Der bekannte Menschenrechtsanwalt und Bestseller-Autor Philippe Sands erzählt die skandalöse Geschichte eines Verstoßes gegen die Menschenrechte. Er zeigt, dass der Kolonialismus noch nicht überwunden ist und Großbritannien bis heute internationales Recht bricht.
April 1973. Mitten in der Nacht werden die Bewohner einer Insel im Chagos-Archipel aus dem Schlaf gerissen. Britische Soldaten zwingen sie mit vorgehaltenen Waffen, ihre Häuser zu verlassen, per Schiff werden sie nach Mauritius und in die USA deportiert. Chagos wird zu britischem Territorium erklärt, Großbritannien verpachtet eine der Inseln für eine Militärbasis an die USA.
»Wir waren wie Tiere oder Sklaven auf diesem Schiff. Einige starben vor Kummer. (...) Es bricht einem das Herz.« Mit diesen Worten beschrieb Liseby Elysé 2018 vor dem Internationalen Gerichtshof ihre Deportation. Seit Jahrzehnten streiten sie und ihre Landsleute um das Recht auf Rückkehr, seit 2018 werden sie dabei von Philippe Sands beraten.
2019 schrieb der Internationale Gerichtshof die Chagos-Inseln Mauritius zu, was der Internationale Seegerichtshof 2021 bestätigte. Doch Großbritannien verweigerte weiterhin die Rückgabe der Inseln und die Rückkehr ihrer Bewohner. Erst im Oktober verkündete es, die Hoheit über die Inseln an Mauritius zu übertragen. Damit wird Liseby Elysés Traum, ihre letzten Lebensjahre in ihrer Heimat zu beenden und neben ihren Vorfahren begraben zu werden, endlich wahr. Nur die Insel Diego Garcia bleibt noch für 99 Jahre ein US-Militärstützpunkt.
Ein aufrüttelndes Buch über kolonialen Dünkel und die Missachtung von Menschenrechten - und über die Kraft des Internationalen Rechts.
»Elegant geschrieben, bewegend und höchst informativ.« Literary Review
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
April 1973. Mitten in der Nacht werden die Bewohner einer Insel im Chagos-Archipel aus dem Schlaf gerissen. Britische Soldaten zwingen sie mit vorgehaltenen Waffen, ihre Häuser zu verlassen, per Schiff werden sie nach Mauritius und in die USA deportiert. Chagos wird zu britischem Territorium erklärt, Großbritannien verpachtet eine der Inseln für eine Militärbasis an die USA.
»Wir waren wie Tiere oder Sklaven auf diesem Schiff. Einige starben vor Kummer. (...) Es bricht einem das Herz.« Mit diesen Worten beschrieb Liseby Elysé 2018 vor dem Internationalen Gerichtshof ihre Deportation. Seit Jahrzehnten streiten sie und ihre Landsleute um das Recht auf Rückkehr, seit 2018 werden sie dabei von Philippe Sands beraten.
2019 schrieb der Internationale Gerichtshof die Chagos-Inseln Mauritius zu, was der Internationale Seegerichtshof 2021 bestätigte. Doch Großbritannien verweigerte weiterhin die Rückgabe der Inseln und die Rückkehr ihrer Bewohner. Erst im Oktober verkündete es, die Hoheit über die Inseln an Mauritius zu übertragen. Damit wird Liseby Elysés Traum, ihre letzten Lebensjahre in ihrer Heimat zu beenden und neben ihren Vorfahren begraben zu werden, endlich wahr. Nur die Insel Diego Garcia bleibt noch für 99 Jahre ein US-Militärstützpunkt.
Ein aufrüttelndes Buch über kolonialen Dünkel und die Missachtung von Menschenrechten - und über die Kraft des Internationalen Rechts.
»Elegant geschrieben, bewegend und höchst informativ.« Literary Review
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Rezensent Otto Langels liest hier ein hervorragendes und empörendes Buch. Philippe Sands, Anwalt und Professor für Internationales Recht in London, hat hier die rechtswidrige Abtrennung der mauritischen Chagos-Inseln durch Großbritannien im Jahre 1965 dokumentiert. Die Bewohner des Archipels wurden von Heute auf Morgen zwangsexiliert, die größte Insel verpachtete Großbritannien an die USA. Mauritius klagte vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag und gewann, berichtet der Rezensent. Sands denunziert den neo-kolonialistischen Akt präzise und schildert den Gerichtsprozess trotz der komplexen juristischen Situation interessant und anschaulich, lobt Langels.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Interessiert und bisweilen empört liest Rezensent Otto Langels Philippe Sands' Buch über die Chagos-Inseln, die Großbritannien 1968 im Zuge der Dekolonisierung Mauritius unter Ausnutzung der eigenen Machtposition abgekauft und 1973 zum Sperrgebiet erklärt hatte, weshalb die Bewohner nach Mauritius zwangsumgesiedelt wurden. Sands recherchierte, führt Langels aus, für das Buch auf Mauritius und sympathisiert offensichtlich mit den ehemaligen Bewohnern des Chagos-Archipels. Sein Buch zeichnet laut Rezensent nach, wie Großbritannien jahrzehntelang versuchte, sein Langels zufolge neokolonialistisches Vorgehen zu verteidigen. Sands' Darstellung endet, so Langels, im Jahr 2022, in dem die Briten endlich eine Übergabe der Insel an Mauritius in Aussicht stellen, wobei viele Fragen nach wie vor offen sind.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2023Spielball imperialer Macht
Der britische Makel: Philippe Sands erzählt anhand des Chagos-Archipels über das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den späten Tagen des Kolonialismus
Die Lektüre des Buchs von Philippe Sands ruft einen Satz des Schweizer Architekturhistorikers Siegfried Giedion in Erinnerung: Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne. Bei Sands ist es Chagos, ein Archipel im Indischen Ozean, an dem entlang er die Realpolitik des heutigen Völkerrechts entfaltet. Er erzählt es so spannend, kunstvoll und facettenreich, dass man dieses Buch jedem empfehlen möchte, der sich für menschliche Schicksale, Weltpolitik und Geschichte interessiert, besonders aber diesen fragilen Zweig des Rechts verstehen möchte. Denn die Bewohner dieses Archipels waren ein Spielball imperialer Macht in den späten Tagen des Kolonialismus, und die britische Krone glaubte damit durchzukommen. Es wäre ihr fast gelungen, wenn es nicht die Sätze und Institutionen des internationalen Rechts gäbe.
In dieser Geschichte gibt es eine Hauptprotagonistin: Liseby Elysé, heute eine alte Dame, wurde 1953, im Sommer der Krönung von Elisabeth II., auf einem kleinen Eiland des Chagos-Archipels geboren. Jahrzehnte später, im September 2018 wird sie den Großen Saal des Friedenspalastes in Den Haag betreten, unbeeindruckt an Marmor und Blattgold vorbeischreiten, und die Richter werden auf Kreolisch vom Unrecht hören, das ihr und anderen Menschen widerfahren ist. Ihre Stimme wird zittern, und am Ende kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten, aber sie bringt ihre Geschichte zu Ende, ein kollektives Schicksal verdichtet in 3 Minuten 47 Sekunden. Allein schon gehört zu werden war ihr eine Genugtuung. Der Weg bis dorthin war weit.
Der Chagos-Archipel liegt mitten im Indischen Ozean, auf halbem Weg zwischen Madagaskar und Sri Lanka. Von den Portugiesen im mittleren sechzehnten Jahrhundert entdeckt, wechselten die kolonialen Hoheitsverhältnisse mehrmals, zunächst zu den Niederlanden, dann zu Frankreich. 1814 wurde es schließlich infolge der Napoleonischen Kriege an die Engländer abgetreten und war von da ab ein "British Indian Ocean Territory", zugehörig zu Mauritius. Im Zuge der Dekolonialisierung wäre es demnach eigentlich zusammen mit Mauritius 1965 in die Selbständigkeit zu entlassen gewesen. Aber England hatte im Geheimen einen anderen Plan gesponnen. Die Amerikaner brauchten im Kalten Krieg dringend eine Militärbasis im Indischen Ozean. Die britische Krone spaltete Chagos vom übrigen Staatsgebiet von Mauritius ab und verpachtete Diego Garcia und andere Inseln dieses Archipels 1966 an die Amerikaner (und bekam im Gegenzug Rabatt auf Polaris-Raketen).
Aber das war nicht alles. Die Briten deportierten ab 1967 tatsächlich sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner, darunter auch Liseby Elysé, in Nacht- und Nebel-Aktionen aus ihrer Heimat. Der Weltöffentlichkeit und den UN wurde eine Lüge aufgetischt: es gäbe "keine dauerhaften Bewohner", deswegen sei die Abtrennung von Mauritius legal, niemand in seinen Menschenrechten verletzt, das Völkerrecht gewahrt. Intern sprach man von "Tarzans oder Freitagen, deren Herkunft zweifelhaft ist". Jede Zeile dieser Erzählung ist bedrückend, spiegelt in Mikrogeschichten die Realität von Kolonialherrschaft und führt Sands dazu, im deutschen Untertitel seines Buches von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu sprechen. Dieser Tatbestand wurde aufgrund der NS-Unrechtserfahrungen in den Nürnberger Prozessen ins Völkerrecht eingeführt, 2002 in der Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofes im Einzelnen definiert und bezeichnet ein Bündel schwerster Delikte. Deportation - die Zwangsvertreibung von Zivilisten - gehörte immer dazu.
Viele Bewohner von Chagos waren Nachkommen von Sklaven, die im Bauch von Schiffen über die Weltmeere dorthin verbracht worden waren. Welche Ironie, dass die spätkoloniale Deportation diesen Vorgang reproduzierte und umkehrte: In den von Vogelkot stinkenden Frachträumen von Transportschiffen wurden die Chagossianer gegen ihren Willen, ohne Bekanntgabe von Gründen und ohne Wissen über ihre Zukunft aus ihrer Heimat weggebracht. Liseby Elysé nahm einen einzigen Koffer mit, sie fanden sich wie Tiere behandelt, die auf der Insel lebenden Hunde wurden vor den Augen der Kinder vergast. Die Diaspora lebt seitdem in verschiedenen Teilen der Welt, niemand durfte bis heute dauerhaft zurückkehren.
Philippe Sands ist mehr als der Chronist dieser Geschichte. Er ist als jahrelanger Vertreter von Mauritius Partei und zugleich Sprachrohr mancher Chagossianer. Deswegen ist alles in ausgewogener Einseitigkeit geschildert. Zugleich erlaubt es dem renommierten Völkerrechtler nicht nur abstrakte Ausführungen über das Funktionieren eines Rechtssystems und seiner labyrinthischen Normen, sondern Sands erzählt ganz konkret vom langsamen Mahlen der Mühlen der internationalen Justiz als Betroffenenvertreter. Die Welt des Völkerrechts ist konservativ und vorsichtig, stellt Sands lakonisch fest, und der internationale Prozessanwalt gibt praktische Tipps fürs Plädoyer, in welchem weder Regierungen noch Öffentlichkeit und Medien die entscheidenden Adressaten sind: "Einen Fall darlegen heißt eine Geschichte erzählen - und es so zu tun, dass sie Richter aus vielen verschiedenen Ländern erreichen kann."
Man erfährt, wie der Menschenrechtsanwalt Sands Auftritte vorbereitet, mit seiner Zeugin spricht, das Vorgehen von Mauritius vor der UN mit Politikern berät - und welche Schlüsselrolle einzelne Richter im Kollegium der Fünfzehn spielen können. Diese Ich-Perspektive ist voller anschaulicher Weltgeschichte, dramatisch wechselnder Emotionen, diffizilem Räsonnement über anwaltliche Strategien im Theater des Rechts sowie politischer Hinterzimmerdiplomatie - und damit eine exzellente Einführung in internationalen Rechtsrealismus.
Der juristische Rahmen ist dabei ziemlich verzwickt. Die Mauritianer berufen sich gegenüber England auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Diese Aufforderung zur Beendigung von Fremdherrschaft wurde von so verschiedenen Akteuren wie W. I. Lenin, Woodrow Wilson und W. E. B. Du Bois und Marcus Garvey, dem Gründer der Universal Negro Improvement Association, formuliert. Im Kontext der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete sie: Kein Teil eines Landes darf vom Staatsgebiet abgespalten werden. Aber wo könnte man dieses Prinzip der territorialen Integrität sowie das Recht auf Dekolonisierung erfolgreich geltend machen? Welche Rolle spielte es, dass der Premierminister von Mauritius der Abtrennung einst unter zweifelhaften Umständen zugestimmt hatte? Gehört Chagos wirklich zu Mauritius oder ist das seinerseits Teil einer Kolonialgeschichte, die man rückabwickeln sollte? Ist das Unrecht und Leid nicht mit der Auszahlung von Entschädigungen getilgt worden, erst recht, da der britische Rechtsweg eingeschlagen worden war und erschöpft ist?
Sands gelingt es meisterhaft, die verschiedenen Ebenen spannungsreich zusammenzuführen. Der Fall fesselt in seinen exemplarischen Dimensionen, wo es um die verschiedenen Arbeitsweisen von Vereinten Nationen, Sicherheitsrat, Internationalem Seegerichtshof in Hamburg und dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geht. Alle haben ihre eigenen Funktionslogiken und Grenzen der Zuständigkeit. Gerade das Recht kann manchmal ganz besonders formal sein. Doch was wären die politischen Proklamationen wert und was hätten wir aus dem zwanzigsten Jahrhundert gelernt, wenn Liseby Elysé dieses Unrecht doch widerfahren konnte und sanktionslos bleiben würde? "Der einzelne Mensch ist die höchste Einheit des Rechts", schrieb der britische Völkerrechtler Hersch Lauterpacht 1943.
Die Richter von Den Haag entschieden 2019 mit 13:1 Stimmen, dass Chagos zum Territorium von Mauritius gehört und dass Großbritannien seine widerrechtliche Besetzung beenden muss. Sie hatten kein Urteil zu fällen, sondern gemäß der Vorgabe der Vereinten Nationen ein Rechtsgutachten zu erstellen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss daraufhin, dass die Briten spätestens Ende 2019 weg sein müssten. Sie haben das nicht getan und wiederholen stattdessen, wie jemand, der noch nicht gehört wurde, jene Argumente, die Den Haag längst entkräftet hat.
Liseby Elysé wird im Juli 2023 siebzig Jahre alt. Mittlerweile hat sie an sogenannten Heritage-Besuchen teilgenommen und konnte ihre ferne Heimat wiedersehen: die Gräber überwuchert, die Kirche eingestürzt, die Häuser verfallen (aber der Hundefriedhof der Amerikaner ist tipptopp gepflegt).
Immer noch ist offen, ob sie und ihre Landsleute wieder dauerhaft an diesen Ort zurückkehren können. Liseby Elysé wurde ein Leben auf Chagos geraubt, es bleibt der Wunsch, dort in Frieden zu sterben. In einer Mischung aus imperialem Trotz und fortdauerndem Rassismus ignoriert das Vereinigte Königreich seine Verpflichtung auf das Völkerrecht. Seine Bekenntnisse zur "regelgeleiteten internationalen Ordnung" haben insoweit einen Makel. Dieses Buch wird mehr als eine Auflage erleben; und in einer von ihnen hoffentlich ein neues Schlusskapitel bekommen. MILOS VEC
Philippe Sands: "Die letzte Kolonie". Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean.
Aus dem Englischen von Thomas Bertram. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023. 318 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der britische Makel: Philippe Sands erzählt anhand des Chagos-Archipels über das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den späten Tagen des Kolonialismus
Die Lektüre des Buchs von Philippe Sands ruft einen Satz des Schweizer Architekturhistorikers Siegfried Giedion in Erinnerung: Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne. Bei Sands ist es Chagos, ein Archipel im Indischen Ozean, an dem entlang er die Realpolitik des heutigen Völkerrechts entfaltet. Er erzählt es so spannend, kunstvoll und facettenreich, dass man dieses Buch jedem empfehlen möchte, der sich für menschliche Schicksale, Weltpolitik und Geschichte interessiert, besonders aber diesen fragilen Zweig des Rechts verstehen möchte. Denn die Bewohner dieses Archipels waren ein Spielball imperialer Macht in den späten Tagen des Kolonialismus, und die britische Krone glaubte damit durchzukommen. Es wäre ihr fast gelungen, wenn es nicht die Sätze und Institutionen des internationalen Rechts gäbe.
In dieser Geschichte gibt es eine Hauptprotagonistin: Liseby Elysé, heute eine alte Dame, wurde 1953, im Sommer der Krönung von Elisabeth II., auf einem kleinen Eiland des Chagos-Archipels geboren. Jahrzehnte später, im September 2018 wird sie den Großen Saal des Friedenspalastes in Den Haag betreten, unbeeindruckt an Marmor und Blattgold vorbeischreiten, und die Richter werden auf Kreolisch vom Unrecht hören, das ihr und anderen Menschen widerfahren ist. Ihre Stimme wird zittern, und am Ende kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten, aber sie bringt ihre Geschichte zu Ende, ein kollektives Schicksal verdichtet in 3 Minuten 47 Sekunden. Allein schon gehört zu werden war ihr eine Genugtuung. Der Weg bis dorthin war weit.
Der Chagos-Archipel liegt mitten im Indischen Ozean, auf halbem Weg zwischen Madagaskar und Sri Lanka. Von den Portugiesen im mittleren sechzehnten Jahrhundert entdeckt, wechselten die kolonialen Hoheitsverhältnisse mehrmals, zunächst zu den Niederlanden, dann zu Frankreich. 1814 wurde es schließlich infolge der Napoleonischen Kriege an die Engländer abgetreten und war von da ab ein "British Indian Ocean Territory", zugehörig zu Mauritius. Im Zuge der Dekolonialisierung wäre es demnach eigentlich zusammen mit Mauritius 1965 in die Selbständigkeit zu entlassen gewesen. Aber England hatte im Geheimen einen anderen Plan gesponnen. Die Amerikaner brauchten im Kalten Krieg dringend eine Militärbasis im Indischen Ozean. Die britische Krone spaltete Chagos vom übrigen Staatsgebiet von Mauritius ab und verpachtete Diego Garcia und andere Inseln dieses Archipels 1966 an die Amerikaner (und bekam im Gegenzug Rabatt auf Polaris-Raketen).
Aber das war nicht alles. Die Briten deportierten ab 1967 tatsächlich sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner, darunter auch Liseby Elysé, in Nacht- und Nebel-Aktionen aus ihrer Heimat. Der Weltöffentlichkeit und den UN wurde eine Lüge aufgetischt: es gäbe "keine dauerhaften Bewohner", deswegen sei die Abtrennung von Mauritius legal, niemand in seinen Menschenrechten verletzt, das Völkerrecht gewahrt. Intern sprach man von "Tarzans oder Freitagen, deren Herkunft zweifelhaft ist". Jede Zeile dieser Erzählung ist bedrückend, spiegelt in Mikrogeschichten die Realität von Kolonialherrschaft und führt Sands dazu, im deutschen Untertitel seines Buches von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu sprechen. Dieser Tatbestand wurde aufgrund der NS-Unrechtserfahrungen in den Nürnberger Prozessen ins Völkerrecht eingeführt, 2002 in der Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofes im Einzelnen definiert und bezeichnet ein Bündel schwerster Delikte. Deportation - die Zwangsvertreibung von Zivilisten - gehörte immer dazu.
Viele Bewohner von Chagos waren Nachkommen von Sklaven, die im Bauch von Schiffen über die Weltmeere dorthin verbracht worden waren. Welche Ironie, dass die spätkoloniale Deportation diesen Vorgang reproduzierte und umkehrte: In den von Vogelkot stinkenden Frachträumen von Transportschiffen wurden die Chagossianer gegen ihren Willen, ohne Bekanntgabe von Gründen und ohne Wissen über ihre Zukunft aus ihrer Heimat weggebracht. Liseby Elysé nahm einen einzigen Koffer mit, sie fanden sich wie Tiere behandelt, die auf der Insel lebenden Hunde wurden vor den Augen der Kinder vergast. Die Diaspora lebt seitdem in verschiedenen Teilen der Welt, niemand durfte bis heute dauerhaft zurückkehren.
Philippe Sands ist mehr als der Chronist dieser Geschichte. Er ist als jahrelanger Vertreter von Mauritius Partei und zugleich Sprachrohr mancher Chagossianer. Deswegen ist alles in ausgewogener Einseitigkeit geschildert. Zugleich erlaubt es dem renommierten Völkerrechtler nicht nur abstrakte Ausführungen über das Funktionieren eines Rechtssystems und seiner labyrinthischen Normen, sondern Sands erzählt ganz konkret vom langsamen Mahlen der Mühlen der internationalen Justiz als Betroffenenvertreter. Die Welt des Völkerrechts ist konservativ und vorsichtig, stellt Sands lakonisch fest, und der internationale Prozessanwalt gibt praktische Tipps fürs Plädoyer, in welchem weder Regierungen noch Öffentlichkeit und Medien die entscheidenden Adressaten sind: "Einen Fall darlegen heißt eine Geschichte erzählen - und es so zu tun, dass sie Richter aus vielen verschiedenen Ländern erreichen kann."
Man erfährt, wie der Menschenrechtsanwalt Sands Auftritte vorbereitet, mit seiner Zeugin spricht, das Vorgehen von Mauritius vor der UN mit Politikern berät - und welche Schlüsselrolle einzelne Richter im Kollegium der Fünfzehn spielen können. Diese Ich-Perspektive ist voller anschaulicher Weltgeschichte, dramatisch wechselnder Emotionen, diffizilem Räsonnement über anwaltliche Strategien im Theater des Rechts sowie politischer Hinterzimmerdiplomatie - und damit eine exzellente Einführung in internationalen Rechtsrealismus.
Der juristische Rahmen ist dabei ziemlich verzwickt. Die Mauritianer berufen sich gegenüber England auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Diese Aufforderung zur Beendigung von Fremdherrschaft wurde von so verschiedenen Akteuren wie W. I. Lenin, Woodrow Wilson und W. E. B. Du Bois und Marcus Garvey, dem Gründer der Universal Negro Improvement Association, formuliert. Im Kontext der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete sie: Kein Teil eines Landes darf vom Staatsgebiet abgespalten werden. Aber wo könnte man dieses Prinzip der territorialen Integrität sowie das Recht auf Dekolonisierung erfolgreich geltend machen? Welche Rolle spielte es, dass der Premierminister von Mauritius der Abtrennung einst unter zweifelhaften Umständen zugestimmt hatte? Gehört Chagos wirklich zu Mauritius oder ist das seinerseits Teil einer Kolonialgeschichte, die man rückabwickeln sollte? Ist das Unrecht und Leid nicht mit der Auszahlung von Entschädigungen getilgt worden, erst recht, da der britische Rechtsweg eingeschlagen worden war und erschöpft ist?
Sands gelingt es meisterhaft, die verschiedenen Ebenen spannungsreich zusammenzuführen. Der Fall fesselt in seinen exemplarischen Dimensionen, wo es um die verschiedenen Arbeitsweisen von Vereinten Nationen, Sicherheitsrat, Internationalem Seegerichtshof in Hamburg und dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geht. Alle haben ihre eigenen Funktionslogiken und Grenzen der Zuständigkeit. Gerade das Recht kann manchmal ganz besonders formal sein. Doch was wären die politischen Proklamationen wert und was hätten wir aus dem zwanzigsten Jahrhundert gelernt, wenn Liseby Elysé dieses Unrecht doch widerfahren konnte und sanktionslos bleiben würde? "Der einzelne Mensch ist die höchste Einheit des Rechts", schrieb der britische Völkerrechtler Hersch Lauterpacht 1943.
Die Richter von Den Haag entschieden 2019 mit 13:1 Stimmen, dass Chagos zum Territorium von Mauritius gehört und dass Großbritannien seine widerrechtliche Besetzung beenden muss. Sie hatten kein Urteil zu fällen, sondern gemäß der Vorgabe der Vereinten Nationen ein Rechtsgutachten zu erstellen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss daraufhin, dass die Briten spätestens Ende 2019 weg sein müssten. Sie haben das nicht getan und wiederholen stattdessen, wie jemand, der noch nicht gehört wurde, jene Argumente, die Den Haag längst entkräftet hat.
Liseby Elysé wird im Juli 2023 siebzig Jahre alt. Mittlerweile hat sie an sogenannten Heritage-Besuchen teilgenommen und konnte ihre ferne Heimat wiedersehen: die Gräber überwuchert, die Kirche eingestürzt, die Häuser verfallen (aber der Hundefriedhof der Amerikaner ist tipptopp gepflegt).
Immer noch ist offen, ob sie und ihre Landsleute wieder dauerhaft an diesen Ort zurückkehren können. Liseby Elysé wurde ein Leben auf Chagos geraubt, es bleibt der Wunsch, dort in Frieden zu sterben. In einer Mischung aus imperialem Trotz und fortdauerndem Rassismus ignoriert das Vereinigte Königreich seine Verpflichtung auf das Völkerrecht. Seine Bekenntnisse zur "regelgeleiteten internationalen Ordnung" haben insoweit einen Makel. Dieses Buch wird mehr als eine Auflage erleben; und in einer von ihnen hoffentlich ein neues Schlusskapitel bekommen. MILOS VEC
Philippe Sands: "Die letzte Kolonie". Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean.
Aus dem Englischen von Thomas Bertram. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023. 318 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
ein informatives, facettenreiches und bisweilen anrührendes Buch. Otto Langels Deutschlandfunk (Andruck) 20230724