Um die verbotenen Orte ihrer Kindheit zu sehen, unternahm Kapka Kassabova eine Reise in ihre Heimat. Was sie entdeckte, waren Wälder, Gebirge und Landschaften, die ihr Herz stehenbleiben ließen, so schön sind sie. Dort, wo Bulgarien, Griechenland und die Türkei aufeinandertreffen, das alte Thrakien. Bis 1989 war dieses Gebiet eine "verdunkelte, bewaldete Berliner Mauer". Und jetzt? Sie sieht die Wälder des Strandscha-Gebirges und menschenleere Dörfer in den Rhodopen, sie trifft Schmuggler, Wilderer und ganz normale Leute, die ihr Geschichten erzählen über Liebe und Tod, das Einst und das Jetzt und wie es ist, vom Rand plötzlich in die Mitte der Welt gerückt worden zu sein.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Ein Witz ohne Pointe
Im Grenzland von Bulgarien, Griechenland und der Türkei mischen sich Europa und Asien, das Christentum und der Islam,
drei Alphabete und mindestens drei Versionen der Geschichte. Kapka Kassabova bereist diese Region der vielen Wahrheiten
VON STEFAN FISCHER
Wo eine Grenze ist, erwacht immer auch der Wunsch, sie zu überschreiten. Um sein Glück auf der anderen Seite zu suchen – was die Grenze einem eigentlich verwehren soll. Kapka Kassabova hat sich auf das Abenteuer solcher Ortswechsel eingelassen. Wobei es ihr rein praktisch ein Leichtes ist, auf die andere Seite zu gehen, von Bulgarien, wo sie aufgewachsen ist, nach Griechenland, weiter in die Türkei und zurück ins Land ihrer Kindheit und Jugend. Kassabova ist zur rechten Zeit geboren: Sie gehört jener Generation an, die erwachsen geworden ist, als in Berlin die Mauer gefallen ist und die kommunistischen Systeme in ganz Osteuropa zusammengebrochen sind. Und sie besitzt den richtigen Pass. Kassabova, mittlerweile in Schottland zu Hause, hat die Mittel und Möglichkeiten zu einer Reise an und über „Die letzte Grenze“, wie ihr Buch „Border“ im Deutschen betitelt ist. Einer Reise durchs historische Thrakien, das sich heute auf drei Staaten verteilt.
Mental ist diese Erkundung nichtsdestotrotz eine Herausforderung. Immens vieles prallt hier aufeinander: Europa auf Asien, das Christentum auf den Islam, drei Alphabete und mindestens drei Versionen der Geschichte. So durchlässig wie derzeit war die Grenze zwischen den drei Ländern lange nicht mehr. Sie trennt jedoch nach wie vor Ethnien und Religionen, Kulturen und Mentalitäten. Angelegenheiten aus den Zeiten des Osmanischen Reiches und des Kalten Krieges sind noch nicht bereinigt. Und dass Menschen zwangsweise über diese Grenze hinüber mussten, weil Staatsmächte immer wieder Minderheiten vertrieben haben, verschärft die Situation.
Thrakien, so Kassabova, sei eine große, verschrobene Wildnis. Nicht nur in Bezug auf die unwegsame Natur. Eine „Welt aus den Angeln“. Bevölkert von Desperados, Aussteigern und Hängengebliebenen.
Den ersten Posten bezieht die Autorin im bulgarischen, den letzten im türkischen Teil des Strandscha-Gebirges. Am Ende ihrer Reise trifft sie eine Frau, die die Strandscha als „ein Mysterium innerhalb eines Rätsels“ bezeichnet. „Hier zu leben ist wie ein Witz ohne Pointe“, sagt Minka, eine Frau, die mit ihrem Mann „Die Disco“ betreibt, das Café im Ort. Die Geschäfte laufen miserabel. „Die einzige Hoffnung ist der Ökotourismus“, sagt Minka, der das Servicedenken nicht in die Wiege gelegt wurde. Ein belgischer Wanderer kreuzt auf, der Bergpflanzen inventarisiert, zwei Iren, baskische Radfahrer. Immerhin. Doch die gesamte Region ist nicht nur den Westeuropäern fremd, sondern auch den urbanen Eliten Bulgariens, Griechenlands und der Türkei. Im Kommunismus war das Grenzland auf bulgarischer Seite Sperrzone, 415 Menschen sind offiziell gestorben, die von hier in „den Westen“ wollten, in die Nato-Staaten Griechenland und Türkei. Sie wurden betrogen, verpfiffen, abgeknallt. Aktuell dient die Grenze als Bollwerk gegen die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die von der Türkei aus in die EU gelangen wollen und deren Wege Kassabova immer wieder kreuzt.
Die Einheimischen sind alle noch da: die Grenzschützer von damals, die skrupellosen und die ehrlichen Fluchthelfer, die Denunzianten und jene, die weggeschaut haben, wenn es etwas zu bezeugen gab. Sie wissen umeinander, müssen miteinander leben und, was schwerer wiegt, mit der Last ihrer Entscheidungen und Taten.
Das gegenseitige Misstrauen ist groß, das stellt Kapka Kassabova rasch fest. Es gibt kaum verlässliche Erzähler. Hinzu kommt der Aberglaube, ein ausgeprägter Hang vieler Menschen zum Mystizismus und zu Verschwörungstheorien, was angesichts einer fortwährenden Ausbeutung durch politische Machthaber und Unternehmer nicht einmal verwunderlich ist. „Die Leute in der Strandscha waren in jeder erdenklichen Art beraubt worden“, schreibt Kassabova. Nur ihre Hirngespinste „konnte ihnen niemand nehmen“. Sie lässt sich vor allem am Beginn ihrer Reise auf diese Rätselhaftigkeit ein. Es ist der Versuch zu verstehen.
Die Dinge liegen nun einmal nicht einfach. Auf bulgarischer Seite lockt Svilengrad mit schäbigem Vergnügen: mit Alkohol, Spielcasinos und billigen Huren. Die türkische Seite indes war zumindest bis zur aktuellen Wirtschaftskrise die wohlhabendere, betriebsamere mit der besseren Infrastruktur und den besseren Einkaufsmöglichkeiten. Dass die EU sich die Türkei vom Leib hält, wirkt hier, wo beide unmittelbar aufeinandertreffen, absurd.
Was die Lage verkompliziert ist, dass in der Grenzregion etliche Menschen zwischen die Fronten geraten sind. So hat Bulgarien im Sommer 1989, kurz vor der Wende, mehr als 300 000 ethnische Türken in die Türkei ausgewiesen, aus Angst, von einer muslimischen Minderheit im eigenen Land überfremdet zu werden. Besonders bizarr ist die Situation der Pomaken. Sie sind ethnische Bulgaren, also Slawen, gehören aber dem Islam an. Im kommunistischen Bulgarien galten sie als die fünfte Kolonne des Türkentums, die ihre Loyalität deshalb besonders unter Beweis stellen mussten, etwa als Grenzschützer. Ihren Glaubensbrüdern in der Türkei wiederum waren sie als die fünfte Kolonne des Kommunismus suspekt. Heute sind die Pomaken den laizistischen Türken zu fromm. Und diejenigen Pomaken, die in Griechenland leben, sind dort wegen ihrer slawischen Sprache und ihres muslimischen Glaubens doppelt Fremde.
Trotz dieser vielen Konfliktlinien fühlt Kapka Kassabova sich nur einmal bedroht – da allerdings hat sie Angst um ihr Leben. Zu unrecht, wie sich herausstellt, ein Missverständnis. Von denen gibt es mehrere. Kassabova, obschon keine gänzliche Fremde, begeht Fehler aus Unwissenheit über Sitten und Mentalitäten. So lädt sie einen Mann ein, der dann aber für beide bezahlt, obwohl er es sich nicht leisten kann. Weil er sich in seiner Welt nicht von einer Frau aushalten lassen kann, selbst für einen Abend nicht.
Der Reisebericht, der vieles erhellt und manches im Dunkeln belassen muss, endet mit einer Geschichte, die womöglich symptomatisch ist. Weil in ihr Verschrobenheit und Bitterkeit eine Rolle spielen, aber auch Beharrungsvermögen und Heimatliebe. Sie handelt von einem Mann, der aus freien Stücken, ohne Bezahlung und gegen Widerstände der Behörden ein Kloster bewacht, um es vor Verfall und Vandalismus zu beschützen.
In der Türkei ersticke einen der Staat, in Bulgarien sei man dem eigenen Unglück ausgeliefert, schreibt Kassabova an einer Stelle. „Die letzte Grenze“ erzählt von Menschen, die noch nicht resigniert haben. Jedenfalls nicht restlos.
Die Pomaken sind den einen
zu slawisch, den anderen zu
muslimisch und allen zu fromm
Kapka Kassabova:
Die letzte Grenze.
Am Rande Europas, in der Mitte der Welt.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer.
Paul Zsolnay Verlag,
Wien 2018. 384 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Im Grenzland von Bulgarien, Griechenland und der Türkei mischen sich Europa und Asien, das Christentum und der Islam,
drei Alphabete und mindestens drei Versionen der Geschichte. Kapka Kassabova bereist diese Region der vielen Wahrheiten
VON STEFAN FISCHER
Wo eine Grenze ist, erwacht immer auch der Wunsch, sie zu überschreiten. Um sein Glück auf der anderen Seite zu suchen – was die Grenze einem eigentlich verwehren soll. Kapka Kassabova hat sich auf das Abenteuer solcher Ortswechsel eingelassen. Wobei es ihr rein praktisch ein Leichtes ist, auf die andere Seite zu gehen, von Bulgarien, wo sie aufgewachsen ist, nach Griechenland, weiter in die Türkei und zurück ins Land ihrer Kindheit und Jugend. Kassabova ist zur rechten Zeit geboren: Sie gehört jener Generation an, die erwachsen geworden ist, als in Berlin die Mauer gefallen ist und die kommunistischen Systeme in ganz Osteuropa zusammengebrochen sind. Und sie besitzt den richtigen Pass. Kassabova, mittlerweile in Schottland zu Hause, hat die Mittel und Möglichkeiten zu einer Reise an und über „Die letzte Grenze“, wie ihr Buch „Border“ im Deutschen betitelt ist. Einer Reise durchs historische Thrakien, das sich heute auf drei Staaten verteilt.
Mental ist diese Erkundung nichtsdestotrotz eine Herausforderung. Immens vieles prallt hier aufeinander: Europa auf Asien, das Christentum auf den Islam, drei Alphabete und mindestens drei Versionen der Geschichte. So durchlässig wie derzeit war die Grenze zwischen den drei Ländern lange nicht mehr. Sie trennt jedoch nach wie vor Ethnien und Religionen, Kulturen und Mentalitäten. Angelegenheiten aus den Zeiten des Osmanischen Reiches und des Kalten Krieges sind noch nicht bereinigt. Und dass Menschen zwangsweise über diese Grenze hinüber mussten, weil Staatsmächte immer wieder Minderheiten vertrieben haben, verschärft die Situation.
Thrakien, so Kassabova, sei eine große, verschrobene Wildnis. Nicht nur in Bezug auf die unwegsame Natur. Eine „Welt aus den Angeln“. Bevölkert von Desperados, Aussteigern und Hängengebliebenen.
Den ersten Posten bezieht die Autorin im bulgarischen, den letzten im türkischen Teil des Strandscha-Gebirges. Am Ende ihrer Reise trifft sie eine Frau, die die Strandscha als „ein Mysterium innerhalb eines Rätsels“ bezeichnet. „Hier zu leben ist wie ein Witz ohne Pointe“, sagt Minka, eine Frau, die mit ihrem Mann „Die Disco“ betreibt, das Café im Ort. Die Geschäfte laufen miserabel. „Die einzige Hoffnung ist der Ökotourismus“, sagt Minka, der das Servicedenken nicht in die Wiege gelegt wurde. Ein belgischer Wanderer kreuzt auf, der Bergpflanzen inventarisiert, zwei Iren, baskische Radfahrer. Immerhin. Doch die gesamte Region ist nicht nur den Westeuropäern fremd, sondern auch den urbanen Eliten Bulgariens, Griechenlands und der Türkei. Im Kommunismus war das Grenzland auf bulgarischer Seite Sperrzone, 415 Menschen sind offiziell gestorben, die von hier in „den Westen“ wollten, in die Nato-Staaten Griechenland und Türkei. Sie wurden betrogen, verpfiffen, abgeknallt. Aktuell dient die Grenze als Bollwerk gegen die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die von der Türkei aus in die EU gelangen wollen und deren Wege Kassabova immer wieder kreuzt.
Die Einheimischen sind alle noch da: die Grenzschützer von damals, die skrupellosen und die ehrlichen Fluchthelfer, die Denunzianten und jene, die weggeschaut haben, wenn es etwas zu bezeugen gab. Sie wissen umeinander, müssen miteinander leben und, was schwerer wiegt, mit der Last ihrer Entscheidungen und Taten.
Das gegenseitige Misstrauen ist groß, das stellt Kapka Kassabova rasch fest. Es gibt kaum verlässliche Erzähler. Hinzu kommt der Aberglaube, ein ausgeprägter Hang vieler Menschen zum Mystizismus und zu Verschwörungstheorien, was angesichts einer fortwährenden Ausbeutung durch politische Machthaber und Unternehmer nicht einmal verwunderlich ist. „Die Leute in der Strandscha waren in jeder erdenklichen Art beraubt worden“, schreibt Kassabova. Nur ihre Hirngespinste „konnte ihnen niemand nehmen“. Sie lässt sich vor allem am Beginn ihrer Reise auf diese Rätselhaftigkeit ein. Es ist der Versuch zu verstehen.
Die Dinge liegen nun einmal nicht einfach. Auf bulgarischer Seite lockt Svilengrad mit schäbigem Vergnügen: mit Alkohol, Spielcasinos und billigen Huren. Die türkische Seite indes war zumindest bis zur aktuellen Wirtschaftskrise die wohlhabendere, betriebsamere mit der besseren Infrastruktur und den besseren Einkaufsmöglichkeiten. Dass die EU sich die Türkei vom Leib hält, wirkt hier, wo beide unmittelbar aufeinandertreffen, absurd.
Was die Lage verkompliziert ist, dass in der Grenzregion etliche Menschen zwischen die Fronten geraten sind. So hat Bulgarien im Sommer 1989, kurz vor der Wende, mehr als 300 000 ethnische Türken in die Türkei ausgewiesen, aus Angst, von einer muslimischen Minderheit im eigenen Land überfremdet zu werden. Besonders bizarr ist die Situation der Pomaken. Sie sind ethnische Bulgaren, also Slawen, gehören aber dem Islam an. Im kommunistischen Bulgarien galten sie als die fünfte Kolonne des Türkentums, die ihre Loyalität deshalb besonders unter Beweis stellen mussten, etwa als Grenzschützer. Ihren Glaubensbrüdern in der Türkei wiederum waren sie als die fünfte Kolonne des Kommunismus suspekt. Heute sind die Pomaken den laizistischen Türken zu fromm. Und diejenigen Pomaken, die in Griechenland leben, sind dort wegen ihrer slawischen Sprache und ihres muslimischen Glaubens doppelt Fremde.
Trotz dieser vielen Konfliktlinien fühlt Kapka Kassabova sich nur einmal bedroht – da allerdings hat sie Angst um ihr Leben. Zu unrecht, wie sich herausstellt, ein Missverständnis. Von denen gibt es mehrere. Kassabova, obschon keine gänzliche Fremde, begeht Fehler aus Unwissenheit über Sitten und Mentalitäten. So lädt sie einen Mann ein, der dann aber für beide bezahlt, obwohl er es sich nicht leisten kann. Weil er sich in seiner Welt nicht von einer Frau aushalten lassen kann, selbst für einen Abend nicht.
Der Reisebericht, der vieles erhellt und manches im Dunkeln belassen muss, endet mit einer Geschichte, die womöglich symptomatisch ist. Weil in ihr Verschrobenheit und Bitterkeit eine Rolle spielen, aber auch Beharrungsvermögen und Heimatliebe. Sie handelt von einem Mann, der aus freien Stücken, ohne Bezahlung und gegen Widerstände der Behörden ein Kloster bewacht, um es vor Verfall und Vandalismus zu beschützen.
In der Türkei ersticke einen der Staat, in Bulgarien sei man dem eigenen Unglück ausgeliefert, schreibt Kassabova an einer Stelle. „Die letzte Grenze“ erzählt von Menschen, die noch nicht resigniert haben. Jedenfalls nicht restlos.
Die Pomaken sind den einen
zu slawisch, den anderen zu
muslimisch und allen zu fromm
Kapka Kassabova:
Die letzte Grenze.
Am Rande Europas, in der Mitte der Welt.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer.
Paul Zsolnay Verlag,
Wien 2018. 384 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2018Was hätte aus Thrakien alles werden können
Im tiefen Südosten: Kapka Kassabova bereist den Hinterhof Europas und findet statt Menschen Fabelwesen
Das Dreiländereck zwischen der Türkei, Bulgarien und Griechenland ist eine europäische Terra incognita. Der äußerste Südosten des europäischen Südostens, dieser kaum bekannte Hinterhof Europas, ist zugleich der erweiterte Vorhof Istanbuls. Die Rhodopen? Der Evros? Die thrakische Ebene? Pomaken? Edirne? Wer weiß schon etwas darüber, wäre gar je dort gewesen? Kapka Kassabova, eine in Großbritannien lebende, aber in Bulgarien aufgewachsene Autorin, kennt die Region. Aus ihren Aufenthalten im Süden Bulgariens, im Nordosten Griechenlands und im Nordwesten der Türkei ist ein Buch geworden, das "die Menschengeschichte der letzten Grenze Europas" erzählen will.
Und zu erzählen gäbe es viel aus dem Dreiländereck, wo noch vor dreißig Jahren der südlichste Abschnitt des Eisernen Vorhangs hing, "eine von den Armeen dreier Länder verdunkelte, bewaldete Berliner Mauer", wie es die Autorin nennt. Für sie ist das Buch auch ein autobiographisches Experiment, denn sie wollte die Orte sehen, deren Betreten zu ihrer Kindheit verboten, ja lebensgefährlich war. Viele Deutsche, Polen, Tschechen, Ungarn und andere zahlten für den Versuch, einen Urlaub in Bulgarien zur Flucht nach Griechenland zu nutzen, mit dem Leben oder ihrer Freiheit.
Mehr als vierhundert Flüchtlinge gingen bis 1989 als "vermisste Touristen" in eine triste Statistik ein. Andere wurden Opfer eines tragischen Irrtums: Sie hatten, auch getäuscht durch bewusst irreführende Karten, die im Ostblock zur Erschwerung der Flucht gedruckt wurden, den Stacheldrahtzaun überwunden und glaubten, bereits im Westen zu sein. Doch der Zaun stand einige hundert Meter tief auf bulgarischem Territorium und löste beim Durchtrennen der Drähte Alarm aus. Die sich frei Wähnenden waren immer noch im Reich des Unrechts, und oft griffen Grenzer sie auf. Andere wurden verraten von bulgarischen Schäfern oder Waldarbeitern, die Fremde aus Angst oder um eine Prämie, etwa für eine sowjetische Armbanduhr, ans Messer lieferten. Allein aus der DDR versuchten viertausend Bürger, Griechenland oder die Türkei zu erreichen. Wenigen gelang es.
Kassabova schildert solche Fälle, spricht mit einstigen Grenzbeamten, trifft in Berlin einen Mann, dessen Flucht glückte, bewandert alte Pfade zwischen den Blöcken. Sie kontrastiert Rückblenden effektvoll mit der Gegenwart, in der Menschen in die andere Richtung drängen und dabei vor einem neuen Grenzzaun stehen, der nicht mehr Europäer am Gehen, sondern Asiaten und Afrikaner am Kommen hindern soll, wenn auch, was ein riesiger Unterschied ist, ohne Schießbefehl.
Kassabova schildert das Grenzgebiet aber auch aus anderen Perspektiven. Sie trifft Thrakologen, also Wissenschaftler, die sich mit den Thrakern befassen, einem untergegangenen Volk, über das Herodot geschrieben hatte, es könnte spielend die Griechen unterwerfen, wenn seine Stämme nur politisch einig wären. Sie schildert die Geschichte der bulgarischen Tabakfelder (Bulgarien war einst der größte Tabakexporteur der Welt) und des Rosenöls, dessen Weltproduktion immer noch zur Hälfte in Thrakien gewonnen wird. Sie besucht die Pomaken, slawischsprachige Muslime in Bulgarien und Griechenland, die in beiden Staaten scheel angesehen werden: "Ebenso wie der kommunistische bulgarische Staat vom Wahn besessen gewesen war, die Pomaken seien eine fünfte Kolonne der Türkei und des Orientalismus, war der griechische Staat der Paranoia unterlegen, die Pomaken seien die fünfte Kolonne Bulgariens und des Kommunismus. Als Reflex auf die Paranoia jedes Staates wurden in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Namen bulgarischer Pomaken slawisiert (also de-islamisiert), während die Namen griechischer Pomaken türkisiert (also de-slawisiert) wurden."
Solche Hintergründe versucht Kassabova über die Geschichten von Menschen zu verdeutlichen, die sie auf ihrer Reise trifft - und das ist eine exzellente Idee. Nur geht sie oft nicht auf. "Die letzte Grenze" ist eine literarische Großreportage, der es oft an gedanklicher und sprachlicher Akkuratesse mangelt. Dinge passieren und werden geschildert, ohne dass sie etwas erhellen. Sie ereignen sich einfach, da halt immer irgendetwas geschieht. Selten entsteht ein präzises Bild, eine einprägsame Geschichte. Menschen werden mit Sätzen zitiert, aus denen wir nichts über sie lernen und die auch die Handlung nicht entwickeln. Dann wieder folgen seitenlang referierte Geister- und Spukgeschichten, bei denen in die Bewohner der Grenzregionen ständig etwas hineingeheimnisst wird, als seien es Fabelwesen und nicht Menschen wie alle anderen.
Das erinnert an die These der in den Vereinigten Staaten lehrenden Historikerin Maria Todorova, einer anderen bulgarischen Emigrantin, die in ihrem Standardwerk "Die Erfindung des Balkans" zeigt, wie Reiseberichte und Zeitungstexte über den Balkan schon im neunzehnten Jahrhundert meinungsbildende Klischees schufen und von einem für Simplifizierungen durchaus empfänglichen westlichen Publikum dankbar aufgenommen wurden. Weiterführende Literatur: "Durch das Land der Skipetaren" und "In den Schluchten des Balkan" von Karl May.
Bei Kassabova begegnen wir Menschen "mit Augen, die zu viel gesehen hatten", und die Grenzregion erscheint bei ihr als "das Reich derjenigen, die die Berge im Blut haben". Berge im Blut zu haben muss sehr unangenehm sein, aber die Männer in diesem Buch ertragen es stoisch, denn sie haben "archaische balkanische Gesichtszüge von granitener Geduld", wobei es Unterschiede gibt: "Der türkische Mann in Thrakien war resigniert, zurückhaltend, hatte Trauer in den Augen. Sein bulgarisches Gegenüber war misstrauisch, aggressiv und Alkoholiker." Über Roma heißt es: "Zigeuner können Muslime sein, Christen oder keines von beiden. Sie können sich in Lumpen kleiden oder sich mit Gold behängen. Sie können mit einer Ziege in einem Herrenhaus wohnen. Egal, was sie tun, sie bleiben unweigerlich sie selbst: grenzenlos."
Zu solchen Klischees kommen dann noch sachliche Fehler, die in ihrer Häufung irritierend sind. Dass es in Edirne ein nominelles Alkoholverbot gibt, ist falsch, denn die Stadt ist stolz auf ihre säkulare Tradition, was nahezu ostentativen Alkoholkonsum einschließt. Es ist kein Zufall, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch nie eine Mehrheit in Edirne gewinnen konnte. Dass Erdogans Anhänger "verschleierte Frauen und verbissen blickende Männer" seien, mit Gesichtern, "als würden sie immerzu an Zitronen lutschen", mag originell formuliert sein, aber etwas komplexer ist die Sache wohl doch.
Die größte türkische Oppositionspartei heißt nicht TCF, und "KKK" steht nicht für die Kommunistische Partei Griechenlands. In Griechenland liegt viel im Argen, aber dass Staatsangestellte achtzehn Monate kein Gehalt bekommen hätten, ist nicht vorgekommen. Und wenn die Autorin schreibt: "Ich fühlte es wie eine starke Präsenz: Der Geist des Balkans war hier", wird selbst die granitenste Lesergeduld irgendwann brüchig.
MICHAEL MARTENS
Kapka Kassabova:
"Die letzte Grenze". Am Rand Europas, in der Mitte der Welt.
Aus dem Englischen von
Brigitte Hilzensauer.
Zsolnay Verlag, Wien 2018. 384 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im tiefen Südosten: Kapka Kassabova bereist den Hinterhof Europas und findet statt Menschen Fabelwesen
Das Dreiländereck zwischen der Türkei, Bulgarien und Griechenland ist eine europäische Terra incognita. Der äußerste Südosten des europäischen Südostens, dieser kaum bekannte Hinterhof Europas, ist zugleich der erweiterte Vorhof Istanbuls. Die Rhodopen? Der Evros? Die thrakische Ebene? Pomaken? Edirne? Wer weiß schon etwas darüber, wäre gar je dort gewesen? Kapka Kassabova, eine in Großbritannien lebende, aber in Bulgarien aufgewachsene Autorin, kennt die Region. Aus ihren Aufenthalten im Süden Bulgariens, im Nordosten Griechenlands und im Nordwesten der Türkei ist ein Buch geworden, das "die Menschengeschichte der letzten Grenze Europas" erzählen will.
Und zu erzählen gäbe es viel aus dem Dreiländereck, wo noch vor dreißig Jahren der südlichste Abschnitt des Eisernen Vorhangs hing, "eine von den Armeen dreier Länder verdunkelte, bewaldete Berliner Mauer", wie es die Autorin nennt. Für sie ist das Buch auch ein autobiographisches Experiment, denn sie wollte die Orte sehen, deren Betreten zu ihrer Kindheit verboten, ja lebensgefährlich war. Viele Deutsche, Polen, Tschechen, Ungarn und andere zahlten für den Versuch, einen Urlaub in Bulgarien zur Flucht nach Griechenland zu nutzen, mit dem Leben oder ihrer Freiheit.
Mehr als vierhundert Flüchtlinge gingen bis 1989 als "vermisste Touristen" in eine triste Statistik ein. Andere wurden Opfer eines tragischen Irrtums: Sie hatten, auch getäuscht durch bewusst irreführende Karten, die im Ostblock zur Erschwerung der Flucht gedruckt wurden, den Stacheldrahtzaun überwunden und glaubten, bereits im Westen zu sein. Doch der Zaun stand einige hundert Meter tief auf bulgarischem Territorium und löste beim Durchtrennen der Drähte Alarm aus. Die sich frei Wähnenden waren immer noch im Reich des Unrechts, und oft griffen Grenzer sie auf. Andere wurden verraten von bulgarischen Schäfern oder Waldarbeitern, die Fremde aus Angst oder um eine Prämie, etwa für eine sowjetische Armbanduhr, ans Messer lieferten. Allein aus der DDR versuchten viertausend Bürger, Griechenland oder die Türkei zu erreichen. Wenigen gelang es.
Kassabova schildert solche Fälle, spricht mit einstigen Grenzbeamten, trifft in Berlin einen Mann, dessen Flucht glückte, bewandert alte Pfade zwischen den Blöcken. Sie kontrastiert Rückblenden effektvoll mit der Gegenwart, in der Menschen in die andere Richtung drängen und dabei vor einem neuen Grenzzaun stehen, der nicht mehr Europäer am Gehen, sondern Asiaten und Afrikaner am Kommen hindern soll, wenn auch, was ein riesiger Unterschied ist, ohne Schießbefehl.
Kassabova schildert das Grenzgebiet aber auch aus anderen Perspektiven. Sie trifft Thrakologen, also Wissenschaftler, die sich mit den Thrakern befassen, einem untergegangenen Volk, über das Herodot geschrieben hatte, es könnte spielend die Griechen unterwerfen, wenn seine Stämme nur politisch einig wären. Sie schildert die Geschichte der bulgarischen Tabakfelder (Bulgarien war einst der größte Tabakexporteur der Welt) und des Rosenöls, dessen Weltproduktion immer noch zur Hälfte in Thrakien gewonnen wird. Sie besucht die Pomaken, slawischsprachige Muslime in Bulgarien und Griechenland, die in beiden Staaten scheel angesehen werden: "Ebenso wie der kommunistische bulgarische Staat vom Wahn besessen gewesen war, die Pomaken seien eine fünfte Kolonne der Türkei und des Orientalismus, war der griechische Staat der Paranoia unterlegen, die Pomaken seien die fünfte Kolonne Bulgariens und des Kommunismus. Als Reflex auf die Paranoia jedes Staates wurden in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Namen bulgarischer Pomaken slawisiert (also de-islamisiert), während die Namen griechischer Pomaken türkisiert (also de-slawisiert) wurden."
Solche Hintergründe versucht Kassabova über die Geschichten von Menschen zu verdeutlichen, die sie auf ihrer Reise trifft - und das ist eine exzellente Idee. Nur geht sie oft nicht auf. "Die letzte Grenze" ist eine literarische Großreportage, der es oft an gedanklicher und sprachlicher Akkuratesse mangelt. Dinge passieren und werden geschildert, ohne dass sie etwas erhellen. Sie ereignen sich einfach, da halt immer irgendetwas geschieht. Selten entsteht ein präzises Bild, eine einprägsame Geschichte. Menschen werden mit Sätzen zitiert, aus denen wir nichts über sie lernen und die auch die Handlung nicht entwickeln. Dann wieder folgen seitenlang referierte Geister- und Spukgeschichten, bei denen in die Bewohner der Grenzregionen ständig etwas hineingeheimnisst wird, als seien es Fabelwesen und nicht Menschen wie alle anderen.
Das erinnert an die These der in den Vereinigten Staaten lehrenden Historikerin Maria Todorova, einer anderen bulgarischen Emigrantin, die in ihrem Standardwerk "Die Erfindung des Balkans" zeigt, wie Reiseberichte und Zeitungstexte über den Balkan schon im neunzehnten Jahrhundert meinungsbildende Klischees schufen und von einem für Simplifizierungen durchaus empfänglichen westlichen Publikum dankbar aufgenommen wurden. Weiterführende Literatur: "Durch das Land der Skipetaren" und "In den Schluchten des Balkan" von Karl May.
Bei Kassabova begegnen wir Menschen "mit Augen, die zu viel gesehen hatten", und die Grenzregion erscheint bei ihr als "das Reich derjenigen, die die Berge im Blut haben". Berge im Blut zu haben muss sehr unangenehm sein, aber die Männer in diesem Buch ertragen es stoisch, denn sie haben "archaische balkanische Gesichtszüge von granitener Geduld", wobei es Unterschiede gibt: "Der türkische Mann in Thrakien war resigniert, zurückhaltend, hatte Trauer in den Augen. Sein bulgarisches Gegenüber war misstrauisch, aggressiv und Alkoholiker." Über Roma heißt es: "Zigeuner können Muslime sein, Christen oder keines von beiden. Sie können sich in Lumpen kleiden oder sich mit Gold behängen. Sie können mit einer Ziege in einem Herrenhaus wohnen. Egal, was sie tun, sie bleiben unweigerlich sie selbst: grenzenlos."
Zu solchen Klischees kommen dann noch sachliche Fehler, die in ihrer Häufung irritierend sind. Dass es in Edirne ein nominelles Alkoholverbot gibt, ist falsch, denn die Stadt ist stolz auf ihre säkulare Tradition, was nahezu ostentativen Alkoholkonsum einschließt. Es ist kein Zufall, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch nie eine Mehrheit in Edirne gewinnen konnte. Dass Erdogans Anhänger "verschleierte Frauen und verbissen blickende Männer" seien, mit Gesichtern, "als würden sie immerzu an Zitronen lutschen", mag originell formuliert sein, aber etwas komplexer ist die Sache wohl doch.
Die größte türkische Oppositionspartei heißt nicht TCF, und "KKK" steht nicht für die Kommunistische Partei Griechenlands. In Griechenland liegt viel im Argen, aber dass Staatsangestellte achtzehn Monate kein Gehalt bekommen hätten, ist nicht vorgekommen. Und wenn die Autorin schreibt: "Ich fühlte es wie eine starke Präsenz: Der Geist des Balkans war hier", wird selbst die granitenste Lesergeduld irgendwann brüchig.
MICHAEL MARTENS
Kapka Kassabova:
"Die letzte Grenze". Am Rand Europas, in der Mitte der Welt.
Aus dem Englischen von
Brigitte Hilzensauer.
Zsolnay Verlag, Wien 2018. 384 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Etwas weniger Gerede vom Balkangeist und mehr sprachliche und gedankliche Genauigkeit hätte sich Rezensent Michael Martens gewünscht von Kapka Kassabovas für ihn im Grunde kenntnisreiche Reisereportage aus dem Dreiländereck zwischen Türkei, Bulgarien und Griechenland. Den Ansatz, Geschichte des Eisernen Vorhangs mit persönlichen Erinnerungen und Gesprächen mit Zeitzeugen, Wissenschaftlern, Grenzern, Geflohenen zu versetzen und eine Brücke zwischen Heute und Gestern zu schlagen, findet Martens eigentlich sinnvoll, weil er Hintergründe offenzulegen verspricht. Leider entsteht laut Martens kein präzises Bild. Allzu oft wird der Rezensent Geschichten und Zitaten konfrontiert, die ihm keine Erkenntnis eröffnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Spannend wie ein Abenteuerrroman, berührend wie ein Gedicht und verzaubernd durch kunstvolle Sprachbilder. Eindringlicher kann man die Welt mit ihren Freuden und Leiden und mit ihrer Schönheit und ihren Schatten nicht erklären." Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.11.18
"Virtuos verwebt Kassabova das Erlebte zu einer Reise durch Zeit und Raum, in ein von antiken und modernen Mythen durchtränktes Land, wo die Grenzen fließend sind und doch die Schicksale bestimmen." Stefan Winkler, Kleine Zeitung, 16.09.18
"Ein polyphones und atmosphärisch dichtes Panorama, das Zusammenhänge sichtbar macht und verborgene Geschichte und Geschichten zum Leuchten bringt." Kristina Pfoser, Ö1 Morgenjournal, 04.09.18
"Vielleicht, weil die Autorin ihr bulgarisches Leben und die bulgarische Kultur als Jugendliche verlassen und sich an neue Kulturen gewöhnen musste, versteht sie die Menschen so gut, die mehrmals nach einer neuen Identität suchen müssen. Sie erzählt über sie mit Verständnis und Wärme, als ob sie sie schon ewig kennt." Todor Ovtcharov, FM4, 04.09.18
"Virtuos verwebt Kassabova das Erlebte zu einer Reise durch Zeit und Raum, in ein von antiken und modernen Mythen durchtränktes Land, wo die Grenzen fließend sind und doch die Schicksale bestimmen." Stefan Winkler, Kleine Zeitung, 16.09.18
"Ein polyphones und atmosphärisch dichtes Panorama, das Zusammenhänge sichtbar macht und verborgene Geschichte und Geschichten zum Leuchten bringt." Kristina Pfoser, Ö1 Morgenjournal, 04.09.18
"Vielleicht, weil die Autorin ihr bulgarisches Leben und die bulgarische Kultur als Jugendliche verlassen und sich an neue Kulturen gewöhnen musste, versteht sie die Menschen so gut, die mehrmals nach einer neuen Identität suchen müssen. Sie erzählt über sie mit Verständnis und Wärme, als ob sie sie schon ewig kennt." Todor Ovtcharov, FM4, 04.09.18