Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.1997Es möchte ein Hund so länger leben
Also sprach Diogenes: Marco Brusotti verfolgt die Spuren der Kyniker in Nietzsches Spätwerk
Friedrich Nietzsche wurde 1868 als Vierundzwanzigjähriger für seine Studie über die Quellen zu Diogenes Laertius' Buch "Leben und Meinungen berühmter Philosophen" mit dem Preis der Universität Leipzig ausgezeichnet und ein Jahr später, noch ohne Promotion, auf den Lehrstuhl für klassische Philologie an der Universität Basel berufen. "Leben und Meinungen berühmter Philosophen": Die Reihenfolge im Titel der einzigen vollständig erhaltenen Philosophiegeschichte der Antike atmet den Geist des Kynismus, und das Kapitel über Diogenes von Sinope, den bedürfnislosesten unter den Philosophen, die sich durch den Spottnamen "Hund" geadelt sahen, gehört denn auch zu den inspiriertesten, weil die anekdotische Flickschusterei von Diogenes Laertius' Buch der kynischen Methode des "kurzen Wegs" genau entspricht. Auf diesem "kurzen Weg" führten die Kyniker ein philosophisches Lehrgebäude umstandslos auf die exemplarische Lebensweise seines Urhebers zurück, um es auf seine Widerspruchsfreiheit und Vorbildhaftigkeit zu prüfen.
Diogenes von Sinope (404 bis 323 vor Christus), Sohn eines Falschmünzers, schmiedete in der Werkstatt der kynischen Lebensphilosophie aus der Anekdote eine moral- und ideologiekritische Waffe, deren Witz die philosophischen Systeme auf einen Schlag in ihren Grundfesten erschütterte. So mußte sich Platon, der den Menschen als "ein federloses zweifüßiges Tier" definiert hatte, während seines Unterrichts von Diogenes einen gerupften Hahn mit den Worten vorführen lassen: "Das ist Platons Mensch" und seine Definition um den kümmerlichen Zusatz ergänzen: "mit platten Nägeln". Der kynische Mensch definiert sich über eine Ästhetik der Existenz; das Ziel seiner anekdotischen Selbststilisierung ist es, die Mitwelt durch seine exemplarische Lebensführung von der Richtigkeit seiner Philosophie zu überzeugen.
Sowohl diesen rhetorischen Impuls wie den kynischen Widerspruchsgeist hat Nietzsche früh mit der Schule von Diogenes geteilt. "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" erzählte er 1873 in aller Kürze: "denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessieren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare. Aus drei Anecdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anecdoten herauszuheben, und gebe das Uebrige preis." Diese Form der Unwiderlegbarkeit sollte schließlich auch die Poetik von Nietzsches Autobiographie bilden: "Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt. Das Buch heißt ,Ecce homo'", schrieb Nietzsche am 20. November 1888 an Georg Brandes.
Im kynischen Licht des Spätwerks erhält ein eher beiläufiges Motiv eine neue Kontur, das sich in der Lektüre von Marco Brusotti als Beweggrund von Nietzsches Denken in den Jahren seiner philosophischen "Freigeisterei", also in den sieben, acht Jahren nach der Abwendung von Wagner, erweist: die Leidenschaft der Erkenntnis. In ihr trifft sich das Denken als experimentelle Grenzerfahrung mit dem ästhetischen Moment der Selbststilisierung. Philosophie entpuppt sich in der Leidenschaft der Erkenntnis als Diätetik, als kunstvolle Lebensgestaltung des Alltags im Dienst des Denkens, das sich sowohl seiner körperlichen wie seiner psychischen Bedingtheit bewußt ist.
Der Entwicklungsgang, der von Nietzsches physiologischer Radikalisierung der Willenskritik in Johann Julius Baumanns "Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie" (1879) über die Steigerung der eigenen Macht in einer affektfrei gehaltenen vita contemplativa und die melancholisch grundierte "Leidenschaft der Redlichkeit" zur pathetischen "Leidenschaft der Erkenntnis" führt, ist allerdings alles andere als gradlinig. Und auch die in ihrer Sorgfalt und in ihrem Quellenreichtum bewundernswerte Monographie von Brusotti mäandriert auf siebenhundert, zum Teil fußnotenschleppenden, aber bemerkenswert druckfehlerfreien Seiten zuweilen arg geduldstrapazierend. Hier büßt die Philologie ihre Rück- und Vorsicht mit dem Verzicht auf den Mut zum Konzept. Und hier ist man gelegentlich auch irritiert durch Brusottis Achtlosigkeit im Umgang mit den Anregungen französischer Nietzsche-Lektüren, die sich gerade durch diesen Mut auszeichnen.
Das Pathos von Nietzsches "Leidenschaft der Erkenntnis" mißt sich zuletzt mit der Herausforderung durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft und durch den Übermenschen, wie "Also sprach Zarathustra" sie in poetisch verdichteter Form zum Ausdruck gebracht hat. Doch das Rhapsodische des Propheten weicht bald der Nüchternheit des Moralkritikers, der darum weiß, daß die "Sittlichkeit der Sitte" sich allein ihrer Herkömmlichkeit verdankt und damit neuen Auslegungen offensteht. In "Jenseits von Gut und Böse" (1886) und "Zur Genealogie der Moral" (1887) hat sich Nietzsches individuelle und subjektive "Leidenschaft der Erkenntnis", die vor allem eine illusionslose Leidenschaft der Selbsterkenntnis war, zur "eigentlichen" philosophischen Aufgabe geläutert, Werte zu schaffen. Marco Brusottis monumentale Monographie stellt uns mit Nachdruck die Frage, welches der beiden Momente von Nietzsches Denken aktueller ist. MARTIN STINGELIN
Marco Brusotti: "Die Leidenschaft der Erkenntnis". Philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von "Morgenröthe" bis "Also sprach Zarathustra". Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997. 702 S., geb., 378,- DM.
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Also sprach Diogenes: Marco Brusotti verfolgt die Spuren der Kyniker in Nietzsches Spätwerk
Friedrich Nietzsche wurde 1868 als Vierundzwanzigjähriger für seine Studie über die Quellen zu Diogenes Laertius' Buch "Leben und Meinungen berühmter Philosophen" mit dem Preis der Universität Leipzig ausgezeichnet und ein Jahr später, noch ohne Promotion, auf den Lehrstuhl für klassische Philologie an der Universität Basel berufen. "Leben und Meinungen berühmter Philosophen": Die Reihenfolge im Titel der einzigen vollständig erhaltenen Philosophiegeschichte der Antike atmet den Geist des Kynismus, und das Kapitel über Diogenes von Sinope, den bedürfnislosesten unter den Philosophen, die sich durch den Spottnamen "Hund" geadelt sahen, gehört denn auch zu den inspiriertesten, weil die anekdotische Flickschusterei von Diogenes Laertius' Buch der kynischen Methode des "kurzen Wegs" genau entspricht. Auf diesem "kurzen Weg" führten die Kyniker ein philosophisches Lehrgebäude umstandslos auf die exemplarische Lebensweise seines Urhebers zurück, um es auf seine Widerspruchsfreiheit und Vorbildhaftigkeit zu prüfen.
Diogenes von Sinope (404 bis 323 vor Christus), Sohn eines Falschmünzers, schmiedete in der Werkstatt der kynischen Lebensphilosophie aus der Anekdote eine moral- und ideologiekritische Waffe, deren Witz die philosophischen Systeme auf einen Schlag in ihren Grundfesten erschütterte. So mußte sich Platon, der den Menschen als "ein federloses zweifüßiges Tier" definiert hatte, während seines Unterrichts von Diogenes einen gerupften Hahn mit den Worten vorführen lassen: "Das ist Platons Mensch" und seine Definition um den kümmerlichen Zusatz ergänzen: "mit platten Nägeln". Der kynische Mensch definiert sich über eine Ästhetik der Existenz; das Ziel seiner anekdotischen Selbststilisierung ist es, die Mitwelt durch seine exemplarische Lebensführung von der Richtigkeit seiner Philosophie zu überzeugen.
Sowohl diesen rhetorischen Impuls wie den kynischen Widerspruchsgeist hat Nietzsche früh mit der Schule von Diogenes geteilt. "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" erzählte er 1873 in aller Kürze: "denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessieren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare. Aus drei Anecdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anecdoten herauszuheben, und gebe das Uebrige preis." Diese Form der Unwiderlegbarkeit sollte schließlich auch die Poetik von Nietzsches Autobiographie bilden: "Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt. Das Buch heißt ,Ecce homo'", schrieb Nietzsche am 20. November 1888 an Georg Brandes.
Im kynischen Licht des Spätwerks erhält ein eher beiläufiges Motiv eine neue Kontur, das sich in der Lektüre von Marco Brusotti als Beweggrund von Nietzsches Denken in den Jahren seiner philosophischen "Freigeisterei", also in den sieben, acht Jahren nach der Abwendung von Wagner, erweist: die Leidenschaft der Erkenntnis. In ihr trifft sich das Denken als experimentelle Grenzerfahrung mit dem ästhetischen Moment der Selbststilisierung. Philosophie entpuppt sich in der Leidenschaft der Erkenntnis als Diätetik, als kunstvolle Lebensgestaltung des Alltags im Dienst des Denkens, das sich sowohl seiner körperlichen wie seiner psychischen Bedingtheit bewußt ist.
Der Entwicklungsgang, der von Nietzsches physiologischer Radikalisierung der Willenskritik in Johann Julius Baumanns "Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie" (1879) über die Steigerung der eigenen Macht in einer affektfrei gehaltenen vita contemplativa und die melancholisch grundierte "Leidenschaft der Redlichkeit" zur pathetischen "Leidenschaft der Erkenntnis" führt, ist allerdings alles andere als gradlinig. Und auch die in ihrer Sorgfalt und in ihrem Quellenreichtum bewundernswerte Monographie von Brusotti mäandriert auf siebenhundert, zum Teil fußnotenschleppenden, aber bemerkenswert druckfehlerfreien Seiten zuweilen arg geduldstrapazierend. Hier büßt die Philologie ihre Rück- und Vorsicht mit dem Verzicht auf den Mut zum Konzept. Und hier ist man gelegentlich auch irritiert durch Brusottis Achtlosigkeit im Umgang mit den Anregungen französischer Nietzsche-Lektüren, die sich gerade durch diesen Mut auszeichnen.
Das Pathos von Nietzsches "Leidenschaft der Erkenntnis" mißt sich zuletzt mit der Herausforderung durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft und durch den Übermenschen, wie "Also sprach Zarathustra" sie in poetisch verdichteter Form zum Ausdruck gebracht hat. Doch das Rhapsodische des Propheten weicht bald der Nüchternheit des Moralkritikers, der darum weiß, daß die "Sittlichkeit der Sitte" sich allein ihrer Herkömmlichkeit verdankt und damit neuen Auslegungen offensteht. In "Jenseits von Gut und Böse" (1886) und "Zur Genealogie der Moral" (1887) hat sich Nietzsches individuelle und subjektive "Leidenschaft der Erkenntnis", die vor allem eine illusionslose Leidenschaft der Selbsterkenntnis war, zur "eigentlichen" philosophischen Aufgabe geläutert, Werte zu schaffen. Marco Brusottis monumentale Monographie stellt uns mit Nachdruck die Frage, welches der beiden Momente von Nietzsches Denken aktueller ist. MARTIN STINGELIN
Marco Brusotti: "Die Leidenschaft der Erkenntnis". Philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von "Morgenröthe" bis "Also sprach Zarathustra". Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997. 702 S., geb., 378,- DM.
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