihre Erinnerung wiederfinden will.
Doch sie fühlt sich leer. Sonst habe der Gedanke an Proust ihr Innerstes berührt, lesen wir. Nun tut sich nichts. Die Zeichnungen sind karg im Strich und mit Aquarellfarben grundiert, zuerst in Grautönen, in der zweiten Hälfte des Buches werden sie bunter. Röter vor allem, sehnsuchtsvoller vielleicht.
Meurisse macht sich auf ihrer großen Reise auf die Suche nach der Schönheit. Sie will das Schöne in der Welt spüren, um zu wissen, dass die Attentäter mit ihrer Zerstörung nicht gesiegt haben. Sie fährt ans Meer, sie spaziert durch Paris. Sie fährt aufs Land und umarmt einen Baum. Sie geht in die Berge. Oft sind Freundinnen bei ihr, und immer wird gemeinsam nachgedacht. Auf einem namenlosen Berggipfel zeigen die Sprechblasen das folgende Gespräch: "Was mir nach dem 7. Januar plötzlich als das Kostbarste erschien, das sind die Freundschaft und die Kultur." - "Bei mir ist's die Schönheit." - "Ist doch das Gleiche." Solche Küchenphilosophie, die in dem Buch oft eine Rolle spielt, kann durchaus auch mal banal klingen. Dass es der verzweifelte Versuch einer Traumatisierten ist, ins Leben zurückzufinden, ist immer offensichtlich, da dieser Comic sein verletztes Herz auf jeder Seite zeigt. Das macht ihn so mächtig.
Meurisse fährt nach Rom, in die Gärten der Villa Medici, in die Ausstellung der Villa Borghese. Die Zeichnungen werden kräftiger und greller. Dann flaniert sie durch den Louvre, imaginiert sich selbst in die Bilder hinein. Am Ende sitzt sie am Strand, da ist nur Sand und unendliches Blau. Die Welt ist reduziert, in Schönheit zwar, aber auf das Geringste reduziert. Ein Mensch und die Naturgewalten. Ob sie den Kampf gewonnen hat, wird nicht klar. Aber ihren Weg ist sie gegangen.
Thomas Lindemann
Catherine Meurisse: "Die Leichtigkeit". Carlsen, Hamburg. 144 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für den Tisch Sie kam zu spät, und das hat ihr Leben gerettet - und zerstört war es doch auch. Catherine Meurisse ist Comiczeichnerin in Paris, sie gilt als großes Talent - deswegen wohl wurde sie schon im Studium direkt von der Zeitschrift "Charlie Hebdo" engagiert. Der Traum aller Satiriker Frankreichs.
Am 7. Januar 2015 verschläft Meurisse. Sie hat Liebeskummer, ihr Freund hat sich am Vorabend von ihr getrennt. Sie überhört den Wecker, springt auf, versucht noch, den 69er Bus zu schaffen, um die Redaktionskonferenz zu erreichen - das alles sieht man auf den ersten Seiten ihres neuen Comics "Die Leichtigkeit". Der Bus fährt vor ihrer Nase ab.
Als sie vor der Redaktion ankommt, sind ihre Kollegen und Freunde tot. Sie ist dem Attentat auf die Redaktion des Satireblattes knapp entgangen. Catherine ist 35, zehn Jahre war sie in der Redaktion von "Charlie Hebdo". Die Ausgabe nach dem Attentat gestaltet sie noch mit, dann geht nichts mehr, sie kann nicht mehr zeichnen, sie verliert das Gedächtnis.
Im schrecklichsten Moment dieser gezeichneten Geschichte beginnt etwas, das eine erstaunliche Schönheit entwickeln wird: Meurisse geht auf Reisen. Getrieben von dem Wunsch, zu verarbeiten, was geschehen ist, fährt sie immer weiter. Zunächst nur nach Cabourg, das Seebad in der Normandie, in dem Marcel Proust seine Sommer verbrachte. Der Urlaub einer Bildungsbürgerin, die ihre Erinnerung wiederfinden will.
Doch sie fühlt sich leer. Sonst habe der Gedanke an Proust ihr Innerstes berührt, lesen wir. Nun tut sich nichts. Die Zeichnungen sind karg im Strich und mit Aquarellfarben grundiert, zuerst in Grautönen, in der zweiten Hälfte des Buches werden sie bunter. Röter vor allem, sehnsuchtsvoller vielleicht.
Meurisse macht sich auf ihrer großen Reise auf die Suche nach der Schönheit. Sie will das Schöne in der Welt spüren, um zu wissen, dass die Attentäter mit ihrer Zerstörung nicht gesiegt haben. Sie fährt ans Meer, sie spaziert durch Paris. Sie fährt aufs Land und umarmt einen Baum. Sie geht in die Berge. Oft sind Freundinnen bei ihr, und immer wird gemeinsam nachgedacht. Auf einem namenlosen Berggipfel zeigen die Sprechblasen das folgende Gespräch: "Was mir nach dem 7. Januar plötzlich als das Kostbarste erschien, das sind die Freundschaft und die Kultur." - "Bei mir ist's die Schönheit." - "Ist doch das Gleiche." Solche Küchenphilosophie, die in dem Buch oft eine Rolle spielt, kann durchaus auch mal banal klingen. Dass es der verzweifelte Versuch einer Traumatisierten ist, ins Leben zurückzufinden, ist immer offensichtlich, da dieser Comic sein verletztes Herz auf jeder Seite zeigt. Das macht ihn so mächtig.
Meurisse fährt nach Rom, in die Gärten der Villa Medici, in die Ausstellung der Villa Borghese. Die Zeichnungen werden kräftiger und greller. Dann flaniert sie durch den Louvre, imaginiert sich selbst in die Bilder hinein. Am Ende sitzt sie am Strand, da ist nur Sand und unendliches Blau. Die Welt ist reduziert, in Schönheit zwar, aber auf das Geringste reduziert. Ein Mensch und die Naturgewalten. Ob sie den Kampf gewonnen hat, wird nicht klar. Aber ihren Weg ist sie gegangen.
Thomas Lindemann
Catherine Meurisse: "Die Leichtigkeit". Carlsen, Hamburg. 144 Seiten, 19,99 Euro
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"Ein bitterer und doch humorvoller Erfahrungsbericht in sanften Farben." STERN 20170112