Vila und Renz, beide fürs Fernsehen tätig, sind ein Paar im Takt der Zeit mit erwachsener Tochter, Wohnung in Frankfurt und Sommerhaus in Italien - alles so weit gut, wäre da nicht die unstillbare Sehnsucht nach Liebe: die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam. Noch aber sind Vila und Renz nicht alt, auch wenn sie erfahren, dass sie Großeltern werden. Sie stehen voll im Leben, nach außen erfolgreich und nach innen ein Paar, das viel voneinander weiß, aber nicht zu viel. Ein ausbalancierter Zustand; bis zu dem Augenblick, in dem Vila mit ungeahnter Intensität einen anderen zu lieben beginnt. Bodo Kirchhoff erzählt in seinem neuen großen Lebensroman von einer langen Ehe als ewiger Glückssuche, von frühem Missbrauch als späterer Weltverengung und einem lebenslänglichen, nur im Stillen erfüllten Verlangen. Im Zentrum aber steht die Liebe zwischen Vila, einer Frau in festen Verhältnissen, und dem Einzelgänger Bühl, Biograph eines Paars aus einer vergangenen, gottesfürchtigen Epoche. Nach seinen beiden erfolgreichen, weltumspannenden Romanen Infanta (1990) und Parlando (2001) erzählt Bodo Kirchhoff von drei welterschließenden Liebesseschichten und einer weltverengenden enttäuschten Jugendfreundschaft: Die Liebe in groben Zügen ist ein großartiges, souverän und stilsicher erzähltes Panorama einer Ehe als Lebensprojekt in einer Zeit, die den Moment verherrlicht. Und wenn es einen Höhepunkt in der Ehe gibt, erkennt Vila am Ende, dann besteht er in deren Dauer.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2012Der Bart ist ab
„Alte Paare sind Archive – weh dem, der sie öffnet“: Bodo Kirchhoffs
Eheroman „Die Liebe in groben Zügen“ bestätigt diesen Satz auf glanzvolle Weise
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Es ist ein Kampf zwischen Mensch und Tier, ein ungleicher. Die Flosse des Fisches peitscht gegen die Bordwand; die Anglergehilfen greifen zur Keule; die Augen des Tieres schimmern wie dunkles Glas. Da greift Renz zum Messer, die Hand schnellt nach oben, die Klinge durchtrennt die gespannte Nylonschnur. „Loslassen“, sagt Renz zu Vila, „man muss es üben, was meinst du?“
Bereits der Titel von Bodo Kirchhoffs Roman, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2012 steht, ist ambivalent. Denn zum einen, das ist von Beginn an zu spüren, geht Kirchhoff aufs Ganze. Und zum anderen ist er klug genug zu wissen, dennoch nur ein Segment füllen zu können. Also bleibt er radikal privat. Einige wenige Leben nur, die aber unter der Lupe. Vila und Renz, Verena Wieland und Bernhard Renz. Sie Anfang 50, er Mitte 60. Ein Paar seit knapp 30 Jahren. Schon das Kennenlernen an einem Silvesterabend in Frankfurt am Main begann mit einem Übergriff, bei weitem nicht dem einzigen. Sie würde ihn nur küssen, wenn er sich seinen Schnurrbart abschneide, so ihre Bedingung, und so geschieht es. Die Verletzung der körperlichen Integrität wird im Verlauf des Romans zum beziehungsimpliziten Prinzip.
Bei der Lektüre des Romans gilt es, eine große Irritation von Beginn an zu überwinden – den Umstand, dass materielle Sorgen offenbar keine Rolle spielen in diesen Existenzen. Sie moderiert eine kleine Sendung im Fernsehen; er schreibt Seriendrehbücher: zwei öffentlich-rechtlich abgefederte Mitglieder der goldenen Mediengeneration. Man wohnt in Frankfurt-Sachsenhausen, beste Altbaulage, Ferienhaus am Gardasee, Jaguar vor der Tür, die kleine Reverso am Handgelenk. Weihnachten verbringt man traditionsgemäß auf Jamaika. Die Erkenntnis, dass die Zeiten sich in jener Hinsicht ändern könnten und man womöglich in Zukunft Geld nur noch hat, wenn man viel dafür arbeitet, trifft das Paar auf Seite 599 wie ein Schock.
Die soziale Fallhöhe ist niedrig, die emotionale dafür umso höher. Als der Sommer am Gardasee dem Ende entgegen geht, holen Vila und Renz sich einen Wintermieter ins Seehaus: Bühl, gescheiterter Lehrer aus Frankfurt, der in Italien an einem Buch über Franz von Assisi arbeiten will. Zwischen Vila und Bühl, er zwölf Jahre jünger als sie, spielt sich etwas ab, zunächst im Zwischenbereich des Unmerklichen. Doch als Vila nach Havanna reist, wo ihre und Renz’ gemeinsame Tochter plant, eine Abtreibung vorzunehmen, fliegt Bühl ihr nach. Und es beginnt etwas, was man Liebe nennen kann, in all ihren Unmöglichkeiten. Die prallen hart aufeinander: Die Unmöglichkeit, aus einer Beziehung auszubrechen. Die Unmöglichkeit, überhaupt eine Beziehung zu führen. Lebensmodelle, Wünsche, Begierden, Realität, alles ganz dicht beieinander, alles scheinbar greifbar und doch nicht zu haben. Die Liebe und die Verliebtheit als Krankheitszustand. Und das im Wortsinn: Renz startet eine Affäre mit einer Fernseh-Producerin, Marlies Mattrainer; wie sich herausstellen wird, Bühls erste und bis zu Vila auch einzige Frau von Bedeutung. Marlies ist schwer krank, und während Vila sich in die Bühl’schen Komplikationen verstrickt, begleitet Renz Marlies in den Tod.
Doch „Die Liebe in groben Zügen“ ist eindeutig Vilas Buch; sie gibt den Erzähltakt vor und den Blick auf die Welt. Es ist mit Sicherheit das bislang wichtigste Werk in Kirchhoffs Œuvre, aber ist es darum auch ein großer Roman? Unbedingt. Denn so schwer erträglich Vila im Leben wäre, so großartig ist sie als literarische Figur. Sie ist brutal, rücksichtslos, egomanisch, kokett. Doch alles, was mit dem profanen Wort „Liebe“ so gesagt werden kann, kommt in ihr eben darum zum Vorschein: Hilflosigkeit, Gier, Wut, Angespanntheit, Unerfüllbarkeit, Sehnsucht.
Was will man? Wie will man es? Und mit wem? Während der andere, Bühl, nach der Rückkehr aus Kuba nur als Gespinst, als Chimäre und gelegentliche Heimlichkeit greifbar ist, sind Vila und Renz gezwungen, sich konkret mit ihrem Verhältnis auseinanderzusetzen. „Sie ertrug mehr als er, weil sie ihn ertrug“, das ist einer der nur scheinbar so leicht hingeworfenen Sätze, die viel sagen, oder: „Jetzt hängt sie an ihm, weil ihre Zeit in ihm steckt.“
Kirchhoff hat keine Scheu vor dem Pathos, auch nicht vor der Peinlichkeit; im Gegenteil – durch die parallel erzählte Franz-von-Assisi-Geschichte, die Bühl aufschreibt, überhöht er die ohnehin schon detailvoll ausgemalten Windungen seiner Protagonisten in religiöse Dimensionen. Kirchhoff geht bis an die Schmerzgrenze und auch darüber hinaus. Die Frage, ob da etwas ausgestellt, vorgeführt wird oder sich selbst freiwillig entlarvt, stellt sich allerdings nie. Dafür sind die zahlreichen Bilanzen, die Kirchhoff zieht, zu lebensklug: „Sie hält ihn für einen manisch-depressiven Negativisten und gleichzeitigen Angeber, aber für lebenstüchtig trotz allem, dazu gebildet und schöpferisch begabt, also ein Angeber mit Substanz, ihr Fürst ohne Hof, mit dem Körper, den er verdient hat.“ Und er über sie: „Das Vilahafte an Vila, es ist nur kompliziert, nicht suspekt, schwierig, aber auszuhalten.“ So spricht man, wenn man sich kennt und auszuhalten gelernt hat. Die größte Leistung einer Langzeitbeziehung ist, dass sie noch existiert.
Zum Sich-Kennen gehört alles, darum auch der Detailreichtum, die Dutzenden Flaschen von Amarone und Gavi di Gavi, die im Lauf des Romans getrunken werden. Sie illustrieren mehr als nur ein Milieu. Sie erzählen von einem Paar, das nicht auseinander kann und will, obwohl die Trennung in der Luft liegt. Das Geheimnis der Ehe: dass alles irgendwann von alleine geht, selbst die Verletzungen: „Ein Schlag, planlos und doch auf die Lippen, die Sonnenbrille fiel ihm aus dem Haar, fiel auf den Kachelboden, eine mit besten Gläsern, wenn nicht seine Brille der Brillen, also trat sie mit dem Fußballen auf einen der Bügel.“ In diesem „also“ steckt im Grunde alles.
„Alte Paare sind Archive“, heißt es einmal, „weh dem, der sie öffnet“. Genau das tut Kirchhoff, und dem Ausufernden, Ungeordneten des Ehearchivs unterwirft sich der Roman in seiner Form. Doch er öffnet noch eine andere Schublade, das Thema des sexuellen Missbrauchs. Im März 2010, im Zuge der Debatte um die Odenwaldschule, bekannte Bodo Kirchhoff, als Zwölfjähriger in dem Bodensee-Internat seiner Jugend missbraucht worden zu sein. Den Missbrauch überträgt Kirchhoff nun im Roman auf die Bühl-Figur (die Ursache für deren Beziehungsunfähigkeit). In diesen Tagen erscheint eine Neuauflage von Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesung „Legenden um den eigenen Körper“ aus dem Jahr 1994, die der Autor ganz aktuell mit einem fünften Kapitel, „Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität“, ergänzt hat. Es liest sich wie ein Begleitbuch zum Roman und offenbart den Missbrauch durch den schönen, attraktiven Musik- und Sportlehrer als zentralen Antrieb des Schreibens.
Erst vor diesem Hintergrund erhalten der Begriff der Liebe in all seiner Ambivalenz und Kirchhoffs Sprache ihre volle Plausibilität. Sexualität als Schicksal: „Jedes Erzählen davon ist einerseits Teil des Verhängnisses und andererseits, in seinem Gelingen, eine Loslösung davon, ohne dass der Erzählende damit befreit wäre.“ Die Sprache des Missbrauchenden ist eine Herrschaftssprache; der Schriftsteller Kirchhoff kämpft im Schreiben um einen neuen, unverdorbenen Körper. Daraus speist sich die Kraft seiner Prosa, der hypotaktische, aufgeladene Stil, der als machohafte Muskelprotzerei fehlinterpretiert wäre. Angreifbar ist das allemal. Bodo Kirchhoff verteidigt in „Die Liebe in großen Zügen“ auch das Recht des Schriftstellers zur radikalen (Selbst-)Entblößung, mit allen damit verbundenen Risiken. Auch das ist ihm auf grandiose Weise gelungen.
„Er ist ein Angeber mit Substanz,
ihr Fürst ohne Hof, mit
dem Körper, den er verdient hat“
Bodo Kirchhoff:
Die Liebe in groben
Zügen. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012.
672 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Alte Paare sind Archive – weh dem, der sie öffnet“: Bodo Kirchhoffs
Eheroman „Die Liebe in groben Zügen“ bestätigt diesen Satz auf glanzvolle Weise
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Es ist ein Kampf zwischen Mensch und Tier, ein ungleicher. Die Flosse des Fisches peitscht gegen die Bordwand; die Anglergehilfen greifen zur Keule; die Augen des Tieres schimmern wie dunkles Glas. Da greift Renz zum Messer, die Hand schnellt nach oben, die Klinge durchtrennt die gespannte Nylonschnur. „Loslassen“, sagt Renz zu Vila, „man muss es üben, was meinst du?“
Bereits der Titel von Bodo Kirchhoffs Roman, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2012 steht, ist ambivalent. Denn zum einen, das ist von Beginn an zu spüren, geht Kirchhoff aufs Ganze. Und zum anderen ist er klug genug zu wissen, dennoch nur ein Segment füllen zu können. Also bleibt er radikal privat. Einige wenige Leben nur, die aber unter der Lupe. Vila und Renz, Verena Wieland und Bernhard Renz. Sie Anfang 50, er Mitte 60. Ein Paar seit knapp 30 Jahren. Schon das Kennenlernen an einem Silvesterabend in Frankfurt am Main begann mit einem Übergriff, bei weitem nicht dem einzigen. Sie würde ihn nur küssen, wenn er sich seinen Schnurrbart abschneide, so ihre Bedingung, und so geschieht es. Die Verletzung der körperlichen Integrität wird im Verlauf des Romans zum beziehungsimpliziten Prinzip.
Bei der Lektüre des Romans gilt es, eine große Irritation von Beginn an zu überwinden – den Umstand, dass materielle Sorgen offenbar keine Rolle spielen in diesen Existenzen. Sie moderiert eine kleine Sendung im Fernsehen; er schreibt Seriendrehbücher: zwei öffentlich-rechtlich abgefederte Mitglieder der goldenen Mediengeneration. Man wohnt in Frankfurt-Sachsenhausen, beste Altbaulage, Ferienhaus am Gardasee, Jaguar vor der Tür, die kleine Reverso am Handgelenk. Weihnachten verbringt man traditionsgemäß auf Jamaika. Die Erkenntnis, dass die Zeiten sich in jener Hinsicht ändern könnten und man womöglich in Zukunft Geld nur noch hat, wenn man viel dafür arbeitet, trifft das Paar auf Seite 599 wie ein Schock.
Die soziale Fallhöhe ist niedrig, die emotionale dafür umso höher. Als der Sommer am Gardasee dem Ende entgegen geht, holen Vila und Renz sich einen Wintermieter ins Seehaus: Bühl, gescheiterter Lehrer aus Frankfurt, der in Italien an einem Buch über Franz von Assisi arbeiten will. Zwischen Vila und Bühl, er zwölf Jahre jünger als sie, spielt sich etwas ab, zunächst im Zwischenbereich des Unmerklichen. Doch als Vila nach Havanna reist, wo ihre und Renz’ gemeinsame Tochter plant, eine Abtreibung vorzunehmen, fliegt Bühl ihr nach. Und es beginnt etwas, was man Liebe nennen kann, in all ihren Unmöglichkeiten. Die prallen hart aufeinander: Die Unmöglichkeit, aus einer Beziehung auszubrechen. Die Unmöglichkeit, überhaupt eine Beziehung zu führen. Lebensmodelle, Wünsche, Begierden, Realität, alles ganz dicht beieinander, alles scheinbar greifbar und doch nicht zu haben. Die Liebe und die Verliebtheit als Krankheitszustand. Und das im Wortsinn: Renz startet eine Affäre mit einer Fernseh-Producerin, Marlies Mattrainer; wie sich herausstellen wird, Bühls erste und bis zu Vila auch einzige Frau von Bedeutung. Marlies ist schwer krank, und während Vila sich in die Bühl’schen Komplikationen verstrickt, begleitet Renz Marlies in den Tod.
Doch „Die Liebe in groben Zügen“ ist eindeutig Vilas Buch; sie gibt den Erzähltakt vor und den Blick auf die Welt. Es ist mit Sicherheit das bislang wichtigste Werk in Kirchhoffs Œuvre, aber ist es darum auch ein großer Roman? Unbedingt. Denn so schwer erträglich Vila im Leben wäre, so großartig ist sie als literarische Figur. Sie ist brutal, rücksichtslos, egomanisch, kokett. Doch alles, was mit dem profanen Wort „Liebe“ so gesagt werden kann, kommt in ihr eben darum zum Vorschein: Hilflosigkeit, Gier, Wut, Angespanntheit, Unerfüllbarkeit, Sehnsucht.
Was will man? Wie will man es? Und mit wem? Während der andere, Bühl, nach der Rückkehr aus Kuba nur als Gespinst, als Chimäre und gelegentliche Heimlichkeit greifbar ist, sind Vila und Renz gezwungen, sich konkret mit ihrem Verhältnis auseinanderzusetzen. „Sie ertrug mehr als er, weil sie ihn ertrug“, das ist einer der nur scheinbar so leicht hingeworfenen Sätze, die viel sagen, oder: „Jetzt hängt sie an ihm, weil ihre Zeit in ihm steckt.“
Kirchhoff hat keine Scheu vor dem Pathos, auch nicht vor der Peinlichkeit; im Gegenteil – durch die parallel erzählte Franz-von-Assisi-Geschichte, die Bühl aufschreibt, überhöht er die ohnehin schon detailvoll ausgemalten Windungen seiner Protagonisten in religiöse Dimensionen. Kirchhoff geht bis an die Schmerzgrenze und auch darüber hinaus. Die Frage, ob da etwas ausgestellt, vorgeführt wird oder sich selbst freiwillig entlarvt, stellt sich allerdings nie. Dafür sind die zahlreichen Bilanzen, die Kirchhoff zieht, zu lebensklug: „Sie hält ihn für einen manisch-depressiven Negativisten und gleichzeitigen Angeber, aber für lebenstüchtig trotz allem, dazu gebildet und schöpferisch begabt, also ein Angeber mit Substanz, ihr Fürst ohne Hof, mit dem Körper, den er verdient hat.“ Und er über sie: „Das Vilahafte an Vila, es ist nur kompliziert, nicht suspekt, schwierig, aber auszuhalten.“ So spricht man, wenn man sich kennt und auszuhalten gelernt hat. Die größte Leistung einer Langzeitbeziehung ist, dass sie noch existiert.
Zum Sich-Kennen gehört alles, darum auch der Detailreichtum, die Dutzenden Flaschen von Amarone und Gavi di Gavi, die im Lauf des Romans getrunken werden. Sie illustrieren mehr als nur ein Milieu. Sie erzählen von einem Paar, das nicht auseinander kann und will, obwohl die Trennung in der Luft liegt. Das Geheimnis der Ehe: dass alles irgendwann von alleine geht, selbst die Verletzungen: „Ein Schlag, planlos und doch auf die Lippen, die Sonnenbrille fiel ihm aus dem Haar, fiel auf den Kachelboden, eine mit besten Gläsern, wenn nicht seine Brille der Brillen, also trat sie mit dem Fußballen auf einen der Bügel.“ In diesem „also“ steckt im Grunde alles.
„Alte Paare sind Archive“, heißt es einmal, „weh dem, der sie öffnet“. Genau das tut Kirchhoff, und dem Ausufernden, Ungeordneten des Ehearchivs unterwirft sich der Roman in seiner Form. Doch er öffnet noch eine andere Schublade, das Thema des sexuellen Missbrauchs. Im März 2010, im Zuge der Debatte um die Odenwaldschule, bekannte Bodo Kirchhoff, als Zwölfjähriger in dem Bodensee-Internat seiner Jugend missbraucht worden zu sein. Den Missbrauch überträgt Kirchhoff nun im Roman auf die Bühl-Figur (die Ursache für deren Beziehungsunfähigkeit). In diesen Tagen erscheint eine Neuauflage von Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesung „Legenden um den eigenen Körper“ aus dem Jahr 1994, die der Autor ganz aktuell mit einem fünften Kapitel, „Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität“, ergänzt hat. Es liest sich wie ein Begleitbuch zum Roman und offenbart den Missbrauch durch den schönen, attraktiven Musik- und Sportlehrer als zentralen Antrieb des Schreibens.
Erst vor diesem Hintergrund erhalten der Begriff der Liebe in all seiner Ambivalenz und Kirchhoffs Sprache ihre volle Plausibilität. Sexualität als Schicksal: „Jedes Erzählen davon ist einerseits Teil des Verhängnisses und andererseits, in seinem Gelingen, eine Loslösung davon, ohne dass der Erzählende damit befreit wäre.“ Die Sprache des Missbrauchenden ist eine Herrschaftssprache; der Schriftsteller Kirchhoff kämpft im Schreiben um einen neuen, unverdorbenen Körper. Daraus speist sich die Kraft seiner Prosa, der hypotaktische, aufgeladene Stil, der als machohafte Muskelprotzerei fehlinterpretiert wäre. Angreifbar ist das allemal. Bodo Kirchhoff verteidigt in „Die Liebe in großen Zügen“ auch das Recht des Schriftstellers zur radikalen (Selbst-)Entblößung, mit allen damit verbundenen Risiken. Auch das ist ihm auf grandiose Weise gelungen.
„Er ist ein Angeber mit Substanz,
ihr Fürst ohne Hof, mit
dem Körper, den er verdient hat“
Bodo Kirchhoff:
Die Liebe in groben
Zügen. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012.
672 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Atemberaubend, rückhaltlos, herrlich, so muss man über die Liebe schreiben, meint Rezensentin Rose-Maria Gropp, und Bodo Kirchhoff kann es, da lässt sie keinen Zweifel. Wie der Autor in diesem Buch über die späte Beziehungskrise eines miteinander alt gewordenen glamourösen Paars fabuliert, anspielungsreich, nicht allwissend noch allumfassend, aber Charaktere schaffend (starke weibliche vor allem!) und Realität, und dennoch parabolisch - das hat Gropp hin- und weggerissen. Dass große Literatur immer auch am Rand der Plausibilität balanciert, manchmal mutig darüber hinausgeht, merkt Gropp hier, wenn Kirchhoff mythisch Franz von Assisi und die heilige Klara ins Spiel bringt. Aber ein Schreiben über die Liebe ohne Um- und Abwege, das wäre der Rezensentin auch viel zu langweilig.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2012Erinnerung, Sehnsucht
Eröffnung von "Open Books" im Schauspiel Frankfurt
Mit der Buchmesse sei es eine bisweilen paradoxe Sache, sagte Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth zur Begrüßung. Zwar breche nun endlich wieder der Höhepunkt des literarischen Jahres an und animiere mehr denn je zum Lesen neuer Werke. Doch müsse man sich als Literaturbegeisterter bis zum Ende der Buchmesse gedulden, erst dann bleibe, das liege in der Natur der Sache, genügend Zeit für die Lektüre.
Bis es so weit ist, finden in der ganzen Stadt die Veranstaltungen des Lesefests "Open Books" statt, das am Dienstagabend zusammen mit der Buchmesse eröffnet wurde. Rund 160 Autoren stellen noch bis einschließlich Samstag in Kultureinrichtungen der Stadt unentgeltlich ihre Werke vor und lesen aus ihnen. Fünf Schriftsteller, unter ihnen Ursula Krechel, die am Tag zuvor gekürte Trägerin des Deutschen Buchpreises, nahmen bei der Eröffnungsveranstaltung im Chagallsaal des Schauspiels Frankfurt für kurze Gespräche auf dem "Blauen Sofa" Platz, dessen Team auf dem Messegelände bis Sonntag 72 Autoren zu Gast hat und das seit vorigem Jahr auch zum Beginn von "Open Books" gehört.
Im vollbesetzten Chagallsaal beschrieb Krechel, die vor "Landgericht", ihrem dreiundzwanzigsten Buch, mehrere Gedichtbände vorgelegt hatte, ihre lange Annäherung an die Rückkehr deutscher Emigranten nach dem Zweiten Weltkrieg und ihren Zugang zur literarischen Figur des jüdischen Richters Richard Kornitzer. Die Grausamkeit vieler Details, auf die sie während der Recherche in den Archiven gestoßen sei, hätten es ihr schwergemacht, mit der kühlen Objektivität einer Anwältin zu schreiben. Jedoch habe die Härte mancher Einzelheiten in der Personalakte der realen Person, an die Kornitzer angelehnt ist, ihr verdeutlicht, dass ein reiner Erzählduktus dem Thema ebenfalls nicht gerecht werde. Sie habe es als erleichternd empfunden, die der Lyrik eigenen "Rhythmisierungen" in die Sprache des Romans übernehmen zu können, so Krechel.
Auf Jenny Erpenbeck, die in ihrem kürzlich erschienenen und auf der Longlist des Buchpreises gelandeten Roman "Aller Tage Abend" ihre Hauptfigur innerhalb eines Lebens fünfmal den Tod finden lässt, folgte Bodo Kirchhoff, der es ebenfalls auf die Longlist der Auszeichnung geschafft hatte. Der gebürtige Hamburger, dem Frankfurt seit Studienzeiten vertraut ist, lässt seinen Roman "Die Liebe in groben Zügen" auch im Stadtteil Sachsenhausen spielen und dort den Zahn der Zeit an der Liebe eines Ehepaares in bestem Umfeld und in den besten Jahren nagen, was für beide unterschiedliche existentielle Fragen aufwirft.
Wo sich denn die groben Züge des fast 700 Seiten starken Werks versteckten, sollte der Autor beantworten, worauf Kirchhoff mit Realismus reagierte: Die Liebe selbst sei rücksichtslos, stur, grob eben, und dabei nicht halb so schön wie gemeinhin besungen. Im Tempus der Gegenwart sei ihre Existenz mithin fraglich: "Liebe ist doch im Grunde die Erinnerung an vergangene und die Sehnsucht nach neuer Liebe in der Zukunft." Danach dauerte es nicht lange bis zum nächsten Gespräch, das sich der Sehnsucht nach der Rückkehr geordneter finanzieller Verhältnisse widmete. Susanne Schmidt stellte ihr Sachbuch "Das Gesetz der Krise" vor, das ihr eine Nominierung für den diesjährigen Deutschen Wirtschaftsbuchpreis eingetragen hat. Die Krise, sagte sie vor der Kulisse der durch die Glasfront des Schauspiels sichtbaren Europäischen Zentralbank, entstehe nicht zuletzt aus der Politisierung der ihrem Wesen nach eigentlich apolitischen Banken.
Ebenfalls einer kriselnden Ehe widmet sich Stephan Thome. In seinem zweiten, wie sein Debüt auf die Buchpreis-Shortlist gelangten Roman beschreibt er die "Fliehkräfte", die an der bürgerlichen Existenz seines Protagonisten zerren. Er scheine angekommen im Lebensentwurf von "Frau, Kindern und frei stehendem Haus", sagt Thome, der mit komischer Note von den Lebensfragen erzählt, denen sein Philosophieprofessor sich fortan ausgesetzt sieht. Doch die Zeit auf dem "Blauen Sofa" ist knapp. Oder frei philosophisch: "Der Rest ist Lesen."
CONSTANZE EHRHARDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eröffnung von "Open Books" im Schauspiel Frankfurt
Mit der Buchmesse sei es eine bisweilen paradoxe Sache, sagte Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth zur Begrüßung. Zwar breche nun endlich wieder der Höhepunkt des literarischen Jahres an und animiere mehr denn je zum Lesen neuer Werke. Doch müsse man sich als Literaturbegeisterter bis zum Ende der Buchmesse gedulden, erst dann bleibe, das liege in der Natur der Sache, genügend Zeit für die Lektüre.
Bis es so weit ist, finden in der ganzen Stadt die Veranstaltungen des Lesefests "Open Books" statt, das am Dienstagabend zusammen mit der Buchmesse eröffnet wurde. Rund 160 Autoren stellen noch bis einschließlich Samstag in Kultureinrichtungen der Stadt unentgeltlich ihre Werke vor und lesen aus ihnen. Fünf Schriftsteller, unter ihnen Ursula Krechel, die am Tag zuvor gekürte Trägerin des Deutschen Buchpreises, nahmen bei der Eröffnungsveranstaltung im Chagallsaal des Schauspiels Frankfurt für kurze Gespräche auf dem "Blauen Sofa" Platz, dessen Team auf dem Messegelände bis Sonntag 72 Autoren zu Gast hat und das seit vorigem Jahr auch zum Beginn von "Open Books" gehört.
Im vollbesetzten Chagallsaal beschrieb Krechel, die vor "Landgericht", ihrem dreiundzwanzigsten Buch, mehrere Gedichtbände vorgelegt hatte, ihre lange Annäherung an die Rückkehr deutscher Emigranten nach dem Zweiten Weltkrieg und ihren Zugang zur literarischen Figur des jüdischen Richters Richard Kornitzer. Die Grausamkeit vieler Details, auf die sie während der Recherche in den Archiven gestoßen sei, hätten es ihr schwergemacht, mit der kühlen Objektivität einer Anwältin zu schreiben. Jedoch habe die Härte mancher Einzelheiten in der Personalakte der realen Person, an die Kornitzer angelehnt ist, ihr verdeutlicht, dass ein reiner Erzählduktus dem Thema ebenfalls nicht gerecht werde. Sie habe es als erleichternd empfunden, die der Lyrik eigenen "Rhythmisierungen" in die Sprache des Romans übernehmen zu können, so Krechel.
Auf Jenny Erpenbeck, die in ihrem kürzlich erschienenen und auf der Longlist des Buchpreises gelandeten Roman "Aller Tage Abend" ihre Hauptfigur innerhalb eines Lebens fünfmal den Tod finden lässt, folgte Bodo Kirchhoff, der es ebenfalls auf die Longlist der Auszeichnung geschafft hatte. Der gebürtige Hamburger, dem Frankfurt seit Studienzeiten vertraut ist, lässt seinen Roman "Die Liebe in groben Zügen" auch im Stadtteil Sachsenhausen spielen und dort den Zahn der Zeit an der Liebe eines Ehepaares in bestem Umfeld und in den besten Jahren nagen, was für beide unterschiedliche existentielle Fragen aufwirft.
Wo sich denn die groben Züge des fast 700 Seiten starken Werks versteckten, sollte der Autor beantworten, worauf Kirchhoff mit Realismus reagierte: Die Liebe selbst sei rücksichtslos, stur, grob eben, und dabei nicht halb so schön wie gemeinhin besungen. Im Tempus der Gegenwart sei ihre Existenz mithin fraglich: "Liebe ist doch im Grunde die Erinnerung an vergangene und die Sehnsucht nach neuer Liebe in der Zukunft." Danach dauerte es nicht lange bis zum nächsten Gespräch, das sich der Sehnsucht nach der Rückkehr geordneter finanzieller Verhältnisse widmete. Susanne Schmidt stellte ihr Sachbuch "Das Gesetz der Krise" vor, das ihr eine Nominierung für den diesjährigen Deutschen Wirtschaftsbuchpreis eingetragen hat. Die Krise, sagte sie vor der Kulisse der durch die Glasfront des Schauspiels sichtbaren Europäischen Zentralbank, entstehe nicht zuletzt aus der Politisierung der ihrem Wesen nach eigentlich apolitischen Banken.
Ebenfalls einer kriselnden Ehe widmet sich Stephan Thome. In seinem zweiten, wie sein Debüt auf die Buchpreis-Shortlist gelangten Roman beschreibt er die "Fliehkräfte", die an der bürgerlichen Existenz seines Protagonisten zerren. Er scheine angekommen im Lebensentwurf von "Frau, Kindern und frei stehendem Haus", sagt Thome, der mit komischer Note von den Lebensfragen erzählt, denen sein Philosophieprofessor sich fortan ausgesetzt sieht. Doch die Zeit auf dem "Blauen Sofa" ist knapp. Oder frei philosophisch: "Der Rest ist Lesen."
CONSTANZE EHRHARDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinreißend zart. Daniela Leibfried Main Echo 20160422