Nach dem Ersten Weltkrieg verzichteten die alliierten Siegermächte auf eigene Strafverfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher, weil Deutschland sich bereit erklärte, die Beschuldigten selbst vor dem höchsten deutschen Gericht, dem Reichsgericht in Leipzig, anzuklagen.
Von den etwa 900 deutschen Militär- und Zivilpersonen, deren Auslieferung verlangt worden war, und den vielen Hundert, gegen die Deutschland aus eigener Initiative Ermittlungen eingeleitet hatte, wurden letztlich nur zehn verurteilt und sieben freigesprochen. Alle anderen Verfahren endeten mit einem Einstellungsbeschluss - der letzte erging 1931.
In diesen Verfahren musste allerdings zum ersten Mal zur Rechtmäßigkeit von Kriegshandlungen Stellung genommen werden, wie auch zu der Frage was ein Kriegsverbrechen von einem gewöhnlichen Verbrechen unterscheidet oder wann sich ein Soldat strafbar macht.
Gerd Hankel analysiert umfassend die Anklagepunkte und die Verteidigungsstrategien und zeigt die Grenzen der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen auf.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Von den etwa 900 deutschen Militär- und Zivilpersonen, deren Auslieferung verlangt worden war, und den vielen Hundert, gegen die Deutschland aus eigener Initiative Ermittlungen eingeleitet hatte, wurden letztlich nur zehn verurteilt und sieben freigesprochen. Alle anderen Verfahren endeten mit einem Einstellungsbeschluss - der letzte erging 1931.
In diesen Verfahren musste allerdings zum ersten Mal zur Rechtmäßigkeit von Kriegshandlungen Stellung genommen werden, wie auch zu der Frage was ein Kriegsverbrechen von einem gewöhnlichen Verbrechen unterscheidet oder wann sich ein Soldat strafbar macht.
Gerd Hankel analysiert umfassend die Anklagepunkte und die Verteidigungsstrategien und zeigt die Grenzen der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen auf.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2003Verlorene Ehre, gewonnener Makel
Das Leipziger Reichsgericht drückte sich vor der Verfolgung von Kriegsverbrechen
Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 2003. 550 Seiten, 30,- [Euro].
Nach dem Zweiten Weltkrieg saßen die Sieger über die Besiegten zu Gericht. Die Nürnberger Prozesse haben sich tief in die kollektive Erinnerung nicht nur der Deutschen, sondern vieler Völker eingegraben. Demgegenüber ist heute nahezu vergessen, daß schon die Siegermächte des Ersten Weltkriegs bestrebt waren, sowohl den führenden politischen Exponenten des besiegten Deutschland als auch Offizieren und Soldaten, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, den Prozeß zu machen. Die Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung durch die Sieger wurde durch die Aufnahme entsprechender Artikel in den Friedensvertrag geschaffen - ein völkerrechtliches Novum. Artikel 227 verfügte die Einsetzung eines besonderen Gerichtshofs (fünf Richter aus dem Kreis der Siegermächte), vor dem sich Exkaiser Wilhelm II. wegen "schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge" verantworten sollte. In Artikel 228 mußte Deutschland den Siegermächten zugestehen, die "wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen" vor Militärgerichte zu ziehen; sie waren zu diesem Zweck auszuliefern.
Fast wäre an diesen "Ehrenpunkten" die Annahme des Friedensvertrags gescheitert, und gleich nach dessen Unterzeichnung begann ein zähes Ringen um die Durchführung der Strafbestimmungen. Das Ziel der deutschen Seite war, es nicht zur Auslieferung deutscher Staatsbürger kommen zu lassen. Als Anfang Februar 1920 die alliierte Liste der Auszuliefernden bekannt wurde - 890 Namen, darunter Reichskanzler Bethmann Hollweg, die Generalfeldmarschälle Hindenburg und Mackensen, zahlreiche Generäle -, erhob sich in Deutschland ein Sturm der Entrüstung. Auf Tausenden von Kundgebungen manifestierte sich eine klassen- und parteiübergreifende Geschlossenheit gegen das alliierte Vorhaben. Da zudem aus Reichswehr- und Beamtenkreisen verlautete, man werde sich zur Mitwirkung bei der Auslieferung nicht bereit finden, konnte die Reichsregierung erklären, sie sehe sich außerstande, dem Auslieferungsbegehren nachzukommen.
Schließlich lenkten die Siegermächte ein und akzeptierten den deutschen Vorschlag, Verfahren gegen die Beschuldigten in Deutschland selbst durchzuführen - allerdings mit dem Vorbehalt, auf den friedensvertraglichen Rechten zu bestehen, falls eine gerechte Sühnung der Verbrechen nicht stattfinde. Anfang Mai 1920 wurde der Reichsregierung eine sehr viel kürzere Liste von Beschuldigten überreicht; auf dieser sogenannten "Probeliste" standen nur noch 45 Namen. Gegen die Genannten und zahlreiche weitere Beschuldigte fanden in den Jahren 1921 bis 1927 Verfahren vor dem Reichsgericht in Leipzig statt, die "Leipziger Prozesse". Sie sind Gegenstand der minutiösen Untersuchung von Gerd Hankel, der als promovierter Jurist auch die völkerrechtlichen Gesichtspunkte und Aspekte intensiv berücksichtigt. Gestützt auf erst seit kurzem benutzbare Quellenbestände, gibt Hankel in erschöpfender Weise Antworten auf die Fragen nach den rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Verfahren, nach der Art der Ermittlungen, nach der Auslegung des damaligen Kriegsvölkerrechts und nach der Reaktion deutscher sowie alliierter politischer Stellen auf die Verfahren.
Die Tatvorwürfe gegen die in der "Probeliste" aufgeführten 45 Personen - die "großen" Namen waren auf dieser Liste nicht mehr zu finden - betrafen die Begehung von "Greueltaten" (Tötung von Zivilisten beim Einmarsch in Belgien, Erschießung von gefangengenommenen oder verwundeten Soldaten), die Mißhandlung von Kriegsgefangenen, die Durchführung von Zwangsdeportationen sowie Verbrechen im Seekrieg, hier vor allem die Torpedierung von Lazarettschiffen.
Um ein solches Verbrechen ging es in dem Verfahren, das am meisten Aufsehen erregte. Ein deutsches U-Boot, die U 86, hatte am 27. Juni 1918 westlich von Irland ein britisches Lazarettschiff versenkt, und anschließend ließ U-Boot-Kommandant Patzig die Rettungsboote beschießen, um die gegnerischen Zeugen seiner Tat zu beseitigen; 243 Menschen fanden den Tod. Patzig stand auf Platz eins der "Probeliste", aber er hatte sich ins Ausland abgesetzt und war unauffindbar. Verhaftet wurden jedoch die beiden Wachoffiziere der U 86. Der Prozeß gegen Diethmar und Boldt fand im Juli 1921 unter großer internationaler Aufmerksamkeit statt.
Das Reichsgericht verurteilte die beiden Offiziere wegen Beihilfe zum Totschlag zu je vier Jahren Gefängnis - aber schon wenige Monate später wurden die beiden in einer spektakulären Aktion aus dem Gefängnis befreit, von Angehörigen der rechtsextremistischen "Organisation Consul", die bald darauf den Mord an Walther Rathenau verübten. An der Planung der Befreiungsaktion war auch der junge Ernst von Salomon beteiligt, der dann darüber in seinem Erstling "Die Geächteten" berichtete. In den folgenden Jahren agitierten die politischen Rechtskreise zugunsten einer Aufhebung des Urteils gegen Diethmar und Boldt (bei einer dieser Veranstaltungen trafen sich übrigens erstmals Hitler und Göring) und waren schließlich erfolgreich: 1928 hob das Reichsgericht das Urteil auf, sprach Diethmar und Boldt frei und billigte ihnen eine Entschädigung für Untersuchungshaft und teilweise Strafvollstreckung zu.
Dieser Fall steht beispielhaft für die ganze Problematik der Leipziger Prozesse. Die Gesamtbilanz der Hunderte von Verfahren spricht Bände: Nur gegen zehn von 45 Angeschuldigten der "Probeliste" sind Urteile ergangen, vier Straferkenntnissen standen sechs Freisprüche gegenüber; in den übrigen Fällen wurde das Verfahren eingestellt. Insgesamt wurden bis 1927 über 1700 Fälle durch Beschluß des Reichsgerichts in nichtöffentlicher Sitzung oder durch einfache staatsanwaltschaftliche Verfügung abgeschlossen.
Schon Walter Schwengler hat in seiner grundlegenden Studie über die Auslieferungsfrage (1982) konstatiert, die Bilanz der Leipziger Prozesse lasse das Urteil zu, daß die obersten Organe der deutschen Strafrechtspflege mit der Verfolgung der von Deutschen im Ersten Weltkrieg begangenen Verbrechen nicht Ernst gemacht hätten. Dieser Befund wird jetzt durch Hankel massiv untermauert. Seine Kritik am Vorgehen von Reichsanwaltschaft und Reichsgericht fällt deutlich aus, aber er weist auch auf Sachverhalte hin, durch die die Arbeit des Gerichts erschwert wurde.
In vielen Fällen waren die von alliierter Seite erhobenen Beschuldigungen nur sehr spärlich konkretisiert, und selbst bei einigen Fällen der "Probeliste" fehlte jedes Belastungsmaterial. Auch ließen sich die Alliierten bei der Übermittlung von Unterlagen viel Zeit; von 1922 an beschränkten sie ihre Rechtshilfe auf die "Probeliste" und verweigerten darüber hinaus jede Kooperation mit den deutschen Behörden. Das war die eine Seite. Und die andere Seite bestand darin, daß das Reichsgericht in den Kriegsverbrecherprozessen die Strafbarkeit der Tat nach deutschem Recht prüfte und sich bei der Auslegung der Völkerrechtsregeln an die deutsche Interpretation hielt, die nicht selten von derjenigen der Siegermächte abwich. Und schließlich: Reichsanwälte und Reichsgerichtsräte wollten nicht "Büttel der Entente" sein und waren zu rücksichtsloser Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen nicht bereit, denn auf die Leistungen des deutschen Heeres und der kaiserlichen Marine sollte kein Makel fallen.
Mit Blick auf diese komplexen Umstände darf man eine generelle Feststellung treffen: Verbrechen, die in Form eines staatlichen Handelns gekleidet sind, werden nicht oder nur sehr unzureichend von demselben Staat geahndet - und dies ist keine deutsche Besonderheit, wie Hankel ausdrücklich betont. Um Täter von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen nicht straflos davonkommen zu lassen, sieht er nur die Alternative: "Entweder gibt es in dem betreffenden Staat einen Regimewechsel, deutlich genug, damit sich die neue Regierung an die juristische Aufarbeitung der Verbrechen ihrer Vorgänger machen kann, oder eine internationale Strafgerichtsbarkeit wird aktiv und versucht, der Täter habhaft zu werden, um sie zu verurteilen." Seit kurzem existiert der ständige Internationale Strafgerichtshof. Aber er hat, das wird man anmerken dürfen, seine Bewährungsprobe noch vor sich.
EBERHARD KOLB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Leipziger Reichsgericht drückte sich vor der Verfolgung von Kriegsverbrechen
Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 2003. 550 Seiten, 30,- [Euro].
Nach dem Zweiten Weltkrieg saßen die Sieger über die Besiegten zu Gericht. Die Nürnberger Prozesse haben sich tief in die kollektive Erinnerung nicht nur der Deutschen, sondern vieler Völker eingegraben. Demgegenüber ist heute nahezu vergessen, daß schon die Siegermächte des Ersten Weltkriegs bestrebt waren, sowohl den führenden politischen Exponenten des besiegten Deutschland als auch Offizieren und Soldaten, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, den Prozeß zu machen. Die Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung durch die Sieger wurde durch die Aufnahme entsprechender Artikel in den Friedensvertrag geschaffen - ein völkerrechtliches Novum. Artikel 227 verfügte die Einsetzung eines besonderen Gerichtshofs (fünf Richter aus dem Kreis der Siegermächte), vor dem sich Exkaiser Wilhelm II. wegen "schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge" verantworten sollte. In Artikel 228 mußte Deutschland den Siegermächten zugestehen, die "wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen" vor Militärgerichte zu ziehen; sie waren zu diesem Zweck auszuliefern.
Fast wäre an diesen "Ehrenpunkten" die Annahme des Friedensvertrags gescheitert, und gleich nach dessen Unterzeichnung begann ein zähes Ringen um die Durchführung der Strafbestimmungen. Das Ziel der deutschen Seite war, es nicht zur Auslieferung deutscher Staatsbürger kommen zu lassen. Als Anfang Februar 1920 die alliierte Liste der Auszuliefernden bekannt wurde - 890 Namen, darunter Reichskanzler Bethmann Hollweg, die Generalfeldmarschälle Hindenburg und Mackensen, zahlreiche Generäle -, erhob sich in Deutschland ein Sturm der Entrüstung. Auf Tausenden von Kundgebungen manifestierte sich eine klassen- und parteiübergreifende Geschlossenheit gegen das alliierte Vorhaben. Da zudem aus Reichswehr- und Beamtenkreisen verlautete, man werde sich zur Mitwirkung bei der Auslieferung nicht bereit finden, konnte die Reichsregierung erklären, sie sehe sich außerstande, dem Auslieferungsbegehren nachzukommen.
Schließlich lenkten die Siegermächte ein und akzeptierten den deutschen Vorschlag, Verfahren gegen die Beschuldigten in Deutschland selbst durchzuführen - allerdings mit dem Vorbehalt, auf den friedensvertraglichen Rechten zu bestehen, falls eine gerechte Sühnung der Verbrechen nicht stattfinde. Anfang Mai 1920 wurde der Reichsregierung eine sehr viel kürzere Liste von Beschuldigten überreicht; auf dieser sogenannten "Probeliste" standen nur noch 45 Namen. Gegen die Genannten und zahlreiche weitere Beschuldigte fanden in den Jahren 1921 bis 1927 Verfahren vor dem Reichsgericht in Leipzig statt, die "Leipziger Prozesse". Sie sind Gegenstand der minutiösen Untersuchung von Gerd Hankel, der als promovierter Jurist auch die völkerrechtlichen Gesichtspunkte und Aspekte intensiv berücksichtigt. Gestützt auf erst seit kurzem benutzbare Quellenbestände, gibt Hankel in erschöpfender Weise Antworten auf die Fragen nach den rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Verfahren, nach der Art der Ermittlungen, nach der Auslegung des damaligen Kriegsvölkerrechts und nach der Reaktion deutscher sowie alliierter politischer Stellen auf die Verfahren.
Die Tatvorwürfe gegen die in der "Probeliste" aufgeführten 45 Personen - die "großen" Namen waren auf dieser Liste nicht mehr zu finden - betrafen die Begehung von "Greueltaten" (Tötung von Zivilisten beim Einmarsch in Belgien, Erschießung von gefangengenommenen oder verwundeten Soldaten), die Mißhandlung von Kriegsgefangenen, die Durchführung von Zwangsdeportationen sowie Verbrechen im Seekrieg, hier vor allem die Torpedierung von Lazarettschiffen.
Um ein solches Verbrechen ging es in dem Verfahren, das am meisten Aufsehen erregte. Ein deutsches U-Boot, die U 86, hatte am 27. Juni 1918 westlich von Irland ein britisches Lazarettschiff versenkt, und anschließend ließ U-Boot-Kommandant Patzig die Rettungsboote beschießen, um die gegnerischen Zeugen seiner Tat zu beseitigen; 243 Menschen fanden den Tod. Patzig stand auf Platz eins der "Probeliste", aber er hatte sich ins Ausland abgesetzt und war unauffindbar. Verhaftet wurden jedoch die beiden Wachoffiziere der U 86. Der Prozeß gegen Diethmar und Boldt fand im Juli 1921 unter großer internationaler Aufmerksamkeit statt.
Das Reichsgericht verurteilte die beiden Offiziere wegen Beihilfe zum Totschlag zu je vier Jahren Gefängnis - aber schon wenige Monate später wurden die beiden in einer spektakulären Aktion aus dem Gefängnis befreit, von Angehörigen der rechtsextremistischen "Organisation Consul", die bald darauf den Mord an Walther Rathenau verübten. An der Planung der Befreiungsaktion war auch der junge Ernst von Salomon beteiligt, der dann darüber in seinem Erstling "Die Geächteten" berichtete. In den folgenden Jahren agitierten die politischen Rechtskreise zugunsten einer Aufhebung des Urteils gegen Diethmar und Boldt (bei einer dieser Veranstaltungen trafen sich übrigens erstmals Hitler und Göring) und waren schließlich erfolgreich: 1928 hob das Reichsgericht das Urteil auf, sprach Diethmar und Boldt frei und billigte ihnen eine Entschädigung für Untersuchungshaft und teilweise Strafvollstreckung zu.
Dieser Fall steht beispielhaft für die ganze Problematik der Leipziger Prozesse. Die Gesamtbilanz der Hunderte von Verfahren spricht Bände: Nur gegen zehn von 45 Angeschuldigten der "Probeliste" sind Urteile ergangen, vier Straferkenntnissen standen sechs Freisprüche gegenüber; in den übrigen Fällen wurde das Verfahren eingestellt. Insgesamt wurden bis 1927 über 1700 Fälle durch Beschluß des Reichsgerichts in nichtöffentlicher Sitzung oder durch einfache staatsanwaltschaftliche Verfügung abgeschlossen.
Schon Walter Schwengler hat in seiner grundlegenden Studie über die Auslieferungsfrage (1982) konstatiert, die Bilanz der Leipziger Prozesse lasse das Urteil zu, daß die obersten Organe der deutschen Strafrechtspflege mit der Verfolgung der von Deutschen im Ersten Weltkrieg begangenen Verbrechen nicht Ernst gemacht hätten. Dieser Befund wird jetzt durch Hankel massiv untermauert. Seine Kritik am Vorgehen von Reichsanwaltschaft und Reichsgericht fällt deutlich aus, aber er weist auch auf Sachverhalte hin, durch die die Arbeit des Gerichts erschwert wurde.
In vielen Fällen waren die von alliierter Seite erhobenen Beschuldigungen nur sehr spärlich konkretisiert, und selbst bei einigen Fällen der "Probeliste" fehlte jedes Belastungsmaterial. Auch ließen sich die Alliierten bei der Übermittlung von Unterlagen viel Zeit; von 1922 an beschränkten sie ihre Rechtshilfe auf die "Probeliste" und verweigerten darüber hinaus jede Kooperation mit den deutschen Behörden. Das war die eine Seite. Und die andere Seite bestand darin, daß das Reichsgericht in den Kriegsverbrecherprozessen die Strafbarkeit der Tat nach deutschem Recht prüfte und sich bei der Auslegung der Völkerrechtsregeln an die deutsche Interpretation hielt, die nicht selten von derjenigen der Siegermächte abwich. Und schließlich: Reichsanwälte und Reichsgerichtsräte wollten nicht "Büttel der Entente" sein und waren zu rücksichtsloser Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen nicht bereit, denn auf die Leistungen des deutschen Heeres und der kaiserlichen Marine sollte kein Makel fallen.
Mit Blick auf diese komplexen Umstände darf man eine generelle Feststellung treffen: Verbrechen, die in Form eines staatlichen Handelns gekleidet sind, werden nicht oder nur sehr unzureichend von demselben Staat geahndet - und dies ist keine deutsche Besonderheit, wie Hankel ausdrücklich betont. Um Täter von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen nicht straflos davonkommen zu lassen, sieht er nur die Alternative: "Entweder gibt es in dem betreffenden Staat einen Regimewechsel, deutlich genug, damit sich die neue Regierung an die juristische Aufarbeitung der Verbrechen ihrer Vorgänger machen kann, oder eine internationale Strafgerichtsbarkeit wird aktiv und versucht, der Täter habhaft zu werden, um sie zu verurteilen." Seit kurzem existiert der ständige Internationale Strafgerichtshof. Aber er hat, das wird man anmerken dürfen, seine Bewährungsprobe noch vor sich.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Beeindruckend findet Wolfgang Kruse die großangelegte Schilderung der Leipziger Kriegsverbrecherprozesse, wenn auch "manchmal etwas langatmig". Henkel gelinge es, die politische Grundhaltung der deutschen Justiz nach dem ersten Weltkrieg deutlich zu machen, der es offensichtlich nicht um Strafverfolgung ging, sondern darum, "deutsche 'Kriegshelden' von jedem Vorwurf reinzuwaschen". Die moralischen Abgründe, die der Autor dabei in seiner Darstellung der deutschen Kriegsverbrechen vor allem in Belgien und Nordfrankreich aufzeigt, "verlangen dem Leser einiges ab", warnt der Rezensent. Insgesamt überzeuge der voluminöse Band aber durch seine "Vielschichtigkeit und Differenziertheit", mit der er die ersten Geburtswehen der internationalen Ahndung von Kriegsverbrechen beschreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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