Ein Roman, in dem keine Individuen handeln und damit die Identifikationsmöglichkeit mit einer Figur fehlt und in dem eine alternative Erdgeschichte erzählt wird, die 50 000 Jahre und mehr in die Zukunft reicht? Muss man als Leser dafür nicht besonders leidensfähig und eher theoretisch an Phantastik
als Literaturgattung interessiert sein? Allein die Idee, 1930 (ohne unser heutiges Wissen über…mehrEin Roman, in dem keine Individuen handeln und damit die Identifikationsmöglichkeit mit einer Figur fehlt und in dem eine alternative Erdgeschichte erzählt wird, die 50 000 Jahre und mehr in die Zukunft reicht? Muss man als Leser dafür nicht besonders leidensfähig und eher theoretisch an Phantastik als Literaturgattung interessiert sein? Allein die Idee, 1930 (ohne unser heutiges Wissen über Kriege des 20. Und 21. Jahrhunderts) ein utopisches Szenario zu entwickeln, finde ich im Rückblick faszinierend. Olaf Stapledon erzählt zunächst von der näheren Zukunft seines Jahrhunderts und zieht Erklärungsmöglichkeiten für nationale Konflikte heran. Als Kriegsauslöser kann er sich beleidigtes Nationalgefühl, kleine Grenzkonflikte, Lagerdenken und den Einfluss des Kapitalismus vorstellen. Knappe Energievorräte spielen in seinen Zukunftsszenarien bereits eine Rolle. Im ersten Teil des Buches haben mich seine Einschätzungen von Staaten wie den USA oder China aus der Sicht eines Briten durchaus beeindruckt. Szenarien einer sich selbst ausrottenden Weltbevölkerung zu entwickeln, während diese Weltbevölkerung damals selbst mit dem puren Überleben nach einer Wirtschaftskrise beschäftigt war, finde ich so zeitlos wie beachtlich.
Eine Zeitspanne von rund 400 Jahren nach diesen europäischen Kriegen liegt evtl. noch im Bereich des Vorstellbaren. Danach vollzieht der Autor erheblich längere, mit 200 000 Jahren beginnende Zeitsprünge, in denen menschliche Gesellschaften sich entwickeln, degenerieren und sich beinahe selbst ausrotten. All das wird noch immer ohne Individuen und damit ohne Identifikationsmöglichkeiten für die Leser im Stile einer Nacherzählung berichtet, so dass Stapledons Roman wie eine erzählende alternative Erdgeschichte wirkt. Manchmal habe ich mir gewünscht, dass doch wenigsten ein Pilz oder eine Planktonart aufgetaucht wäre, für die ich Sympathie empfinden könnte. Faszinierend ist die Fülle der Ideen, die er verfolgt. Ob es um die neu auf der Erdoberfläche angeordneten Landmassen geht, die sich verändernde Intelligenz und Lebenserwartung der Menschen, die Verantwortung von Wissenschaftlern, Patriotismus und Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Arten und Nationen, das USA-Bild, die Rolle von Religionen oder schließlich eine Invasion von Lebewesen vom Mars, zeigt Stapledon sich als phantasievoller wie empathischer Visionär.
Sehr lieblos für eine rein äußerlich ansprechende Klassikeredition finde ich die fehlenden bibliografischen Angaben zum Buch, sowie die Vermarktung auf dieser und auf der Verlagswebseite. Eine Autorenbiografie ist zwar im Klappentext zu finden, fehlt jedoch auf den Webseiten völlig, allein ein Nachwort von 6 Seiten dient der Einordnung des Klassikers, auch fehlen Hinweise, was genau die Neubearbeitung der Heyne-Ausgabe von 1983 Die letzten und die ersten Menschen. Eine Geschichte der nahen und fernen Zukunft ausmacht, der Übersetzer dieser Ausgabe ist zumindest noch der selbe.
Empfehlen würde ich diese Neuausgabe Lesern, die utopische Texte in Ausschnitten zu Unterrichtszwecken benötigen oder die ein äußerlich schönes Buch im Regal stehen haben wollen.