Ingenieur Adam Sijilmassi hat bereits alles erreicht, wovon sich sein Großvater Hadj Maati im entlegenen Azemmour nie hätte träumen lassen: Ausgestattet mit den besten Diplomen internationaler Universitäten ist sein Weg als erfolgreiches Mitglied der feinen marokkanischen Elite vorgezeichnet. Schon winkt die Führungsposition in einem weltweit agierenden Industriekonzern. Doch dann passiert es. Auf dem Rückflug von einer Geschäftsreise in Asien überkommt es ihn hinterrücks: Was um Himmels Willen tut er da eigentlich, 30.000 Fuß über der Andamanen-See, in einer umweltverpestenden Blechbüchse, die mit 900 Stundenkilometern durch den Himmel rast? Und warum nur diese Eile? Bei der Landung in Casablanca hat Adam entschieden: er wird sein Leben grundsätzlich ändern. Er, der sich bisher mit großer Selbstverständlichkeit in der westlichen Welt bewegt und insbesondere in der französischen Literatur seine Referenzen hat, beschließt "auszusteigen" und sich auf die Suche nach seinen kulturellen Wurzeln zu machen. Zwei Tage später ist der Job gekündigt. Dass Adam damit auch die schicke Betriebswohnung räumen muss und von seiner Frau verlassen wird, die obendrein noch seine Katze mitnimmt und ihn kopfschüttelnd zum Psychiater schickt, nimmt er billigend in Kauf. Zurück in Azemmour entdeckt er im blauen Zimmer des altehrwürdigen Riads der Sijilmassi die kostbare Bibliothek des Großvaters und widmet sich von nun an dem Studium der alten arabischen Schriften. Aber Adams Rückkehr bleibt in Azemmour nicht unbemerkt. Und ehe er sich versieht, steht er im Fokus politisch-religiöser Machenschaften ... Fouad Larouis jüngster Roman nimmt nach einem heiter-amüsanten Einstieg in die Geschichte eines Aussteigers einen dramatischen Verlauf: "Die Leiden des letzten Sijilmassi" erzählt vom Konflikt einer ganzen Generation von Menschen, deren kulturelle Wurzeln in der muslimischen Welt liegen und die zugleich durch einen Bildungs- und Berufsweg in der westlich aufgeklärten Welt sozialisiert sind. Während sie für sich selbst noch versuchen, einen versöhnlichen Weg des Kompromisses vermeintlich gegensätzlicher Kulturen zu finden, sind sie längst zum Spielball zwischen den Fronten geworden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2017Entschleunigung auf Marokkanisch
Das bittere Erbe des Kolonialismus: Fouad Larouis Roman "Die Leiden des letzten Sijilmassi"
"Ja, ich werde mein Leben ändern. Ich will nicht mehr ständig in Flugzeugen sitzen, in Hotels schlafen, die alle gleich aussehen, Gummi oder Feuer essen, in Kuala Lumpur oder Sydney aufwachen und mich fragen, wo ich bin, manchmal sogar wer ich bin; rennen, schwitzen, drohen, schmeicheln; und warum das alles? Um Asphalt zu verkaufen, Asphalt! Der sich im Übrigen sehr gut ohne mich verkauft. Warum diese sinnlose Raserei. Ich will entschleunigen."
Diese Gedanken gehen Adam Sijilmassi durch den Kopf, als er hoch über den Wolken aus Asien zurückfliegt nach Marokko. Er nennt es eine "Epiphanie", die über ihn gekommen sei. Er empfindet sein altes Business-Leben als absurd und sinnlos, er will ausbrechen. Adam ist erfolgreicher Ingenieur beim Office des Bitumes du Tadla in Casablanca. Bisher bereiste er die ganze Welt, damit soll nun Schluss sein. Gleich am Flughafen von Casablanca beginnt er mit der Einübung anderer Lebensformen: Er verweigert jedes Taxi, er will zu Fuß in die Stadt gehen. Die Autofahrer halten an, vermuten, er habe eine Autopanne gehabt, wollen helfen; aber Adam weist sie zurück und setzt unbeirrt seinen Weg zu Fuß fort - zum Unverständnis aller. Schließlich steigt er auf einen Eselskarren, der ist langsam, so langsam, wie sein Großvater sich bewegte oder sein Vater, der niemals ein Auto bestiegen hat. Fouad Laroui beschreibt diesen Beginn eines neuen Lebens nicht ohne Ironie. Selbst der Eselsbesitzer ist skeptisch und fragt den Städter misstrauisch, ob er vielleicht jemanden ermordet habe und auf der Flucht sei.
Und dann nimmt für den Entschleuniger alles ein rasantes Tempo an. Seine Frau hält ihn für verrückt und schickt ihn zum Psychiater. In seiner Firma kündigt er zur Überraschung der Vorgesetzten, und schneller, als er denkt, wird er aus der teuren Werkswohnung in einem noblen Stadtteil von Casablanca vor die Tür gesetzt. Seine Frau gibt ihm den Laufpass, als arbeitsloser Schlucker hat er jede Attraktivität für sie verloren.
Der große neue Lebensplan verkommt ganz schnell zur kleinen Nummer, in der es plötzlich um das nackte Überleben geht. Adam zieht sich, wiederum zu Fuß, in seinen Heimatort Azemmour, ein Städtchen an der Atlantikküste, zurück, in den alten Riad seiner Familie. Das wahre Leben ist anderswo, geht es ihm durch den Kopf, er will und muss es finden. Adam Sijilmassi hat einiges gemeinsam mit dem Autor: Fouad Laroui, Jahrgang 1958, stammt aus demselben Ort, war Ingenieur wie sein Protagonist, beide gingen auf französische Gymnasien, wurden in Marokko französisch erzogen und gebildet, beide fühlen sich dem westlichen Denken verpflichtet, beide jonglieren zwischen zwei Kulturen. Beim Autor ist das Panorama noch weiter gesteckt: Laroui ist gebürtiger Marokkaner, lebt heute als Professor für französische Literatur und Philosophie in Amsterdam und schreibt auf Französisch. Acht Romane, von denen zwei bisher ins Deutsche übersetzt wurden, und mehrere Essaybände hat er bisher veröffentlicht, ausgezeichnet mit hohen literarischen Preisen. "Die Leiden des letzten Sijilmassi" wurden 2014 für den Prix Concourt nominiert.
Larouis Thema ist immer wieder der Widerstreit zwischen den Kulturen, die Unvereinbarkeit zwischen Archaik und Moderne, die das Individuum in einen permanenten Konflikt stürzt. Es geht bei Adam nicht um eine midlife crisis westlicher Couleur, er ist zerrissen durch die Wunden aus der kolonialen Geschichte seines Landes, von der er profitierte und die ihn zugleich seiner Herkunft entfremdete. Das moderne Marokko ist für ihn keine Verheißung, bietet keine Zukunft, sondern bleibt ein Fremdkörper. In seinem Heimatort zieht er sich zurück in einen Raum des alten Riads der Familie, wo noch eine entfernte Tante lebt. Adam beginnt das Leben eines Eremiten. Er wird wunderlich und menschenscheu. Die französischen Klassiker - von Voltaire bis Hugo oder auch Mallarmé und Camus -, mit deren literarischen und philosophischen Zitaten er sein Leben ausschmückt, werden immer brüchiger. Schließlich entdeckt er eine Kiste mit arabischen Schriften, deren Autoren noch weit vor der französischen Aufklärung das Licht der Erleuchtung anzündeten.
Im Roman kommt es zu einem Bruch. Im ersten Teil wird nicht ohne Komik und Satire feinsinnig ironisch erzählt, wie einer einen Entschluss fasst und nun konsequent handeln muss, aber die ganze Umwelt ihn nicht mehr versteht. In dem Moment aber, in dem Adam sein eigenes neues Leben zu gestalten versucht, schlägt der Ton um in einen gelehrten Disput über Philosophie, Religion, Literatur und Leben - er wird geradezu belehrend und streng. Nach einem ähnlichen Muster hatte Laroui auch seinen Roman "Die alte Dame in Marrakesch" gebaut. Zunächst ein wunderbar fließender Text, dann folgt ein Hiatus, die historische Aufklärung und der Rückblick auf die Kämpfe während der Kolonialzeit. Der Autor scheint aus der Roman-Konstruktion zu fallen. Aber genau das ist seine Absicht. Geschichten lassen sich schön oder aufregend erzählen, aber sie haben alle einen bitteren Hintergrund, und der liegt in den Verwerfungen und Erniedrigungen während der Kolonialzeit.
Adam findet auch bei den arabischen Klassikern keine geistige Zuflucht. Er steht im Nirgendwo. Schließlich gerät er in den politischen Konflikt zwischen Islamisten und Königstreuen. Er will sich heraushalten, bei einer sich zusammenrottenden Demonstration geht er demonstrativ in der Mitte der Straße, um sich keiner Partei anschließen zu müssen - und beide Seiten prügeln auf ihn ein, schlagen ihn krankenhausreif. "Alles, was mit Gewalt in Berührung kommt, wird erniedrigt, welcher Art auch immer die Berührung ist. Schlagen oder geschlagen werden, das ist ein und dieselbe Befleckung." Dieser Satz geht am Ende des Romans Adam durch den Kopf, und er verlässt den alten Riad, kehrt nie wieder an den Ort seiner Vorfahren zurück.
Im Epilog erfährt der Leser, dass Adam sich am Strand in einer Sandhöhle eingegraben hat und ihn die Menschenwelt nicht mehr interessiert. Die Familie muss nach vergeblichen Versuchen der Annäherung feststellen, dass dieser Mann verrückt ist, ein Geheimnis, ein Makel, er wird zum Tabu für die Familie. "Die Leiden des letzten Sijilmassi" enden in der totalen Melancholie, der Rückzug aus der Welt in das nackte Leben ist die bittere Erkenntnis, was geschieht, wenn einer versucht, dem modernen Wirtschaftsleben und der Gebrochenheit der kulturellen Herkunft zu entkommen. "Entschleunigung" ist ein schöner Traum, der zum Albtraum werden kann.
LERKE VON SAALFELD
Fouad Laroui: "Die Leiden des letzten Sijilmassi".
Roman.
Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Merlin Verlag, Gifkendorf 2016. 287 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das bittere Erbe des Kolonialismus: Fouad Larouis Roman "Die Leiden des letzten Sijilmassi"
"Ja, ich werde mein Leben ändern. Ich will nicht mehr ständig in Flugzeugen sitzen, in Hotels schlafen, die alle gleich aussehen, Gummi oder Feuer essen, in Kuala Lumpur oder Sydney aufwachen und mich fragen, wo ich bin, manchmal sogar wer ich bin; rennen, schwitzen, drohen, schmeicheln; und warum das alles? Um Asphalt zu verkaufen, Asphalt! Der sich im Übrigen sehr gut ohne mich verkauft. Warum diese sinnlose Raserei. Ich will entschleunigen."
Diese Gedanken gehen Adam Sijilmassi durch den Kopf, als er hoch über den Wolken aus Asien zurückfliegt nach Marokko. Er nennt es eine "Epiphanie", die über ihn gekommen sei. Er empfindet sein altes Business-Leben als absurd und sinnlos, er will ausbrechen. Adam ist erfolgreicher Ingenieur beim Office des Bitumes du Tadla in Casablanca. Bisher bereiste er die ganze Welt, damit soll nun Schluss sein. Gleich am Flughafen von Casablanca beginnt er mit der Einübung anderer Lebensformen: Er verweigert jedes Taxi, er will zu Fuß in die Stadt gehen. Die Autofahrer halten an, vermuten, er habe eine Autopanne gehabt, wollen helfen; aber Adam weist sie zurück und setzt unbeirrt seinen Weg zu Fuß fort - zum Unverständnis aller. Schließlich steigt er auf einen Eselskarren, der ist langsam, so langsam, wie sein Großvater sich bewegte oder sein Vater, der niemals ein Auto bestiegen hat. Fouad Laroui beschreibt diesen Beginn eines neuen Lebens nicht ohne Ironie. Selbst der Eselsbesitzer ist skeptisch und fragt den Städter misstrauisch, ob er vielleicht jemanden ermordet habe und auf der Flucht sei.
Und dann nimmt für den Entschleuniger alles ein rasantes Tempo an. Seine Frau hält ihn für verrückt und schickt ihn zum Psychiater. In seiner Firma kündigt er zur Überraschung der Vorgesetzten, und schneller, als er denkt, wird er aus der teuren Werkswohnung in einem noblen Stadtteil von Casablanca vor die Tür gesetzt. Seine Frau gibt ihm den Laufpass, als arbeitsloser Schlucker hat er jede Attraktivität für sie verloren.
Der große neue Lebensplan verkommt ganz schnell zur kleinen Nummer, in der es plötzlich um das nackte Überleben geht. Adam zieht sich, wiederum zu Fuß, in seinen Heimatort Azemmour, ein Städtchen an der Atlantikküste, zurück, in den alten Riad seiner Familie. Das wahre Leben ist anderswo, geht es ihm durch den Kopf, er will und muss es finden. Adam Sijilmassi hat einiges gemeinsam mit dem Autor: Fouad Laroui, Jahrgang 1958, stammt aus demselben Ort, war Ingenieur wie sein Protagonist, beide gingen auf französische Gymnasien, wurden in Marokko französisch erzogen und gebildet, beide fühlen sich dem westlichen Denken verpflichtet, beide jonglieren zwischen zwei Kulturen. Beim Autor ist das Panorama noch weiter gesteckt: Laroui ist gebürtiger Marokkaner, lebt heute als Professor für französische Literatur und Philosophie in Amsterdam und schreibt auf Französisch. Acht Romane, von denen zwei bisher ins Deutsche übersetzt wurden, und mehrere Essaybände hat er bisher veröffentlicht, ausgezeichnet mit hohen literarischen Preisen. "Die Leiden des letzten Sijilmassi" wurden 2014 für den Prix Concourt nominiert.
Larouis Thema ist immer wieder der Widerstreit zwischen den Kulturen, die Unvereinbarkeit zwischen Archaik und Moderne, die das Individuum in einen permanenten Konflikt stürzt. Es geht bei Adam nicht um eine midlife crisis westlicher Couleur, er ist zerrissen durch die Wunden aus der kolonialen Geschichte seines Landes, von der er profitierte und die ihn zugleich seiner Herkunft entfremdete. Das moderne Marokko ist für ihn keine Verheißung, bietet keine Zukunft, sondern bleibt ein Fremdkörper. In seinem Heimatort zieht er sich zurück in einen Raum des alten Riads der Familie, wo noch eine entfernte Tante lebt. Adam beginnt das Leben eines Eremiten. Er wird wunderlich und menschenscheu. Die französischen Klassiker - von Voltaire bis Hugo oder auch Mallarmé und Camus -, mit deren literarischen und philosophischen Zitaten er sein Leben ausschmückt, werden immer brüchiger. Schließlich entdeckt er eine Kiste mit arabischen Schriften, deren Autoren noch weit vor der französischen Aufklärung das Licht der Erleuchtung anzündeten.
Im Roman kommt es zu einem Bruch. Im ersten Teil wird nicht ohne Komik und Satire feinsinnig ironisch erzählt, wie einer einen Entschluss fasst und nun konsequent handeln muss, aber die ganze Umwelt ihn nicht mehr versteht. In dem Moment aber, in dem Adam sein eigenes neues Leben zu gestalten versucht, schlägt der Ton um in einen gelehrten Disput über Philosophie, Religion, Literatur und Leben - er wird geradezu belehrend und streng. Nach einem ähnlichen Muster hatte Laroui auch seinen Roman "Die alte Dame in Marrakesch" gebaut. Zunächst ein wunderbar fließender Text, dann folgt ein Hiatus, die historische Aufklärung und der Rückblick auf die Kämpfe während der Kolonialzeit. Der Autor scheint aus der Roman-Konstruktion zu fallen. Aber genau das ist seine Absicht. Geschichten lassen sich schön oder aufregend erzählen, aber sie haben alle einen bitteren Hintergrund, und der liegt in den Verwerfungen und Erniedrigungen während der Kolonialzeit.
Adam findet auch bei den arabischen Klassikern keine geistige Zuflucht. Er steht im Nirgendwo. Schließlich gerät er in den politischen Konflikt zwischen Islamisten und Königstreuen. Er will sich heraushalten, bei einer sich zusammenrottenden Demonstration geht er demonstrativ in der Mitte der Straße, um sich keiner Partei anschließen zu müssen - und beide Seiten prügeln auf ihn ein, schlagen ihn krankenhausreif. "Alles, was mit Gewalt in Berührung kommt, wird erniedrigt, welcher Art auch immer die Berührung ist. Schlagen oder geschlagen werden, das ist ein und dieselbe Befleckung." Dieser Satz geht am Ende des Romans Adam durch den Kopf, und er verlässt den alten Riad, kehrt nie wieder an den Ort seiner Vorfahren zurück.
Im Epilog erfährt der Leser, dass Adam sich am Strand in einer Sandhöhle eingegraben hat und ihn die Menschenwelt nicht mehr interessiert. Die Familie muss nach vergeblichen Versuchen der Annäherung feststellen, dass dieser Mann verrückt ist, ein Geheimnis, ein Makel, er wird zum Tabu für die Familie. "Die Leiden des letzten Sijilmassi" enden in der totalen Melancholie, der Rückzug aus der Welt in das nackte Leben ist die bittere Erkenntnis, was geschieht, wenn einer versucht, dem modernen Wirtschaftsleben und der Gebrochenheit der kulturellen Herkunft zu entkommen. "Entschleunigung" ist ein schöner Traum, der zum Albtraum werden kann.
LERKE VON SAALFELD
Fouad Laroui: "Die Leiden des letzten Sijilmassi".
Roman.
Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Merlin Verlag, Gifkendorf 2016. 287 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main