Eines Tages ist es da. Steht am Ende einer Sackgasse mitten in der Stadt. Es ist ein großes Kind. Den Blick hält es demütig zu Boden gesenkt, seine Haut ist rissig. Tagsüber versammeln sich die Bewohner der Stadt um dieses Kind, veranstalten Kundgebungen und Konzerte. Nachts schlagen sie auf es ein, mit Fäusten, Stöcken und Ketten auf die Skulptur aus weichem, niemals trocknendem Lehm, auf das "Mahlstädter Kind". Der Künstler hat es ihnen zur Vollendung überlassen, hat ihnen die Aufgabe übertragen, es "in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen".
Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen sie als Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle über sich und beinahe auch ihren Verstand.
Nach den beiden von der Kritik bejubelten und mit Preisen ausgezeichneten Romanen "Söhne und Planeten" und "Die Frequenzen" legt der österreichische Autor Clemens J. Setz nun einen Band mit Erzählungen vor. Es sind Geschichten gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror, voller gewalttätiger Momente und zärtlicher Gesten. Wie in den Romanen präsentiert sich Setz auch in der kurzen Form als scharfer Beobachter der menschlichen Natur und einfühlsamer, geradezu liebevoller Porträtist ihrer Eigenarten.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen sie als Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle über sich und beinahe auch ihren Verstand.
Nach den beiden von der Kritik bejubelten und mit Preisen ausgezeichneten Romanen "Söhne und Planeten" und "Die Frequenzen" legt der österreichische Autor Clemens J. Setz nun einen Band mit Erzählungen vor. Es sind Geschichten gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror, voller gewalttätiger Momente und zärtlicher Gesten. Wie in den Romanen präsentiert sich Setz auch in der kurzen Form als scharfer Beobachter der menschlichen Natur und einfühlsamer, geradezu liebevoller Porträtist ihrer Eigenarten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2011Am Riesenrad des Lebens gedreht
Clemens J. Setz wird als Junggenie der deutschen Literatur gefeiert. Sein Erzählungsband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes", der für den Leipziger Buchpreis nominiert ist, zaubert allerlei Phantastik aus dem Hut.
Der deutsche Literaturbetrieb hat ein neues Hoffnungskind und ist ganz entzückt über dieses früh berufene Genie. Kaum ein Superlativ, der nicht schon im Zusammenhang mit dem 1982 in Graz geborenen Wunderknaben Clemens J. Setz in die literarische Arena geworfen worden wäre. Der Germanist und Mathematiker, der sich von Suhrkamp, seinem neuen Verlag, im Klappentext nicht nur als Schriftsteller und Übersetzer, sondern auch als "Obertonsänger" und "Gelegenheitszauberer" ankündigen lässt, hatte in dem 2009 hochgelobten Roman "Die Frequenzen" auf siebenhundert Seiten das nicht eben einfache Väter-Söhne-Verhältnis behandelt. Nun hat das Vielfachtalent einen Band mit Erzählungen vorgelegt, der es in die Endrunde zum Preis der Leipziger Buchmesse geschafft hat. Gründe zuhauf, sich die achtzehn Geschichten des Bandes "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" anzuschauen.
Zweifellos erzählt hier ein literarisches Ich, das seine Mittel souverän und überraschend vielfältig einzusetzen versteht. Es weiß um die Unbehaustheit des modernen Menschen, wie schon die Erzählung "Mütter" zeigt. Da holen sich junge Männer als Muttis verkleidete Prostituierte ins Haus, um das Gefühl von Geborgenheit, wenn es nicht anders möglich ist, wenigstens gegen Bezahlung zu bekommen. In einer anderen Geschichte verliert eine höhere Angestellte den Anschluss an die Welt, nachdem ihre schicken Visitenkarten plötzlich von Schleim befallen werden. Nach und nach kommen die ansteckenden Geschwüre, die es vor allem auf Papier abgesehen haben, über ihre gesamte Habe. Bald kann Martina Keller vor Scham nicht mehr anders, als nur noch heimlich ihre Wohnung zu verlassen - um schließlich grausam Rache an der Welt zu nehmen. Die Titelgeschichte handelt von einer Plastik namens "Mahlstädter Kind", die der Künstler eigens dafür gestaltet hat, dass Betrachter die Lehmskulptur schlagen und treten, um sie so erst zu vollenden. Auf einer knappen Seite erzählt "Eine sehr kurze Geschichte", wie einem Mädchen Flügel wachsen, während Setz in "Kleine braune Tiere" dreißig Seiten lange Mutmaßungen über den Erfinder eines Computerspiels anstellt, das so anspruchsvoll konstruiert ist, dass niemand je die letzte Ebene erreicht. Natürlich kommt, wie es sich für postmodernes Erzählen gehört, auch ein Autor namens Clemens J. Setz vor - als weißhaariger Greis fristet er in einem Literaturarchiv sein Dasein. Und natürlich gilt auch für dieses Erzählwerk, dass es Metatexte zuhauf birgt: "Die Liebe in Zeiten des Mahlstädter Kindes" ist auch Literatur über Literatur.
Dabei zieht der achtundzwanzigjährige Österreicher alle Register literarischen Erzählens: Er weitet die Perspektive, zum Teil bis ins Unendliche, dann wieder drückt er rasant aufs Tempo, er findet phantastische Bilder und irreale Szenen, die von großer Könnerschaft zeugen. Seine Erzählung "Die Waage" wurde 2008 mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet. Doch manchmal schießt er auch übers Ziel hinaus: Da schreibt jemand mit dem unheimlichen Wahrnehmungsexzess E.T.A. Hoffmanns über Gestalten, die in kafkaesker Verwandlung begriffen sind, wie auf einem Trip in eine Parallelwelt à la Borges. Dieser Autor will viel, manchmal zu viel: Wenn ein Gelegenheitszauberer vorführt, was er so alles aus dem Hut hexen kann und mit was er zu jonglieren vermag, ist das zu oft mehr Handwerk als Kunst.
Auch gefallen sich einige der Miniaturen in der betont nüchternen, emotionslosen Beschreibung brutaler Gewalt. Da werden Kinder misshandelt und wird Mädchen die Unschuld geraubt, es werden im Gruppenverband schwache Männer sexuell gedemütigt oder gezwungen, Dreck vom Boden zu lecken. Da lässt sich eine junge Frau von ihrem Freund in einen Käfig sperren, und eine Prostituierte wird von einem sadistischen Ehepaar derart grausam gequält, dass die Lektüre schwerfällt. "Frederik war ein strenger Mensch. Er schlug seine Frau regelmäßig" - das ist so ein typischer Setz-Satz, oder: "Ich hatte Sarah nach der Vergewaltigung auf ihren eigenen Wunsch hin an einen Küchenstuhl gefesselt und war schlafen gegangen."
Dabei will Setz kein Protokollant menschlicher Abgründe à la Ferdinand von Schirach sein. Ihm geht es gerade nicht um simulierte Realität. Zwar steckt "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" voller selbstreferentieller Bezüge und intertextueller Anspielungen, ist der Band ein Abenteuerspielplatz für Germanisten. Das macht seinen Autor aber noch nicht zu einem deutschen Nachfolger von David Foster Wallace. Gleich zu Beginn taucht unter einem Bett eine blaue Kiste auf, in der es bedeutungsvoll rappelt: von der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars über ein Porträt des Elefantenmenschen Joseph Merrick bis zum brennenden Mädchen in Vietnam, einem Lampenschirm aus Buchenwald und der musikalischen Hölle von Hieronymus Bosch. Diese Liste ließe sich lang fortführen - und beliebig.
Subtil ist Clemens J. Setz nicht, will es wohl auch nicht sein. So wird das ewige "Rauf und runter" des Lebens nicht nur plakativ mit M.C. Eschers berühmtem Bild gleichen Namens bemüht, das hier als Poster an einer Wand hängt. Auch die uralte Metapher der conditio humana, das Rad der Fortuna nämlich, wird in der Erzählung "Das Riesenrad" arg strapaziert: In einem der Waggons der gigantischen Stahlkonstruktion am Stadtrand wohnt eine junge Frau, die offenkundig an Sozialphobie leidet. Außerdem hat sie Probleme mit dem Ausstieg aus ihrem kreisenden Wohnmodul, zumal wenn es gerade oben steht. Deshalb muss ein Mechaniker kommen, um ihren Steuerungskasten zu reparieren. Aber wie sich herausstellt, ist auch der Handwerksmeister nicht allmächtig: "Sein Gesichtsausdruck war grimmig. Er schien wütend auf sich selbst zu sein. Wahrscheinlich kam es nicht oft vor, dass er einen Auftrag nur zu Hälfte ausführen konnte."
SANDRA KEGEL
Clemens J. Setz: "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes". Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 350 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Clemens J. Setz wird als Junggenie der deutschen Literatur gefeiert. Sein Erzählungsband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes", der für den Leipziger Buchpreis nominiert ist, zaubert allerlei Phantastik aus dem Hut.
Der deutsche Literaturbetrieb hat ein neues Hoffnungskind und ist ganz entzückt über dieses früh berufene Genie. Kaum ein Superlativ, der nicht schon im Zusammenhang mit dem 1982 in Graz geborenen Wunderknaben Clemens J. Setz in die literarische Arena geworfen worden wäre. Der Germanist und Mathematiker, der sich von Suhrkamp, seinem neuen Verlag, im Klappentext nicht nur als Schriftsteller und Übersetzer, sondern auch als "Obertonsänger" und "Gelegenheitszauberer" ankündigen lässt, hatte in dem 2009 hochgelobten Roman "Die Frequenzen" auf siebenhundert Seiten das nicht eben einfache Väter-Söhne-Verhältnis behandelt. Nun hat das Vielfachtalent einen Band mit Erzählungen vorgelegt, der es in die Endrunde zum Preis der Leipziger Buchmesse geschafft hat. Gründe zuhauf, sich die achtzehn Geschichten des Bandes "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" anzuschauen.
Zweifellos erzählt hier ein literarisches Ich, das seine Mittel souverän und überraschend vielfältig einzusetzen versteht. Es weiß um die Unbehaustheit des modernen Menschen, wie schon die Erzählung "Mütter" zeigt. Da holen sich junge Männer als Muttis verkleidete Prostituierte ins Haus, um das Gefühl von Geborgenheit, wenn es nicht anders möglich ist, wenigstens gegen Bezahlung zu bekommen. In einer anderen Geschichte verliert eine höhere Angestellte den Anschluss an die Welt, nachdem ihre schicken Visitenkarten plötzlich von Schleim befallen werden. Nach und nach kommen die ansteckenden Geschwüre, die es vor allem auf Papier abgesehen haben, über ihre gesamte Habe. Bald kann Martina Keller vor Scham nicht mehr anders, als nur noch heimlich ihre Wohnung zu verlassen - um schließlich grausam Rache an der Welt zu nehmen. Die Titelgeschichte handelt von einer Plastik namens "Mahlstädter Kind", die der Künstler eigens dafür gestaltet hat, dass Betrachter die Lehmskulptur schlagen und treten, um sie so erst zu vollenden. Auf einer knappen Seite erzählt "Eine sehr kurze Geschichte", wie einem Mädchen Flügel wachsen, während Setz in "Kleine braune Tiere" dreißig Seiten lange Mutmaßungen über den Erfinder eines Computerspiels anstellt, das so anspruchsvoll konstruiert ist, dass niemand je die letzte Ebene erreicht. Natürlich kommt, wie es sich für postmodernes Erzählen gehört, auch ein Autor namens Clemens J. Setz vor - als weißhaariger Greis fristet er in einem Literaturarchiv sein Dasein. Und natürlich gilt auch für dieses Erzählwerk, dass es Metatexte zuhauf birgt: "Die Liebe in Zeiten des Mahlstädter Kindes" ist auch Literatur über Literatur.
Dabei zieht der achtundzwanzigjährige Österreicher alle Register literarischen Erzählens: Er weitet die Perspektive, zum Teil bis ins Unendliche, dann wieder drückt er rasant aufs Tempo, er findet phantastische Bilder und irreale Szenen, die von großer Könnerschaft zeugen. Seine Erzählung "Die Waage" wurde 2008 mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet. Doch manchmal schießt er auch übers Ziel hinaus: Da schreibt jemand mit dem unheimlichen Wahrnehmungsexzess E.T.A. Hoffmanns über Gestalten, die in kafkaesker Verwandlung begriffen sind, wie auf einem Trip in eine Parallelwelt à la Borges. Dieser Autor will viel, manchmal zu viel: Wenn ein Gelegenheitszauberer vorführt, was er so alles aus dem Hut hexen kann und mit was er zu jonglieren vermag, ist das zu oft mehr Handwerk als Kunst.
Auch gefallen sich einige der Miniaturen in der betont nüchternen, emotionslosen Beschreibung brutaler Gewalt. Da werden Kinder misshandelt und wird Mädchen die Unschuld geraubt, es werden im Gruppenverband schwache Männer sexuell gedemütigt oder gezwungen, Dreck vom Boden zu lecken. Da lässt sich eine junge Frau von ihrem Freund in einen Käfig sperren, und eine Prostituierte wird von einem sadistischen Ehepaar derart grausam gequält, dass die Lektüre schwerfällt. "Frederik war ein strenger Mensch. Er schlug seine Frau regelmäßig" - das ist so ein typischer Setz-Satz, oder: "Ich hatte Sarah nach der Vergewaltigung auf ihren eigenen Wunsch hin an einen Küchenstuhl gefesselt und war schlafen gegangen."
Dabei will Setz kein Protokollant menschlicher Abgründe à la Ferdinand von Schirach sein. Ihm geht es gerade nicht um simulierte Realität. Zwar steckt "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" voller selbstreferentieller Bezüge und intertextueller Anspielungen, ist der Band ein Abenteuerspielplatz für Germanisten. Das macht seinen Autor aber noch nicht zu einem deutschen Nachfolger von David Foster Wallace. Gleich zu Beginn taucht unter einem Bett eine blaue Kiste auf, in der es bedeutungsvoll rappelt: von der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars über ein Porträt des Elefantenmenschen Joseph Merrick bis zum brennenden Mädchen in Vietnam, einem Lampenschirm aus Buchenwald und der musikalischen Hölle von Hieronymus Bosch. Diese Liste ließe sich lang fortführen - und beliebig.
Subtil ist Clemens J. Setz nicht, will es wohl auch nicht sein. So wird das ewige "Rauf und runter" des Lebens nicht nur plakativ mit M.C. Eschers berühmtem Bild gleichen Namens bemüht, das hier als Poster an einer Wand hängt. Auch die uralte Metapher der conditio humana, das Rad der Fortuna nämlich, wird in der Erzählung "Das Riesenrad" arg strapaziert: In einem der Waggons der gigantischen Stahlkonstruktion am Stadtrand wohnt eine junge Frau, die offenkundig an Sozialphobie leidet. Außerdem hat sie Probleme mit dem Ausstieg aus ihrem kreisenden Wohnmodul, zumal wenn es gerade oben steht. Deshalb muss ein Mechaniker kommen, um ihren Steuerungskasten zu reparieren. Aber wie sich herausstellt, ist auch der Handwerksmeister nicht allmächtig: "Sein Gesichtsausdruck war grimmig. Er schien wütend auf sich selbst zu sein. Wahrscheinlich kam es nicht oft vor, dass er einen Auftrag nur zu Hälfte ausführen konnte."
SANDRA KEGEL
Clemens J. Setz: "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes". Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 350 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2011Da
rumort
ein Kind
Der junge Grazer Autor
Clemens J. Setz öffnet seine
Kiste voller Schreckensbilder
und erreicht das Erzähllevel
jenseits des Realismus
Von Lothar Müller
Seit der große Bruder ausgezogen ist, hat der Junge jede Nacht Albträume – und Angst einzuschlafen. Wenn gar nichts mehr hilft, holt er unter seinem Bett die blaue Kiste hervor. Darin bewahrt er seine Bildersammlung auf. Die Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars liegt darin neben dem Elefantenmenschen, vor dem Pestdoktor auf einem alten Stich liegt ein schwarzer Leichnam da „wie ein Büschel verbrannter Wolle“, vergreiste Elfen aus einem Kinderbuch, denen die Herzen als graue Pilze aus der Brust schlüpfen, gesellen sich zu einer Hölle von Hieronymus Bosch und ausrangierten Actionfiguren. Das sind seltsame Einschlafbilder, bestens geeignet, die Albträume hervorzurufen, denen der Junge zu entkommen sucht.
Der schlaflose Junge mit seiner blauen Kiste ist kein Unschuldslamm. Am Tag seiner ersten Kommunion wird er zum bösen Kind, zum gewalttätigen Peiniger seines sanft-wehrlosen Freundes. Und mit der Hostie treibt er seinen Schabernack. Diesen schlaflosen, bösen Jungen hat der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz erfunden und zur Portalfigur seines Erzählungsbandes „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ gemacht.
Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren, hat in seiner Heimatstadt Mathematik und Germanistik studiert. Der Selbstmörder, der in seinem Romandebüt „Söhne und Planeten“ (2007) im Konflikt mit dem Vater auf der Strecke blieb, ging nicht in den Himmel des Familienromans ein, und es stand nicht der psychologische Realismus trauernd an seinem Grabe. Er geriet vielmehr auf die Umlaufbahn im Kopf des Autors, der wie sein böses Kind über eine blaue Kiste voller Schreckensbilder verfügt, die mit einer Tonspur aus Filmen und Handys, Radios und Fernsehern unterlegt ist.
Als Sohn seiner Stadt hat Clemens J. Setz diese Kiste gefüllt. Sie enthält das Stimmengewirr der österreichischen Moderne, die in Graz eines ihrer Hauptquartiere aufschlug, als Peter Handke dort ins Kino ging, Alfred Kolleritsch die Zeitschrift manuskripte gründete. Setz, der Nachgeborene, hat nicht als Stimmenimitator der Literatur seinen Ton gefunden. Als er 2008 unter dem Titel „Der Mann aus dem Fegefeuer“ den Roman „Entering Hades“ des amerikanischen Autors John Leakes übersetzte. Der Serienmörder Jack Unterweger, von dem das Buch handelte, stammte aus der Steiermark und trieb sein Unwesen nicht in Amerika, sondern in Österreich, auch in Graz, wo er sich 1994 im Gefängnis erhängte, nachdem er zum zweiten Mal als Frauenmörder verurteilt worden war.
Während der Verbüßung seiner ersten Haftstraße hatte Unterweger zu schreiben begonnen und war durch seine Autobiographie („Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“) berühmt geworden. Zahlreiche österreichische Intellektuelle hatten sich dafür eingesetzt, dass er 1990 entlassen wurde, statt in Sicherungsverwahrung zu verbleiben. Kaum war er frei, begann er wieder zu morden.
Als Clemens J. Setz 2009 den Roman „Die Frequenzen“ veröffentlichte, war darin der Grazer Stadtpark ein Ort, an dem man mit Wiedergängern von Jack Unterweger rechnen musste. Eine Gewalttat, plötzlich hereinbrechend wie ein Verkehrsunfall, auf wackligen Handybildern festgehalten, ließ ihr Opfer im Koma zurück. Ein Höhepunkt des Romans war das „Solo für Nokia 6151“, in dem ein junger Mann mit Headset durch Graz läuft, aber nicht in ein Handy spricht. Sein Monolog, ein Delirium aus Wahrnehmungen und Gedanken, ließ die Stärke des Autors Setz erkennen: die Bilder und Töne seiner blauen Kiste in Sprache, in Prosa zu bannen.
In diesem neuen Erzählband gibt es eine Schlüsselgeschichte, „Kleine braune Tiere“. Sie stellt in Form eines fußnotengespickten Essays einen Nerd namens M.D. Regan vor, der ein undurchschaubares surreales Computerspiel entwickelt und sich dann umgebracht hat. Er ist noch mit den Spielen aus der Steinzeit des elektronischen Zeitalters aufgewachsen, mit Super Mario , Sokoban und Doom . Sein Nachlass enthält eine hinreißend komisch-exakte Beschreibung der herabfallenden Steine im Spiel Tetris .
Dieser Nerd ist das, was die Amerikaner „Omnivore“ nennen, einen Allesfresser. In seinem Universum gibt es keine Niveauunterschiede zwischen Trash und hoher Kunst. Im pornographischen Film einer amerikanischen „Extrem-Performerin“ will er die Stadien der Selbstaufgabe in der Tragödie „Antigone“ wiedererkennen. Die Figuren in Sokoban oder Super Mario sind für ihn Verwandte der bunten Kapuzenmänner, die in Samuel Becketts später TV-Sequenz „Quadrat 1+2“ in den immer gleichen Bewegungsabläufen über die Grundfläche huschen. Für sein eigenes Spiel hat er den Surrealismus geplündert.
Der Autor Clemens J. Setz ist ein Verwandter des fiktiven Nerd. Die Obsession aller Computerspiele, das Erreichen des nächsthöheren Levels ist in seine Erzählungen eingewandert. Das gilt vor allem dort, wo die Figuren die Grenze zur Lust an der Gewalt überschreiten wie der böse schlaflose Junge aus der ersten Erzählung, der seinen sanften Spielfreund quält, die Arbeitskollegen, die einen neuen Mitarbeiter erniedrigen oder das Paar, das Herr und Sklave spielt, nachdem die junge Frau einen Käfig erstanden hat.
Setz geht in den Clinch mit einem Urmodell des Voranschreitens von Level zu Level der Grausamkeit, dem Marquis de Sade. Er erfindet ein gebildetes Lehrerpaar, das seine physische Lust nach den Regeln des Marquis steigert und durch die Lust an der eigenen Amoral, an der Demütigung einer Hure und Zerstörung einer jungen Unschuld krönt – und zahlt für die Vorführung des abstoßenden Paares einen hohen Preis. Er opfert in dieser Rollenprosa seine eigene Sprache, die doch das Zeug zur Unruhestifterin und ironischen Vernichterin hätte, dem biederen Realismus landläufiger, leicht anklickbarer Pornographie.
Immer dann gelingen Setz seine Grotesken, wenn er zur eigenen Sprache, zur eigenen Spielanleitung findet. David Lynch, dessen Filme – „Der Elefantenmensch“, „Eraserhead“, „Blue Velvet“ – sich in der blauen Setz-Kiste über Kafkas „Verwandlung“ und „Strafkolonie“ und seinen abgründigen Satz „Das Böse ist der Sternhimmel des Guten“ legen, steht dabei eher im Weg, gerade weil die Geschichte von den Visitenkarten, über die sich schwärende Pusteln legen und als ansteckende Krankheit verbreiten, wie eine Lynch-Paraphrase wirken.
Wie freischwebend wirkt demgegenüber die kleine Erzählung, in der ein Musikliebhaber auf einen Planeten ausgewandert ist, um einen musikempfänglichen Roboter zu basteln. Der extraterrestrische Plot ist hier nur die Rampe für einen Prosaflug über die zurückgelassenen alteuropäischen Städte und die Musik ihrer Glocken: „in Krisenzeiten klangen sie anders, wälzten sich unruhiger von der einen auf die andere Seite, wie Schläfer mit schrecklichen Träumen.“ In einer anderen Erzählung wird derweil ein Dichter in der Kapelle, in der seine tote Mutter aufgebahrt ist, zur Spukgestalt.
Eine große alte Waage, die plötzlich im Hof steht, greift umso unwiderstehlicher ins Leben eines Paares ein, je weniger die Erzählung sie mit symbolischem Gewicht ausstattet. Und in einer Coming-of-Age-Geschichte wird die plötzlich einsetzende Empfindlichkeit gegenüber dem sexuellen Zynismus ganz ohne moralischen Zeigefinger zum Zeichen des Erwachsenwerdens.
Seltsame surrealistische Kisten sind die „boxes“ des amerikanischen Bildhauers Joseph Cornell, denen der amerikanische Autor Robert Coover einen schmalen Prosaband gewidmet. In der Titelgeschichte seines Bandes zitiert Setz daraus: „ich schlief in einem der kleinen hotels / aus den Kästen Joseph Cornells.“ „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ handelt von einer Skulptur. Sie ist aus Lehm und sehr weich, sehr formbar, ein interaktives Kunstwerk, das mit Schlägen, Tritten oder Werkzeugen aller Art „in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes“ gebracht werden soll.
Noch schwankt Clemens J. Setz bei seiner Suche nach einer surrealistisch gefärbten deutschen Prosa, und manchmal stürzt er ab. Aber eines hat er schon erreicht: Man spürt, dass in seiner blauen Kiste ein leibhaftiges Kind rumort.
Gleichen die Figuren in Sokoban
nicht den Kapuzenmännern im
TV-Clip von Samuel Beckett?
„In Krisenzeiten wälzten sich
die Glocken unruhiger von
der einen auf die andere Seite“
Aus Fundstücken eine Guckkastenbühne der Kindheit bauen: Box aus dem „Soap Bubble Set“ (1949) des Bildhauers Joseph Cornell (1903-72) Foto: bridgemanart/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
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rumort
ein Kind
Der junge Grazer Autor
Clemens J. Setz öffnet seine
Kiste voller Schreckensbilder
und erreicht das Erzähllevel
jenseits des Realismus
Von Lothar Müller
Seit der große Bruder ausgezogen ist, hat der Junge jede Nacht Albträume – und Angst einzuschlafen. Wenn gar nichts mehr hilft, holt er unter seinem Bett die blaue Kiste hervor. Darin bewahrt er seine Bildersammlung auf. Die Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars liegt darin neben dem Elefantenmenschen, vor dem Pestdoktor auf einem alten Stich liegt ein schwarzer Leichnam da „wie ein Büschel verbrannter Wolle“, vergreiste Elfen aus einem Kinderbuch, denen die Herzen als graue Pilze aus der Brust schlüpfen, gesellen sich zu einer Hölle von Hieronymus Bosch und ausrangierten Actionfiguren. Das sind seltsame Einschlafbilder, bestens geeignet, die Albträume hervorzurufen, denen der Junge zu entkommen sucht.
Der schlaflose Junge mit seiner blauen Kiste ist kein Unschuldslamm. Am Tag seiner ersten Kommunion wird er zum bösen Kind, zum gewalttätigen Peiniger seines sanft-wehrlosen Freundes. Und mit der Hostie treibt er seinen Schabernack. Diesen schlaflosen, bösen Jungen hat der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz erfunden und zur Portalfigur seines Erzählungsbandes „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ gemacht.
Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren, hat in seiner Heimatstadt Mathematik und Germanistik studiert. Der Selbstmörder, der in seinem Romandebüt „Söhne und Planeten“ (2007) im Konflikt mit dem Vater auf der Strecke blieb, ging nicht in den Himmel des Familienromans ein, und es stand nicht der psychologische Realismus trauernd an seinem Grabe. Er geriet vielmehr auf die Umlaufbahn im Kopf des Autors, der wie sein böses Kind über eine blaue Kiste voller Schreckensbilder verfügt, die mit einer Tonspur aus Filmen und Handys, Radios und Fernsehern unterlegt ist.
Als Sohn seiner Stadt hat Clemens J. Setz diese Kiste gefüllt. Sie enthält das Stimmengewirr der österreichischen Moderne, die in Graz eines ihrer Hauptquartiere aufschlug, als Peter Handke dort ins Kino ging, Alfred Kolleritsch die Zeitschrift manuskripte gründete. Setz, der Nachgeborene, hat nicht als Stimmenimitator der Literatur seinen Ton gefunden. Als er 2008 unter dem Titel „Der Mann aus dem Fegefeuer“ den Roman „Entering Hades“ des amerikanischen Autors John Leakes übersetzte. Der Serienmörder Jack Unterweger, von dem das Buch handelte, stammte aus der Steiermark und trieb sein Unwesen nicht in Amerika, sondern in Österreich, auch in Graz, wo er sich 1994 im Gefängnis erhängte, nachdem er zum zweiten Mal als Frauenmörder verurteilt worden war.
Während der Verbüßung seiner ersten Haftstraße hatte Unterweger zu schreiben begonnen und war durch seine Autobiographie („Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“) berühmt geworden. Zahlreiche österreichische Intellektuelle hatten sich dafür eingesetzt, dass er 1990 entlassen wurde, statt in Sicherungsverwahrung zu verbleiben. Kaum war er frei, begann er wieder zu morden.
Als Clemens J. Setz 2009 den Roman „Die Frequenzen“ veröffentlichte, war darin der Grazer Stadtpark ein Ort, an dem man mit Wiedergängern von Jack Unterweger rechnen musste. Eine Gewalttat, plötzlich hereinbrechend wie ein Verkehrsunfall, auf wackligen Handybildern festgehalten, ließ ihr Opfer im Koma zurück. Ein Höhepunkt des Romans war das „Solo für Nokia 6151“, in dem ein junger Mann mit Headset durch Graz läuft, aber nicht in ein Handy spricht. Sein Monolog, ein Delirium aus Wahrnehmungen und Gedanken, ließ die Stärke des Autors Setz erkennen: die Bilder und Töne seiner blauen Kiste in Sprache, in Prosa zu bannen.
In diesem neuen Erzählband gibt es eine Schlüsselgeschichte, „Kleine braune Tiere“. Sie stellt in Form eines fußnotengespickten Essays einen Nerd namens M.D. Regan vor, der ein undurchschaubares surreales Computerspiel entwickelt und sich dann umgebracht hat. Er ist noch mit den Spielen aus der Steinzeit des elektronischen Zeitalters aufgewachsen, mit Super Mario , Sokoban und Doom . Sein Nachlass enthält eine hinreißend komisch-exakte Beschreibung der herabfallenden Steine im Spiel Tetris .
Dieser Nerd ist das, was die Amerikaner „Omnivore“ nennen, einen Allesfresser. In seinem Universum gibt es keine Niveauunterschiede zwischen Trash und hoher Kunst. Im pornographischen Film einer amerikanischen „Extrem-Performerin“ will er die Stadien der Selbstaufgabe in der Tragödie „Antigone“ wiedererkennen. Die Figuren in Sokoban oder Super Mario sind für ihn Verwandte der bunten Kapuzenmänner, die in Samuel Becketts später TV-Sequenz „Quadrat 1+2“ in den immer gleichen Bewegungsabläufen über die Grundfläche huschen. Für sein eigenes Spiel hat er den Surrealismus geplündert.
Der Autor Clemens J. Setz ist ein Verwandter des fiktiven Nerd. Die Obsession aller Computerspiele, das Erreichen des nächsthöheren Levels ist in seine Erzählungen eingewandert. Das gilt vor allem dort, wo die Figuren die Grenze zur Lust an der Gewalt überschreiten wie der böse schlaflose Junge aus der ersten Erzählung, der seinen sanften Spielfreund quält, die Arbeitskollegen, die einen neuen Mitarbeiter erniedrigen oder das Paar, das Herr und Sklave spielt, nachdem die junge Frau einen Käfig erstanden hat.
Setz geht in den Clinch mit einem Urmodell des Voranschreitens von Level zu Level der Grausamkeit, dem Marquis de Sade. Er erfindet ein gebildetes Lehrerpaar, das seine physische Lust nach den Regeln des Marquis steigert und durch die Lust an der eigenen Amoral, an der Demütigung einer Hure und Zerstörung einer jungen Unschuld krönt – und zahlt für die Vorführung des abstoßenden Paares einen hohen Preis. Er opfert in dieser Rollenprosa seine eigene Sprache, die doch das Zeug zur Unruhestifterin und ironischen Vernichterin hätte, dem biederen Realismus landläufiger, leicht anklickbarer Pornographie.
Immer dann gelingen Setz seine Grotesken, wenn er zur eigenen Sprache, zur eigenen Spielanleitung findet. David Lynch, dessen Filme – „Der Elefantenmensch“, „Eraserhead“, „Blue Velvet“ – sich in der blauen Setz-Kiste über Kafkas „Verwandlung“ und „Strafkolonie“ und seinen abgründigen Satz „Das Böse ist der Sternhimmel des Guten“ legen, steht dabei eher im Weg, gerade weil die Geschichte von den Visitenkarten, über die sich schwärende Pusteln legen und als ansteckende Krankheit verbreiten, wie eine Lynch-Paraphrase wirken.
Wie freischwebend wirkt demgegenüber die kleine Erzählung, in der ein Musikliebhaber auf einen Planeten ausgewandert ist, um einen musikempfänglichen Roboter zu basteln. Der extraterrestrische Plot ist hier nur die Rampe für einen Prosaflug über die zurückgelassenen alteuropäischen Städte und die Musik ihrer Glocken: „in Krisenzeiten klangen sie anders, wälzten sich unruhiger von der einen auf die andere Seite, wie Schläfer mit schrecklichen Träumen.“ In einer anderen Erzählung wird derweil ein Dichter in der Kapelle, in der seine tote Mutter aufgebahrt ist, zur Spukgestalt.
Eine große alte Waage, die plötzlich im Hof steht, greift umso unwiderstehlicher ins Leben eines Paares ein, je weniger die Erzählung sie mit symbolischem Gewicht ausstattet. Und in einer Coming-of-Age-Geschichte wird die plötzlich einsetzende Empfindlichkeit gegenüber dem sexuellen Zynismus ganz ohne moralischen Zeigefinger zum Zeichen des Erwachsenwerdens.
Seltsame surrealistische Kisten sind die „boxes“ des amerikanischen Bildhauers Joseph Cornell, denen der amerikanische Autor Robert Coover einen schmalen Prosaband gewidmet. In der Titelgeschichte seines Bandes zitiert Setz daraus: „ich schlief in einem der kleinen hotels / aus den Kästen Joseph Cornells.“ „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ handelt von einer Skulptur. Sie ist aus Lehm und sehr weich, sehr formbar, ein interaktives Kunstwerk, das mit Schlägen, Tritten oder Werkzeugen aller Art „in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes“ gebracht werden soll.
Noch schwankt Clemens J. Setz bei seiner Suche nach einer surrealistisch gefärbten deutschen Prosa, und manchmal stürzt er ab. Aber eines hat er schon erreicht: Man spürt, dass in seiner blauen Kiste ein leibhaftiges Kind rumort.
Gleichen die Figuren in Sokoban
nicht den Kapuzenmännern im
TV-Clip von Samuel Beckett?
„In Krisenzeiten wälzten sich
die Glocken unruhiger von
der einen auf die andere Seite“
Aus Fundstücken eine Guckkastenbühne der Kindheit bauen: Box aus dem „Soap Bubble Set“ (1949) des Bildhauers Joseph Cornell (1903-72) Foto: bridgemanart/VG Bild-Kunst, Bonn 2011
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Wie Iris Radisch findet auch Insa Wilke, dass es dem Autor mit seinen noch nicht mal dreißig Jahren an Reife fehlt. Wie Radisch erkennt sie aber das Potenzial bei Clemens J. Setz. Soll heißen, für den Leipziger Buchpreis ist es vielleicht noch ein bisschen zu früh. Was die versammelten Erzählungen anbetrifft, hätte sich Wilke vorstellen können, dass sich das Niveau durch geschicktere Auswahl hätte heben lassen. Mancher eher konventionell erzählter oder von schwacher Motivik notdürftig gehaltener Geschichte, denkt sie, hätte es nicht bedurft. So wie er ist, erscheint ihr der Band aber mit seinen Ausflügen in die Welt des alltäglichen Grauens, der sexuellen Exzesse und kindlichen Gewaltfantasien eben doch als Indiz einer erst noch zu erlangenden Meisterschaft, gerade weil der Autor ziemlich hoch pokert, mit seinen Kleist-Referenzen etwa. Vor allem anhand sprachlicher Ungenauigkeiten, einem Haufen schiefer Bilder etwa kann Wilke dem Autor seine "Jugendlichkeit" nachweisen. Ein etwas achtloses Zielen auf den Effekt, findet sie, eine Lust am Bild, positiv gesprochen, aber eine nicht ganz sauber ausgeführte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»J. Setz' 18 Geschichten kommen scheinbar harmlos daher ... und entwickeln dann ... eine Grausamkeit, auf die man jedes Mal von Neuem nicht gefasst ist.« Julia Encke Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20110313
»Da wagt einer das radikale Gegenprogramm zur hübsch verkasteten Literaturwerkstättenliteratur, bricht dunkle Lieder pfeifend aus den literarischen Reihenhaussiedlungen aus.«