"Der Holzwurm tickt schon lange im Gebälk." Wohl niemand, der diese Geschichte gelesen hat, wird so schnell das Panoptikum von Originalen, das Quartett der umwerfenden Verlierer-Typen vergessen, die in den späten siebziger Jahren die Belegschaft von Udo Posbichs privatem Satz- und Druckereibetrieb in Ostberlin bildeten: Die ewig liebeskranke Püppi, die als linkshändige Setzerin vollständig neben der Spur fährt und ihre Sehnsucht nach Glück schließlich auf eine Topfpflanze projiziert, ein schizophrener Drucker mit reichlich düsterer Vergangenheit, dessen Gesprächspartner Geräte und Maschinen sind, oder ein Kollege, in dessen Lende einst sein parasitärer Zwillingsbruder steckte ...
In einer virtuosen Sprache und mit einem einzigartigen Humor, durch den sie der Verzweiflung in der Welt Satz für Satz Paroli bietet, erzählt Katja Lange-Müller eine Geschichte vom Ende - vom Ende eines Berufsstandes und einer Technologie, vom Ende der Schrift und einer sozialen Klasse. Und schließlich wird es die Geschichte einer sagenhaften subversiven Aktion, die hier auf keinen Fall verraten werden darf ...
In einer virtuosen Sprache und mit einem einzigartigen Humor, durch den sie der Verzweiflung in der Welt Satz für Satz Paroli bietet, erzählt Katja Lange-Müller eine Geschichte vom Ende - vom Ende eines Berufsstandes und einer Technologie, vom Ende der Schrift und einer sozialen Klasse. Und schließlich wird es die Geschichte einer sagenhaften subversiven Aktion, die hier auf keinen Fall verraten werden darf ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000Tod der Topfpflanzen
Katja Lange-Müller schickt Kassiber aus der alten DDR.
Was hat eine Gloxinie mit der ehemaligen DDR zu tun? Sehr viel. Die Menschen glichen ausgesaugten Topfpflanzen, selbst die schönste unter ihnen, schön wie Püppis Gloxinie, machte nach zwei Tagen schlapp, wurde spröde, verlor ihren Glanz und verging. Und man fragt sich, was sie vergiftet hatte. In Katja Lange-Müllers Büchern ist das Leben grau, rauchig, komisch, von Alkoholschwaden vernebelt und die Liebe eine fragile, selten überlebensfähige Pflanze.
Die DDR litt, wie die Ost-Berlinerin Katja Lange-Müller das in ihrem 1988 erschienenen Erzählungsband Kasper Mauser – Die Feigheit vorm Freund diagnostizierte, am „kollektiven Sisyphos”. Was das genau war, dieses Sisyphosgefühl, darüber verlangen wir in notorischer Ungeduld seit zehn Jahren von den Schriftstellern Auskunft. Wir vermissen den großen DDR-Roman, die epochale Analyse, bis jetzt kamen nur Teilansichten. Von Angela Krauß über Jens Sparschuh zu Reinhard Jirgl oder Ingo Schulze, alles nur Szenen, einige grandiose Partikel einer möglichen Gesamtansicht. Auch Michael Kumpfmüllers im Heinrich-Böll-Ton verfasstes Werk Hampels Fluchten zeigt wieder nur Bruchstücke.
Der Himmel ist krebsrot
Das tut auch Katja Lange-Müller in ihren Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei. Aber etwas anderes hat sie gar nicht und hatte sie niemals im Sinn. All ihre Bücher haben asketischen Zuschnitt, sie sind dünn wie ein schmaler Daumen und sprachliche Kunstwerke, geplant, gefeilt, kühl und in überraschenden Bildern gesetzt, wie das „H2O der Pfützen, Bäche, Seen, Meere” beweist. Katja Lange-Müllers Ich-Erzählerin Püppi schaut, „immer wenn ihr das Wort ,frei‘ einfiel, zum Himmel”. Und der Himmel ist „krebsrot”. Katja Lange-Müller bringt es fertig, mit Begriffen wie „krebsrot”, „Himmel” und „frei” ein Bild von der politischen Situation des Landes Ende der siebziger Jahre zu geben, ganz unschuldig auf die erste Seite gepackt, eine als Wetterkunde getarnte Zustandsbestimmung des Sozialismus.
Püppi, die Schriftsetzerin steigt nach neun Jahren wieder in ihren „erlernten Beruf” ein. Sie ist ziemlich daneben. Ihre Ohren sind so groß wie die Ohren von Elefanten, sie ist Linkshänderin, isst Klappstullen, raucht, trinkt nicht nur Bier sondern von Doppelkorn bis „Kreuz des Südens” so ziemlich alles, was die Kehle runterfließt. Sonst arbeiten in Udo Posbichs Druckerei junge Greise, leibhaftige Bleivergiftungen. „Die Letzten”, das sind Willi, Fritz, Manfred und Püppi, Übriggebliebene mit ihren bizarren Lebensgeschichten und einem gestörten Verhältnis zur Zukunft. Sie denken nicht über den nächsten Tag hinaus, deshalb sind sie mausgrau und eigentlich mausetot am Leben. Trägheit und Erschöpfung hindern sie daran, zu türmen. Es sind Misanthropen wie Fritz, der eine Stunde vor Feierabend über seiner Viermagazin-Linotype „hingebungsvoll heult”.
Althühner in der Waldschänke
Katja Lange-Müller, ist, so steht es in ihrer Biografie, nicht nur studierte Biologin (ihre Liebe zu Pflanzen und Tieren hat sich in jedem ihrer Bücher mitgeteilt), sie war Hilfspflegerin in einer psychiatrischen Anstalt und Schriftsetzerin. Alle Erfahrungen finden Eingang in den Text. 1984 kam sie in den Westen. In den neuen Aufzeichnungen aus der DDR-Arbeitswelt charakterisiert sie Wetter, Räume und Personen, sie setzt dem engelsblonden Fritz ein „betlehemisches Strohdach” auf den Kopf und zeigt die Verzweiflung mit lakonischem Mitleid und mit Witz.
Der chill out à la DDR fand für Udo Posbichs Druckerei-Setzer in der „Waldschänke” statt, wo man sich fragte, weshalb die „Waldschänke” eigentlich „Waldschänke” heißt, und sich an einem Glas Fassbrause die Nase platt drückte.
Katja Lange-Müller hat ein filmisches Talent. Sie beschreibt Szenen, wie Aki Kaurismäki das in seinen besten Filmen tut, und wie der Peymann von früher das konnte. Hoffnungslose Bilder ohne Schnörkel, in die man sich verlieben kann, wie in den Auftritt von vier in die „Waldschänke” hereingeschneiten Frauen von der Sorte, die junge Männer damals „Muttis” oder „Althühner” nannten. Und schon spielen die Männer ganz verrückt, und die Autorin hat ein höllisches Vergnügen, den vier Frauen das in den Mund zu legen, wovon sie am liebsten und hemmungslos reden: „Von Entbindungen”. Ein paar Mal ruft die Autorin einen Sprecher auf, um unwahrscheinliche Lebensgeschichten zum Besten zu geben, so wie die Geschichte vom heulenden Fritz, der zwischen Steißbein und Hüftgelenk seinen parasitären Zwilling mit sich rumschleppte und nach der Operation das bepelzte Embryo in einem Zylinderglas in die Wohnung stellt.
Diese Geschichte, „saublöd”, wie sie Fritz selbst nennt, platzt aus dem Buch heraus, nicht nur, weil sie in Variationen bekannt ist, sondern weil sie einen schrillen und absurden Ton in die realistischen Erzählungen aus einem irrealen Staat bringt. Aber dann werden Regentropfen wieder zu „Knallerbsen”, und Katja Lange Müller gelingen raue, deftige Beschreibungen von eindringlicher Schönheit. Das kann mit einer Plastiktüte anfangen und mit der Liebe zu einer Gloxinie, von einem Verkäufer in fabrikneuer Nylonkittelschürze überreicht, enden, oder in dem Anflug lesbischer Liebe zu Rita.
Natürlich waren Schriftsetzer in der DDR keine Menschen wie alle anderen. Sie hatten Macht über den Text. Wenn auch nur über Texte, die in Zeitschriften wie Diagnose, Sport Frei oder Gesellschaft Junger Naturschützer abgedruckt waren. Dazwischen schmuggelte Heinz Grünebaum seine „Mutterflüche”. Diese „Kassiber” waren sein Ventil für sein privates Drama, dazu entdeckte er in der Bibliothek Thomas Manns Zauberberg. Er druckte die ersten Kapitel des Zauberberg in „Semper-Antiqua”, mit seinen „weißen Flüchen” angereichert, das gab ihm endlich Kraft zu türmen.
Die Schrift war das einzige Geheimnis der DDR. In sie konnte man sein eigenes Schicksal hinein montieren oder es aus ihr herauslesen. Das Rasterwerk des Systems war hintergangen. Ein bisschen romantisch klingt Heinz Grünebaums Erlösung schon, aber eine größere Ehre kann man der Literatur nicht antun. So ist Katja Lange-Müllers Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei eine Liebeserklärung an die Literatur, eingeschlossen in haargenaue, traurig-komische Beschreibungen scharfer Standbilder aus dem trüben Lebens in der ehemaligen DDR, dem unpoetischen Zauberberg, der Menschen und Gloxinien vergiftete. Katja Lange-Müller erzählt mit burlesker Eleganz. Es ist zum Lachen und zum Heulen und nicht aus einem „Guss”. Aber das müssen Aufzeichnungen auch nicht sein.
VERENA AUFFERMANN
KATJA LANGE-MÜLLER: Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 135 Seiten, 28 Mark.
Katja Lange-Müller
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Katja Lange-Müller schickt Kassiber aus der alten DDR.
Was hat eine Gloxinie mit der ehemaligen DDR zu tun? Sehr viel. Die Menschen glichen ausgesaugten Topfpflanzen, selbst die schönste unter ihnen, schön wie Püppis Gloxinie, machte nach zwei Tagen schlapp, wurde spröde, verlor ihren Glanz und verging. Und man fragt sich, was sie vergiftet hatte. In Katja Lange-Müllers Büchern ist das Leben grau, rauchig, komisch, von Alkoholschwaden vernebelt und die Liebe eine fragile, selten überlebensfähige Pflanze.
Die DDR litt, wie die Ost-Berlinerin Katja Lange-Müller das in ihrem 1988 erschienenen Erzählungsband Kasper Mauser – Die Feigheit vorm Freund diagnostizierte, am „kollektiven Sisyphos”. Was das genau war, dieses Sisyphosgefühl, darüber verlangen wir in notorischer Ungeduld seit zehn Jahren von den Schriftstellern Auskunft. Wir vermissen den großen DDR-Roman, die epochale Analyse, bis jetzt kamen nur Teilansichten. Von Angela Krauß über Jens Sparschuh zu Reinhard Jirgl oder Ingo Schulze, alles nur Szenen, einige grandiose Partikel einer möglichen Gesamtansicht. Auch Michael Kumpfmüllers im Heinrich-Böll-Ton verfasstes Werk Hampels Fluchten zeigt wieder nur Bruchstücke.
Der Himmel ist krebsrot
Das tut auch Katja Lange-Müller in ihren Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei. Aber etwas anderes hat sie gar nicht und hatte sie niemals im Sinn. All ihre Bücher haben asketischen Zuschnitt, sie sind dünn wie ein schmaler Daumen und sprachliche Kunstwerke, geplant, gefeilt, kühl und in überraschenden Bildern gesetzt, wie das „H2O der Pfützen, Bäche, Seen, Meere” beweist. Katja Lange-Müllers Ich-Erzählerin Püppi schaut, „immer wenn ihr das Wort ,frei‘ einfiel, zum Himmel”. Und der Himmel ist „krebsrot”. Katja Lange-Müller bringt es fertig, mit Begriffen wie „krebsrot”, „Himmel” und „frei” ein Bild von der politischen Situation des Landes Ende der siebziger Jahre zu geben, ganz unschuldig auf die erste Seite gepackt, eine als Wetterkunde getarnte Zustandsbestimmung des Sozialismus.
Püppi, die Schriftsetzerin steigt nach neun Jahren wieder in ihren „erlernten Beruf” ein. Sie ist ziemlich daneben. Ihre Ohren sind so groß wie die Ohren von Elefanten, sie ist Linkshänderin, isst Klappstullen, raucht, trinkt nicht nur Bier sondern von Doppelkorn bis „Kreuz des Südens” so ziemlich alles, was die Kehle runterfließt. Sonst arbeiten in Udo Posbichs Druckerei junge Greise, leibhaftige Bleivergiftungen. „Die Letzten”, das sind Willi, Fritz, Manfred und Püppi, Übriggebliebene mit ihren bizarren Lebensgeschichten und einem gestörten Verhältnis zur Zukunft. Sie denken nicht über den nächsten Tag hinaus, deshalb sind sie mausgrau und eigentlich mausetot am Leben. Trägheit und Erschöpfung hindern sie daran, zu türmen. Es sind Misanthropen wie Fritz, der eine Stunde vor Feierabend über seiner Viermagazin-Linotype „hingebungsvoll heult”.
Althühner in der Waldschänke
Katja Lange-Müller, ist, so steht es in ihrer Biografie, nicht nur studierte Biologin (ihre Liebe zu Pflanzen und Tieren hat sich in jedem ihrer Bücher mitgeteilt), sie war Hilfspflegerin in einer psychiatrischen Anstalt und Schriftsetzerin. Alle Erfahrungen finden Eingang in den Text. 1984 kam sie in den Westen. In den neuen Aufzeichnungen aus der DDR-Arbeitswelt charakterisiert sie Wetter, Räume und Personen, sie setzt dem engelsblonden Fritz ein „betlehemisches Strohdach” auf den Kopf und zeigt die Verzweiflung mit lakonischem Mitleid und mit Witz.
Der chill out à la DDR fand für Udo Posbichs Druckerei-Setzer in der „Waldschänke” statt, wo man sich fragte, weshalb die „Waldschänke” eigentlich „Waldschänke” heißt, und sich an einem Glas Fassbrause die Nase platt drückte.
Katja Lange-Müller hat ein filmisches Talent. Sie beschreibt Szenen, wie Aki Kaurismäki das in seinen besten Filmen tut, und wie der Peymann von früher das konnte. Hoffnungslose Bilder ohne Schnörkel, in die man sich verlieben kann, wie in den Auftritt von vier in die „Waldschänke” hereingeschneiten Frauen von der Sorte, die junge Männer damals „Muttis” oder „Althühner” nannten. Und schon spielen die Männer ganz verrückt, und die Autorin hat ein höllisches Vergnügen, den vier Frauen das in den Mund zu legen, wovon sie am liebsten und hemmungslos reden: „Von Entbindungen”. Ein paar Mal ruft die Autorin einen Sprecher auf, um unwahrscheinliche Lebensgeschichten zum Besten zu geben, so wie die Geschichte vom heulenden Fritz, der zwischen Steißbein und Hüftgelenk seinen parasitären Zwilling mit sich rumschleppte und nach der Operation das bepelzte Embryo in einem Zylinderglas in die Wohnung stellt.
Diese Geschichte, „saublöd”, wie sie Fritz selbst nennt, platzt aus dem Buch heraus, nicht nur, weil sie in Variationen bekannt ist, sondern weil sie einen schrillen und absurden Ton in die realistischen Erzählungen aus einem irrealen Staat bringt. Aber dann werden Regentropfen wieder zu „Knallerbsen”, und Katja Lange Müller gelingen raue, deftige Beschreibungen von eindringlicher Schönheit. Das kann mit einer Plastiktüte anfangen und mit der Liebe zu einer Gloxinie, von einem Verkäufer in fabrikneuer Nylonkittelschürze überreicht, enden, oder in dem Anflug lesbischer Liebe zu Rita.
Natürlich waren Schriftsetzer in der DDR keine Menschen wie alle anderen. Sie hatten Macht über den Text. Wenn auch nur über Texte, die in Zeitschriften wie Diagnose, Sport Frei oder Gesellschaft Junger Naturschützer abgedruckt waren. Dazwischen schmuggelte Heinz Grünebaum seine „Mutterflüche”. Diese „Kassiber” waren sein Ventil für sein privates Drama, dazu entdeckte er in der Bibliothek Thomas Manns Zauberberg. Er druckte die ersten Kapitel des Zauberberg in „Semper-Antiqua”, mit seinen „weißen Flüchen” angereichert, das gab ihm endlich Kraft zu türmen.
Die Schrift war das einzige Geheimnis der DDR. In sie konnte man sein eigenes Schicksal hinein montieren oder es aus ihr herauslesen. Das Rasterwerk des Systems war hintergangen. Ein bisschen romantisch klingt Heinz Grünebaums Erlösung schon, aber eine größere Ehre kann man der Literatur nicht antun. So ist Katja Lange-Müllers Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei eine Liebeserklärung an die Literatur, eingeschlossen in haargenaue, traurig-komische Beschreibungen scharfer Standbilder aus dem trüben Lebens in der ehemaligen DDR, dem unpoetischen Zauberberg, der Menschen und Gloxinien vergiftete. Katja Lange-Müller erzählt mit burlesker Eleganz. Es ist zum Lachen und zum Heulen und nicht aus einem „Guss”. Aber das müssen Aufzeichnungen auch nicht sein.
VERENA AUFFERMANN
KATJA LANGE-MÜLLER: Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 135 Seiten, 28 Mark.
Katja Lange-Müller
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2001Acht Punkt, Grotesk, mager
Schwarze Kunst: Katja Lange-Müllers Erzählung "Die Letzten"
In den Nischen der DDR überlebte nicht nur die alte Handwerkskunst des Bleisatzes, sondern auch eine Satzkunst anderer Art. Die gelernte Druckerin Katja Lange-Müller ist in beiden Meisterin, wie schon der erste Satz ihrer schmalen Erzählung "Die Letzten" bezeugt: "Den Himmel, zu dem ich hochsah, wann immer mir das Wort ,frei' einfiel, verdunkelten an jenem Augustabend vor zwanzig Jahren riesige, schwer auf fußballfeldgroße Flachdächer herabhängende Wolken, in deren Unterseiten, oder sollte ich ,Wampen' sagen, sich Antennen bohrten, Schornsteine stemmten." Damit ist der bleischwer lastende Horizont aus tristen Plaste-Imitaten, Makulatur und altersschwachen Schnellpressen umrissen, unter dem Püppi lebt, die liebeskranke, einsame und notorisch ungeschickte Setzerin, die sowohl im Setzkasten wie bei den Männern dauernd danebengreift.
Der Himmel über dieser Wüste spannt sich hoch und weit, aber was unter seinen Wampen und Wolken gedeiht - neben Zimmerpflanzen vor allem Muttersöhnchen, mürrische Trinker und skurrile Käuze -, sehnt sich nach einer Freiheit, die sich nicht erst politisch artikulieren muß, um subversiv zu sein. Im Gegenteil: Wo Opportunismus leicht in Opposition umschlägt, wirkt volltönende Dissidenz erst recht systemerhaltend. Willi alias Heinz Grünebaum zum Beispiel ist ein alter Setzer, der nicht viel Worte macht, aber in den Zwischenräumen der Buchstaben seine private kleine Freiheit findet. Er hat eine eigenwillige Technik entdeckt, mit der er sich von seiner "herrischen, ungezügelten, widerwärtigen Mutter" befreien und der väterlichen Bevormundung durch den Staat entziehen kann: Das letzte Original einer sterbenden Kunst manipuliert die Lettern so, daß sich die Leerräume zwischen den Wörtern zu "Weißversalien" formen, die sich nur dem unscharf gestellten Blick enthüllen. Seine konspirative Typographie ergibt buchstäblich zwischen den Zeilen einen Sinn: Das erste Wort, das er in Brotschrift (acht Punkt, Grotesk, mager) in das Vereinsblättchen "Sport Frei!" schmuggelt, heißt "Muttersau"; später wird er, kühner geworden, ganze Kapitel aus dem "Zauberberg" in seinen Kryptogrammen unterbringen.
Heinz hat ein Ventil gefunden, ödipalen Dampf abzulassen, "ohne zu schreiben im üblichen Sinne" oder mit der Zensur in Konflikt zu kommen: Er schreibt Mutterbeschimpfungen in "Formen aus nichts". "Zwischen den schwarzen Wörtern des großen Thomas Mann spuken die weißen Flüche einer kleinen, gepeinigten Seele." Als er in einem sowjetischen Universallexikon auf die Spuren eines Seelen- und Handwerksbruders stößt, hält ihn nichts mehr in einem Land, dessen Existenzberechtigung sich gerade selbst in den Leerstellen seiner offiziellen Schrift aufzulösen beginnt. Heinz macht sich auf gen Osten, Richtung Taschkent, wo sich seine Spur in den Weiten der asiatischen Steppe verliert.
Wie ihre anlehnungsbedürftige linkshändige Frau war Katja Lange-Müller Setzerin und Layouterin in einer Ost-Berliner Druckerei und Hilfspflegerin in der Psychiatrie. Wie ihr Heinz hatte sie eine Mutter - die SED-Funktionärin Inge Lange -, der sie keine Träne nachweint, und wie er verschwand auch sie 1984 für ein Jahr in der Mongolei. Ihr kleiner Roman - eigentlich ist es nur eine lose Sammlung von Episoden und Anekdoten - ist freilich mehr als die Geheimschrift einer Autobiographie oder ein Abgesang auf die Schwarze Kunst. "Die Letzten": Das sind vor allem die mit Alkohol gedüngten Hinterzimmerpflanzen, Unkraut- und Nachtschattengewächse, die in den ordentlich geharkten Beeten und Blumentöpfen der ostdeutschen Spießerwelt keine Wurzeln schlagen konnten.
Im ersten Teil beschreibt die Autorin mit zärtlicher Heiterkeit die trostlose und doch anheimelnde Stubenwärme in Udo Posbichs Privatdruckerei, in der sich lauter verkrachte Existenzen sammeln. Zu der politisch wie psychisch gleich unorganisierten Belegschaft gehören außer Willi noch Fritz, ein "zum Querulanten geläuterter Opportunist", der den toten Embryo seines Zwillingsbruders im Weckglas aufbewahrt, und der schizophrene, vollends kollektivunfähige Manfred, der mit Druck- und Baumaschinen spricht wie Kollegin Püppi mit ihrer Gloxinie. Wo das freie Wort keinen Platz findet, wo der Drucker sich vom Druck befreien will, blüht das Zwiegespräch mit der organischen Natur und dem Gerät. Und wer Sorgen hat, hat auch Likör, vorzugsweise rumänischen "Murfatlar", "Kreuz des Südens" und Bier aus der "Waldschänke". Posbich, der Prinzipal, allerdings flieht die Republik, als sein Betrieb verstaatlicht werden soll. Heinz, der Kryptograph seines gesammelten Schweigens, entwickelt subtilere Formen des Widerstands. Wer zum Autor nicht taugt, kann wenigstens noch an der Handpresse Worte nach eigenem Gutdünken setzen; in diesem Sinne sind die Letzten der gesellschaftlichen Hierarchie den Ersten unter den Staatsschriftstellern vorzuziehen.
Katja Lange-Müller, selbst einst am Rande der Dissidentenszene lebend, erzählt mit leiser Melancholie und sanfter Schnoddrigkeit von Strategien stiller Verweigerung und dem "Menschenrecht auf Fehler". Man nimmt ihr darum nicht einmal übel, wenn sie die Pointe ihrer Novelle unter einem Wust von umständlichen Herausgeberfiktionen versteckt; am Ende gehört auch das zu den versteckten Botschaften an die lesende Öffentlichkeit. In den Enklaven und Nischen der bröckelnden Mauer, im Aus- und Durchschuß der realsozialistischen Gutenberg-Galaxis blühten hundert Mauerblümchen und Stiefmütterchen, und kregle Topfpflanzen, die im Treibhaus des Westens verkümmert wären, ließen die Triebe einer eigensinnigen Phantasie in den bleigrauen Himmel wachsen.
MARTIN HALTER
Katja Lange-Müller: "Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 135 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schwarze Kunst: Katja Lange-Müllers Erzählung "Die Letzten"
In den Nischen der DDR überlebte nicht nur die alte Handwerkskunst des Bleisatzes, sondern auch eine Satzkunst anderer Art. Die gelernte Druckerin Katja Lange-Müller ist in beiden Meisterin, wie schon der erste Satz ihrer schmalen Erzählung "Die Letzten" bezeugt: "Den Himmel, zu dem ich hochsah, wann immer mir das Wort ,frei' einfiel, verdunkelten an jenem Augustabend vor zwanzig Jahren riesige, schwer auf fußballfeldgroße Flachdächer herabhängende Wolken, in deren Unterseiten, oder sollte ich ,Wampen' sagen, sich Antennen bohrten, Schornsteine stemmten." Damit ist der bleischwer lastende Horizont aus tristen Plaste-Imitaten, Makulatur und altersschwachen Schnellpressen umrissen, unter dem Püppi lebt, die liebeskranke, einsame und notorisch ungeschickte Setzerin, die sowohl im Setzkasten wie bei den Männern dauernd danebengreift.
Der Himmel über dieser Wüste spannt sich hoch und weit, aber was unter seinen Wampen und Wolken gedeiht - neben Zimmerpflanzen vor allem Muttersöhnchen, mürrische Trinker und skurrile Käuze -, sehnt sich nach einer Freiheit, die sich nicht erst politisch artikulieren muß, um subversiv zu sein. Im Gegenteil: Wo Opportunismus leicht in Opposition umschlägt, wirkt volltönende Dissidenz erst recht systemerhaltend. Willi alias Heinz Grünebaum zum Beispiel ist ein alter Setzer, der nicht viel Worte macht, aber in den Zwischenräumen der Buchstaben seine private kleine Freiheit findet. Er hat eine eigenwillige Technik entdeckt, mit der er sich von seiner "herrischen, ungezügelten, widerwärtigen Mutter" befreien und der väterlichen Bevormundung durch den Staat entziehen kann: Das letzte Original einer sterbenden Kunst manipuliert die Lettern so, daß sich die Leerräume zwischen den Wörtern zu "Weißversalien" formen, die sich nur dem unscharf gestellten Blick enthüllen. Seine konspirative Typographie ergibt buchstäblich zwischen den Zeilen einen Sinn: Das erste Wort, das er in Brotschrift (acht Punkt, Grotesk, mager) in das Vereinsblättchen "Sport Frei!" schmuggelt, heißt "Muttersau"; später wird er, kühner geworden, ganze Kapitel aus dem "Zauberberg" in seinen Kryptogrammen unterbringen.
Heinz hat ein Ventil gefunden, ödipalen Dampf abzulassen, "ohne zu schreiben im üblichen Sinne" oder mit der Zensur in Konflikt zu kommen: Er schreibt Mutterbeschimpfungen in "Formen aus nichts". "Zwischen den schwarzen Wörtern des großen Thomas Mann spuken die weißen Flüche einer kleinen, gepeinigten Seele." Als er in einem sowjetischen Universallexikon auf die Spuren eines Seelen- und Handwerksbruders stößt, hält ihn nichts mehr in einem Land, dessen Existenzberechtigung sich gerade selbst in den Leerstellen seiner offiziellen Schrift aufzulösen beginnt. Heinz macht sich auf gen Osten, Richtung Taschkent, wo sich seine Spur in den Weiten der asiatischen Steppe verliert.
Wie ihre anlehnungsbedürftige linkshändige Frau war Katja Lange-Müller Setzerin und Layouterin in einer Ost-Berliner Druckerei und Hilfspflegerin in der Psychiatrie. Wie ihr Heinz hatte sie eine Mutter - die SED-Funktionärin Inge Lange -, der sie keine Träne nachweint, und wie er verschwand auch sie 1984 für ein Jahr in der Mongolei. Ihr kleiner Roman - eigentlich ist es nur eine lose Sammlung von Episoden und Anekdoten - ist freilich mehr als die Geheimschrift einer Autobiographie oder ein Abgesang auf die Schwarze Kunst. "Die Letzten": Das sind vor allem die mit Alkohol gedüngten Hinterzimmerpflanzen, Unkraut- und Nachtschattengewächse, die in den ordentlich geharkten Beeten und Blumentöpfen der ostdeutschen Spießerwelt keine Wurzeln schlagen konnten.
Im ersten Teil beschreibt die Autorin mit zärtlicher Heiterkeit die trostlose und doch anheimelnde Stubenwärme in Udo Posbichs Privatdruckerei, in der sich lauter verkrachte Existenzen sammeln. Zu der politisch wie psychisch gleich unorganisierten Belegschaft gehören außer Willi noch Fritz, ein "zum Querulanten geläuterter Opportunist", der den toten Embryo seines Zwillingsbruders im Weckglas aufbewahrt, und der schizophrene, vollends kollektivunfähige Manfred, der mit Druck- und Baumaschinen spricht wie Kollegin Püppi mit ihrer Gloxinie. Wo das freie Wort keinen Platz findet, wo der Drucker sich vom Druck befreien will, blüht das Zwiegespräch mit der organischen Natur und dem Gerät. Und wer Sorgen hat, hat auch Likör, vorzugsweise rumänischen "Murfatlar", "Kreuz des Südens" und Bier aus der "Waldschänke". Posbich, der Prinzipal, allerdings flieht die Republik, als sein Betrieb verstaatlicht werden soll. Heinz, der Kryptograph seines gesammelten Schweigens, entwickelt subtilere Formen des Widerstands. Wer zum Autor nicht taugt, kann wenigstens noch an der Handpresse Worte nach eigenem Gutdünken setzen; in diesem Sinne sind die Letzten der gesellschaftlichen Hierarchie den Ersten unter den Staatsschriftstellern vorzuziehen.
Katja Lange-Müller, selbst einst am Rande der Dissidentenszene lebend, erzählt mit leiser Melancholie und sanfter Schnoddrigkeit von Strategien stiller Verweigerung und dem "Menschenrecht auf Fehler". Man nimmt ihr darum nicht einmal übel, wenn sie die Pointe ihrer Novelle unter einem Wust von umständlichen Herausgeberfiktionen versteckt; am Ende gehört auch das zu den versteckten Botschaften an die lesende Öffentlichkeit. In den Enklaven und Nischen der bröckelnden Mauer, im Aus- und Durchschuß der realsozialistischen Gutenberg-Galaxis blühten hundert Mauerblümchen und Stiefmütterchen, und kregle Topfpflanzen, die im Treibhaus des Westens verkümmert wären, ließen die Triebe einer eigensinnigen Phantasie in den bleigrauen Himmel wachsen.
MARTIN HALTER
Katja Lange-Müller: "Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 135 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ein heterogener Text, schreibt Cristina Nord über den ersten Roman der in Ostberlin geborenen Erzählerin. Schauplatz: ein privater Druckereibetrieb im Ostberlin der 70er Jahre. Ein Text, der sich aus verschiedenen Teil- und Binnenerzählungen zusammensetze, die bald "lose verwoben" bald aufwändig verschachtelt" seien. Besonders gelobt wird "die Kunst des langes Satzes". Die Helden des Buches, erfährt man, seien "aus dem sozialistischen Gang der Dinge gefallene" Leute, die wir dann kurz kennenlernen: eine verschrobene Schar, wie es scheint, zu der auch ein Setzer namens Willi gehört. Der habe, wie Nord schreibt, ein "schwerwiegendes Geheimnis", das der Roman nur andeutungsweise offenbare. Was Nord dann über eine Entdeckung im "Weißraum zwischen den Zeilen" schreibt, klingt doch arg symbolisch überfrachtet. Aber bevor man die Sache näher beleuchten kann, ist der Setzer auch schon Richtung Zentralasien geflohen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»[...] hoffnungslose Bilder ohne Schnörkel, in die man sich verlieben kann. [...] Eine Liebeserklärung an die Literatur.« Verena Auffermann Süddeutsche Zeitung