Wer ist George Psalmanazar? Eine Fußnote brachte die junge Autorin Daniela Dröscher auf diese Frage: ein kleiner Moment, aus dem ein Debüt von beispielloser Sprachgewalt entstanden ist. Auf den Spuren des großen englischen Gelehrten Dr. Samuel Johnson betritt der Leser eine Welt, deren Farbenpracht und Klangkulisse ihn zutiefst berühren.
Fischmann!, verspotten die Kinder den seltsamen Jungen, der im Jahr 1749 in einem schottischen Küstendorf erscheint. Mit bloßen Händen fängt er Doraden, und während er sie verkauft, singt er immer neue fremdländisch klingende Schicksalsweisen. Der alte Bischof von Innes wird Zeuge des Schauspiels. Er lockt den Jungen fort vom Meer und nimmt ihn mit sich. Die Folianten in der bischöflichen Bibliothek ziehen George magisch an. In einer Nacht blättert er in einem Buch über die Insel Formosa, die er am nächsten Tag als Ort seiner Herkunft besingt. Der geschäftstüchtige Innes gibt dem Jungen den Namen George Psalmanazar und bringt ihn in die Hauptstadt. In aller Öffentlichkeit erzählt er von Formosa, und er präsentiert das formosische Alphabet. Auch Mr Johnson, der Löwenmann, ist gekommen. Er kauft dem Bischof den wundersamen Jungen ab und nimmt ihn zu sich in die Fleet Street, wo er mit seiner üppigen Frau Elizabeth und Stieftochter Lucy lebt. George und Lucy sind klein, unschuldig, nicht von dieser Welt. Ihre Begegnung ist der Beginn einer zarten Liebesgeschichte im London des 18. Jahrhunderts. Unvereinbare Passionen gehen wie ein Riss durch die Figuren: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Liebe zu den kleinen Dingen; Erfolg und Genügsamkeit. Der Versuch, das Kleine und das Große zusammenzuführen, scheitert. Am Ende bleibt nicht mehr als das Eingehen dahin, wo Paradoxien überleben können: ins Kunstwerk. Die Lichter des George Psalmanazar ist ein grandioses Erzähldebüt und eine Liebesgeschichte, die schöner, sonderbarer - und zeitloser nicht sein könnte.
Fischmann!, verspotten die Kinder den seltsamen Jungen, der im Jahr 1749 in einem schottischen Küstendorf erscheint. Mit bloßen Händen fängt er Doraden, und während er sie verkauft, singt er immer neue fremdländisch klingende Schicksalsweisen. Der alte Bischof von Innes wird Zeuge des Schauspiels. Er lockt den Jungen fort vom Meer und nimmt ihn mit sich. Die Folianten in der bischöflichen Bibliothek ziehen George magisch an. In einer Nacht blättert er in einem Buch über die Insel Formosa, die er am nächsten Tag als Ort seiner Herkunft besingt. Der geschäftstüchtige Innes gibt dem Jungen den Namen George Psalmanazar und bringt ihn in die Hauptstadt. In aller Öffentlichkeit erzählt er von Formosa, und er präsentiert das formosische Alphabet. Auch Mr Johnson, der Löwenmann, ist gekommen. Er kauft dem Bischof den wundersamen Jungen ab und nimmt ihn zu sich in die Fleet Street, wo er mit seiner üppigen Frau Elizabeth und Stieftochter Lucy lebt. George und Lucy sind klein, unschuldig, nicht von dieser Welt. Ihre Begegnung ist der Beginn einer zarten Liebesgeschichte im London des 18. Jahrhunderts. Unvereinbare Passionen gehen wie ein Riss durch die Figuren: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Liebe zu den kleinen Dingen; Erfolg und Genügsamkeit. Der Versuch, das Kleine und das Große zusammenzuführen, scheitert. Am Ende bleibt nicht mehr als das Eingehen dahin, wo Paradoxien überleben können: ins Kunstwerk. Die Lichter des George Psalmanazar ist ein grandioses Erzähldebüt und eine Liebesgeschichte, die schöner, sonderbarer - und zeitloser nicht sein könnte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2009Als Kaspar Hauser das Abc auf Formosisch tanzte
Heute vor dreihundert Jahren wurde Samuel Johnson geboren: Wie der große Gelehrte einmal einem Orientbetrüger aufsaß, erzählt Daniela Dröschers Romandebüt, das mit der historischen Wahrheit heftig Kutsche fährt.
Unter den Scharlatanen, die einst auf Jahrmärkten, an Fürstenhöfen und in gelehrten Gesellschaften ihr Unwesen trieben, waren die "Orientbetrüger" vielleicht die merkwürdigsten. Adelung nennt die Subjekte, die sich als türkische Prinzen, bekehrte Heiden oder dem Serail entsprungene Sklaven ausgaben, in seinem Wörterbuch Glücksritter ohne "bestimmte und vernünftige Lebensart"; Historiker sprechen heute von "frühneuzeitlichen betrügerischen Wirtschaftsunternehmern".
Einer der rätselhaftesten dieser Hochstapler war, schon weil er offenbar mehr auf wissenschaftliche Reputation als auf Geld und Frauen aus war, George Psalmanazar. Angeblich von Jesuiten aus seiner Heimat Formosa entführt (vermutlich aber um 1679 in Frankreich geboren), tauchte er 1702 in England auf, wo er, geistlich betreut und auf den Namen eines biblischen Königs getauft, als edler Wilder, lebende Theodizee und Experte für formosische Landeskunde Karriere macht.
Sonnenanbeter und Kannibalen, die nackt herumlaufen und sich singend verständigen: was Psalmanazar 1704 in seinem Bestseller über die befremdlichen Gebräuche seiner Landsleute zu Papier brachte, widersprach zwar allem, was Missionare und Reisende von der Insel wussten, aber nicht dem grassierenden Orientalismus, der Jesuitenhysterie unter Georg II. und dem anglikanischen Katechismus (den er dann auch im Auftrag des Bischofs von London in seine Phantasiesprache übersetzte). Der kuriose Chinese, der sich von rohem Fleisch ernährte, "fliegende Gewänder" trug, gebrochen Französisch und fließend Formosisch sprach, war in London bald bekannt wie ein bunter Hund.
Leibniz durchschaute den Schwindel, aber selbst seriöse Gelehrte wie Edmund Halley gingen dem "falschen Formosen" auf den Leim: Er wurde zu Disputationen geladen und nach Oxford berufen. Der junge Samuel Johnson, ein robuster Philologe von sonst sehr gesundem Menschenverstand, der oft mit Psalmanazar gezecht und philosophiert hatte, beteuerte, er würde eher einem Bischof als seinem Freund widersprechen.
Jetzt hat Daniela Dröscher die seltsamen Symbiose zwischen dem getürkten Naturkind und dem knorrigen, knurrigen Aufklärer in einer Art Romandoppelbiographie beschrieben. Mit den historischen Fakten geht sie dabei so frei wie nur je ein Orientbetrüger um: Ihr Psalmanazar taucht 1749 buchstäblich aus dem Meer auf und turnt radschlagend und das formosische Abc tanzend durch die High Society und die gelehrte Welt Londons. Er begegnet erfundenen und realen Figuren wie Rousseau, Newton junior, Edmund Burke, Lady Montague und einem farbenblinden Blaustrumpf, wird eingesperrt, verraten und verkauft, bis er endlich Dr. Johnson in die Hände fällt und im Geist der Aufklärung dressiert wird.
Der dröhnende, cholerische Muffelkopf und der sanfte, stille Träumer, der schreib- und lebensmüde Wörterbuchautor und der "sprachvernarrte Wilde", der sich Buchstaben auf die Haut tätowiert und stets vor Stift und Papier verbeugt, der aalglatte "Fischmann" und der grimmige "Löwenmann", der sich als Fisch auf dem Trockenen empfindet: das kann nicht gutgehen. Der famose Formose mit der "unsittliche Affektion für Schrift" hat alles, was dem schreib- und lebensmüden Schreiberling fehlt: Er kann Buchstaben und Wörter zum Singen und Tanzen bringen, auf dem Kopf stehen, Theater spielen, Frauen und Kinder beglücken.
Dr. Johnsons pädagogisches Experiment missglückt, wie so viele seiner Projekte (eines der komischsten Kapitel des Romans handelt von seinen Menschen- und Tierversuchen zur Erlangung ewiger Jugend mit Hilfe von Katzenblutdoping und Elektrizität); am Ende muss er sogar die Autobiographie seines Schützlings schreiben und den Betrüger um seine blühende Phantasie betrügen. Nur bei Johnsons Ziehtochter findet George eine ähnlich gestimmte Seele: Lucy ist eine engelhaft reine Traumtänzerin, die das Leuchten der "schönen Dinge" durch Sammeln und Betrachten vor jedweder Verschriftlichung und Kategorisierung retten will. Die beiden bekommen ein Kind und verlieren erst ihre Unschuld (Lucy in der Fabrik, George im Krieg und vor Gericht) und dann das Vertrauen zueinander und zu den Dingen. Aber am Ende wirft der Johnson-Clan doch noch alle Perücken und zivilisatorischen Hemmungen ab und sticht frohgemut in See. Nackt segelt der invertierte Bildungsheld mit seiner Geliebten, seinem Zuchtmeister und Kater Hodge in Richtung Paradies.
Daniela Dröscher, promovierte Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin der deutsch-französischen Literaturzeitschrift "La mer gelée", hat schon viel über Kulturalität und Geschlechterdifferenz geforscht. Dass sie eine gelehrte Dichterin ist, merkt man ihrem ersten Roman an: Fast alle zeitgenössischen Geistesriesen und etliche neuere Diskurstheorien haben ihre Auftritte. Ihr Psalmanazar ist unverkennbar ein Findelkind der Aufklärung, das mit Rousseau- und Engelszungen "den verständigsten Mann der Welt" herausfordert; auch seine Lucy ist offensichtlich bei den Parfümschnüfflern, Schlafes Schwestern und anderen heiligen Monstern der neueren Literatur in die Schule gegangen.
Aber Dröscher kann auch so somnambul zart und feinsinnig illuminiert schreiben, dass ihre Dialektik der Aufklärung nie zur groben Satire oder zum Essay, ihre Figuren kaum einmal zu Statthalter von Ideen verkommen. Johnson, der kauzige, schwermütige Doktor Faustus mit seinem schwarzgalligen Humor und seinen Spießerallüren, kommt bei ihr zwar nicht so gut weg wie sein Eckermann Boswell, aber er ist auch keine Karikatur des bornierten Aufklärers. So gelingen Dröscher immer wieder feine Porträts; etwa das von Johnsons Erzfeind Dapper, der im Namen der Vernunft so lange gegen den Betrüger opponiert und intrigiert, bis er selbst Lust am Lügen, Verkleiden und pfingstlichen Sprechen gewinnt und sich, wie Shakespeares Malvolio, als Transvestit unsterblich lächerlich macht. Dass George unter diesen bunten Vögeln ein wenig blass wirkt, liegt allerdings nicht an seiner unterirdisch verbrachten formosischen Jugend, sondern an der Gedankenblässe der Konstruktion.
Dröschers Sprache ist tatsächlich aufgeklärt poetisch und wahrhaftig, in ihren besten Momenten, etwa wenn Dr. Johnsons London mit seinen stinkenden Gossen, Tavernen und literarischen Clubs beschworen wird, funkelt und leuchtet sie sogar magisch. Manchmal ist das Licht der Aufklärung freilich auch nur eine flackernde, trübe Funzel. Die kühnen Metaphern vom zuckenden "Hirnfinger" oder dem "drahtenen Spiegel" in Georges Herz sind doch ein wenig zu flächendeckend gestreut, und manchmal hat nicht nur das formosische Längen und eine leicht schiefe Grammatik.
Dennoch: "Die Lichter des George Psalmanazar" erhellen eine barocke Wunderkammer voll wunderlicher Fata, herzzerreißender Melancholie und Klugheit. Nur die wahre Identität des falschen Formosen bleibt bis zuletzt im Dunkeln: Dröscher lässt ihm seine Würde und sein unaussprechliches Geheimnis. Literatur ist immer eine Verabredung zum gemeinschaftlichen Lügen und Betrügen, und das gilt erst recht für diesen gelungenen Orientbetrug.
MARTIN HALTER
Daniela Dröscher: "Die Lichter des George Psalmanazar". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2009. 363 S., geb., 19,90 [Euro].
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Heute vor dreihundert Jahren wurde Samuel Johnson geboren: Wie der große Gelehrte einmal einem Orientbetrüger aufsaß, erzählt Daniela Dröschers Romandebüt, das mit der historischen Wahrheit heftig Kutsche fährt.
Unter den Scharlatanen, die einst auf Jahrmärkten, an Fürstenhöfen und in gelehrten Gesellschaften ihr Unwesen trieben, waren die "Orientbetrüger" vielleicht die merkwürdigsten. Adelung nennt die Subjekte, die sich als türkische Prinzen, bekehrte Heiden oder dem Serail entsprungene Sklaven ausgaben, in seinem Wörterbuch Glücksritter ohne "bestimmte und vernünftige Lebensart"; Historiker sprechen heute von "frühneuzeitlichen betrügerischen Wirtschaftsunternehmern".
Einer der rätselhaftesten dieser Hochstapler war, schon weil er offenbar mehr auf wissenschaftliche Reputation als auf Geld und Frauen aus war, George Psalmanazar. Angeblich von Jesuiten aus seiner Heimat Formosa entführt (vermutlich aber um 1679 in Frankreich geboren), tauchte er 1702 in England auf, wo er, geistlich betreut und auf den Namen eines biblischen Königs getauft, als edler Wilder, lebende Theodizee und Experte für formosische Landeskunde Karriere macht.
Sonnenanbeter und Kannibalen, die nackt herumlaufen und sich singend verständigen: was Psalmanazar 1704 in seinem Bestseller über die befremdlichen Gebräuche seiner Landsleute zu Papier brachte, widersprach zwar allem, was Missionare und Reisende von der Insel wussten, aber nicht dem grassierenden Orientalismus, der Jesuitenhysterie unter Georg II. und dem anglikanischen Katechismus (den er dann auch im Auftrag des Bischofs von London in seine Phantasiesprache übersetzte). Der kuriose Chinese, der sich von rohem Fleisch ernährte, "fliegende Gewänder" trug, gebrochen Französisch und fließend Formosisch sprach, war in London bald bekannt wie ein bunter Hund.
Leibniz durchschaute den Schwindel, aber selbst seriöse Gelehrte wie Edmund Halley gingen dem "falschen Formosen" auf den Leim: Er wurde zu Disputationen geladen und nach Oxford berufen. Der junge Samuel Johnson, ein robuster Philologe von sonst sehr gesundem Menschenverstand, der oft mit Psalmanazar gezecht und philosophiert hatte, beteuerte, er würde eher einem Bischof als seinem Freund widersprechen.
Jetzt hat Daniela Dröscher die seltsamen Symbiose zwischen dem getürkten Naturkind und dem knorrigen, knurrigen Aufklärer in einer Art Romandoppelbiographie beschrieben. Mit den historischen Fakten geht sie dabei so frei wie nur je ein Orientbetrüger um: Ihr Psalmanazar taucht 1749 buchstäblich aus dem Meer auf und turnt radschlagend und das formosische Abc tanzend durch die High Society und die gelehrte Welt Londons. Er begegnet erfundenen und realen Figuren wie Rousseau, Newton junior, Edmund Burke, Lady Montague und einem farbenblinden Blaustrumpf, wird eingesperrt, verraten und verkauft, bis er endlich Dr. Johnson in die Hände fällt und im Geist der Aufklärung dressiert wird.
Der dröhnende, cholerische Muffelkopf und der sanfte, stille Träumer, der schreib- und lebensmüde Wörterbuchautor und der "sprachvernarrte Wilde", der sich Buchstaben auf die Haut tätowiert und stets vor Stift und Papier verbeugt, der aalglatte "Fischmann" und der grimmige "Löwenmann", der sich als Fisch auf dem Trockenen empfindet: das kann nicht gutgehen. Der famose Formose mit der "unsittliche Affektion für Schrift" hat alles, was dem schreib- und lebensmüden Schreiberling fehlt: Er kann Buchstaben und Wörter zum Singen und Tanzen bringen, auf dem Kopf stehen, Theater spielen, Frauen und Kinder beglücken.
Dr. Johnsons pädagogisches Experiment missglückt, wie so viele seiner Projekte (eines der komischsten Kapitel des Romans handelt von seinen Menschen- und Tierversuchen zur Erlangung ewiger Jugend mit Hilfe von Katzenblutdoping und Elektrizität); am Ende muss er sogar die Autobiographie seines Schützlings schreiben und den Betrüger um seine blühende Phantasie betrügen. Nur bei Johnsons Ziehtochter findet George eine ähnlich gestimmte Seele: Lucy ist eine engelhaft reine Traumtänzerin, die das Leuchten der "schönen Dinge" durch Sammeln und Betrachten vor jedweder Verschriftlichung und Kategorisierung retten will. Die beiden bekommen ein Kind und verlieren erst ihre Unschuld (Lucy in der Fabrik, George im Krieg und vor Gericht) und dann das Vertrauen zueinander und zu den Dingen. Aber am Ende wirft der Johnson-Clan doch noch alle Perücken und zivilisatorischen Hemmungen ab und sticht frohgemut in See. Nackt segelt der invertierte Bildungsheld mit seiner Geliebten, seinem Zuchtmeister und Kater Hodge in Richtung Paradies.
Daniela Dröscher, promovierte Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin der deutsch-französischen Literaturzeitschrift "La mer gelée", hat schon viel über Kulturalität und Geschlechterdifferenz geforscht. Dass sie eine gelehrte Dichterin ist, merkt man ihrem ersten Roman an: Fast alle zeitgenössischen Geistesriesen und etliche neuere Diskurstheorien haben ihre Auftritte. Ihr Psalmanazar ist unverkennbar ein Findelkind der Aufklärung, das mit Rousseau- und Engelszungen "den verständigsten Mann der Welt" herausfordert; auch seine Lucy ist offensichtlich bei den Parfümschnüfflern, Schlafes Schwestern und anderen heiligen Monstern der neueren Literatur in die Schule gegangen.
Aber Dröscher kann auch so somnambul zart und feinsinnig illuminiert schreiben, dass ihre Dialektik der Aufklärung nie zur groben Satire oder zum Essay, ihre Figuren kaum einmal zu Statthalter von Ideen verkommen. Johnson, der kauzige, schwermütige Doktor Faustus mit seinem schwarzgalligen Humor und seinen Spießerallüren, kommt bei ihr zwar nicht so gut weg wie sein Eckermann Boswell, aber er ist auch keine Karikatur des bornierten Aufklärers. So gelingen Dröscher immer wieder feine Porträts; etwa das von Johnsons Erzfeind Dapper, der im Namen der Vernunft so lange gegen den Betrüger opponiert und intrigiert, bis er selbst Lust am Lügen, Verkleiden und pfingstlichen Sprechen gewinnt und sich, wie Shakespeares Malvolio, als Transvestit unsterblich lächerlich macht. Dass George unter diesen bunten Vögeln ein wenig blass wirkt, liegt allerdings nicht an seiner unterirdisch verbrachten formosischen Jugend, sondern an der Gedankenblässe der Konstruktion.
Dröschers Sprache ist tatsächlich aufgeklärt poetisch und wahrhaftig, in ihren besten Momenten, etwa wenn Dr. Johnsons London mit seinen stinkenden Gossen, Tavernen und literarischen Clubs beschworen wird, funkelt und leuchtet sie sogar magisch. Manchmal ist das Licht der Aufklärung freilich auch nur eine flackernde, trübe Funzel. Die kühnen Metaphern vom zuckenden "Hirnfinger" oder dem "drahtenen Spiegel" in Georges Herz sind doch ein wenig zu flächendeckend gestreut, und manchmal hat nicht nur das formosische Längen und eine leicht schiefe Grammatik.
Dennoch: "Die Lichter des George Psalmanazar" erhellen eine barocke Wunderkammer voll wunderlicher Fata, herzzerreißender Melancholie und Klugheit. Nur die wahre Identität des falschen Formosen bleibt bis zuletzt im Dunkeln: Dröscher lässt ihm seine Würde und sein unaussprechliches Geheimnis. Literatur ist immer eine Verabredung zum gemeinschaftlichen Lügen und Betrügen, und das gilt erst recht für diesen gelungenen Orientbetrug.
MARTIN HALTER
Daniela Dröscher: "Die Lichter des George Psalmanazar". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2009. 363 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Daniela Dröscher hat sich in ihrem Debütroman einer historischen Figur aus dem 18. Jahrhundert angenommen, dem angeblich aus dem heutigen Taiwan stammenden Hochstapler George Psalmanazar, der sich zumindest für eine Weile recht erfolgreich in Großbritannien durchschlug. Zur Freude der Rezensentin Natascha Freundel nimmt sie es mit der historischen Wahrheit allerdings nicht allzu genau und nutzt die Vorlage für eine "Feier des Fabulierens". Sie spielt auf eine mitreißende Art und Weise mit den "dürren Fakten", so dass man sich als Leser gerne in Dröschers "fremdvertraute Welt" entführen lässt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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