New England im 19. Jahrhundert: Der Waisenjunge Ren ist überglücklich, als plötzlich ein junger Mann in seinem Heim auftaucht, der behauptet, sein Bruder zu sein. Der Fremde nimmt ihn mit und entführt ihn in eine abenteuerliche Welt von Gaunern, Trickdieben und Grabräubern.
Ren, ein zwölfjähriger Junge, ist in St. Anthony s aufgewachsen, einem kirchlichen Waisenhaus für Arme in New England, wo er als Säugling »abgegeben« wurde. Seit seiner Kindheit fehlt ihm die linke Hand. Er weiß nicht, was mit ihm passiert ist, auch nicht, woher er kommt oder wer seine Eltern sind. Als plötzlich Benjamin Nab auftaucht, ein junger Mann, der behauptet, sein Bruder zu sein, tut sich für Ren eine neue Welt auf. Benjamin führt Ren in seine Bande von Gaunern und Trickdieben ein, die auch als »Körperjäger« arbeiten: Sie stehlen nachts frisch beerdigte Leichen vom Friedhof und verkaufen sie zu medizinischen Forschungszwecken an Krankenhäuser. Trotz seines schlechten Gewissens findet Ren Gefallen an diesem freien Vagabundenleben, er lernt neue Freunde kennen, darunter einen Mörder und einen Zwerg, zieht mit seinen Gefährten über Farmland, durch Küstenstädte und erste Fabriksiedlungen, stets auf der Flucht. Doch ist Benjamin wirklich der, als der er sich ausgibt? Oder ist er einfach nur ein begnadeter Schwindler? Allmählich ahnt Ren, dass sein neuer Freund mehr über seine eigene Vergangenheit weiß, als er zugibt
Ren, ein zwölfjähriger Junge, ist in St. Anthony s aufgewachsen, einem kirchlichen Waisenhaus für Arme in New England, wo er als Säugling »abgegeben« wurde. Seit seiner Kindheit fehlt ihm die linke Hand. Er weiß nicht, was mit ihm passiert ist, auch nicht, woher er kommt oder wer seine Eltern sind. Als plötzlich Benjamin Nab auftaucht, ein junger Mann, der behauptet, sein Bruder zu sein, tut sich für Ren eine neue Welt auf. Benjamin führt Ren in seine Bande von Gaunern und Trickdieben ein, die auch als »Körperjäger« arbeiten: Sie stehlen nachts frisch beerdigte Leichen vom Friedhof und verkaufen sie zu medizinischen Forschungszwecken an Krankenhäuser. Trotz seines schlechten Gewissens findet Ren Gefallen an diesem freien Vagabundenleben, er lernt neue Freunde kennen, darunter einen Mörder und einen Zwerg, zieht mit seinen Gefährten über Farmland, durch Küstenstädte und erste Fabriksiedlungen, stets auf der Flucht. Doch ist Benjamin wirklich der, als der er sich ausgibt? Oder ist er einfach nur ein begnadeter Schwindler? Allmählich ahnt Ren, dass sein neuer Freund mehr über seine eigene Vergangenheit weiß, als er zugibt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2009Oliver Twist in der Falle
Barmherzige Schwestern und bigotte Patres: Hannah Tintis Waisenkindgeschichte "Die linke Hand" versucht vergeblich, an die Sozial- und Abenteuerromane des neunzehnten Jahrhunderts anzuknüpfen.
Ren wurde als Kind durch die Säuglingsklappe des katholischen Waisenhauses St. Anthony geschoben. Der heilige Antonius ist der Schutzpatron der verlorenen Sachen, und dazu gehört auch die linke Hand, die dem Bastard gleich nach der Geburt ruchlos abgetrennt und in einem Zauberwürfel konserviert wurde. Bevor der verlorene Sohn seine verlorene Hand und seinen Vater wiederfindet, muss er den mit guten Vorsätzen und grotesken Figuren gepflasterten Leidensweg eines Dickens-Waisenkindes bis zum bitteren Ende abschreiten: Prügel, Lieblosigkeit, Hunger, Elend, Amputationen ohne Narkose. Dunkle Kaschemmen, Krankenhäuser und Fabriken sind seine Schulzimmer, Gauner, Diebe und Säufer seine Erzieher: Ren glaubt unbeirrt an das Wunder, aber er bekommt von seinem Wohltäter, einem herumziehenden Quacksalber, nur die "Opiumtinktur für unartige Kinder" oder bestenfalls "Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume".
Benjamin Nab, der Ren vor dem Prügelschemel der Patres, einem Los als Soldat oder skalpierter Siedler rettete, entpuppt sich rasch als notorischer Lügner, Dieb und Leichenfledderer. In einem der Gräber, die der Tunichtgut zusammen mit seinem Komplizen Tom in Doktor Miltons Auftrag aushebt, liegt Dolly, lebendig begraben in seinem violetten Anzug: Der von den Toten auferstandene gutmütige Riese nimmt Ren unter seine Fittiche und lässt seinetwegen sogar von seinem bösen Tun als Auftragskiller ab. Die Ersatzmutter der Kinder, eine rauhe, aber herzliche Pensionswirtin, hält sich, vermutlich aus Gründen der Symmetrie, einen buckligen Zwerg, der nachts durch den Kamin in ihre Küche klettert. Tom wiederum, der verkommene Lehrer, entwickelt eine väterliche Zuneigung zu Rens Freunden Brom und Ichy.
North Umbrage, das schmutzig graue Hafendorf in Neuengland, ist voll bizarrer Patchworkfamilien und schaurig missgebildeter Kreaturen: Alle sind mit Gebresten und exzentrischen Tics geschlagen, gefühlsamputiert und immer auf der Suche nach Geborgenheit und elterlicher Zuneigung. König im Reich des Bösen ist ein ehemaliger Rattenfänger, der seinem Neffen Ren einst die linke Hand abschnitt und heute in seiner Mausefallenfabrik hasenschartige Mädchen zu Krüppeln macht und die Stadt mit seiner Reitermiliz terrorisiert. Nachdem alle Missetaten gesühnt und alle offenen Wunden vernarbt sind, findet Ren auch noch seinen Vater, wenn auch nur, um ihn gleich wieder zu verlieren. Aber der aufgeweckte Junge ist durch Verluste, Elend und Wunder längst so weit gereift, dass er sein Leben nun auch ohne die Linke meistern kann.
Barmherzige Schwestern und bigotte Patres, die arme Waisenkinder mit der Rute und frommen Sprüchen traktieren; hartherzige Fabrikherren, die sie als Arbeitssklaven und gern auch sexuell missbrauchen; verschrobene Matronen, die Findelkinder des Unglücks an ihren weichherzigen Busen drücken, und am Ende, nach einer Odyssee durch alle Höllen schwarzer Pädagogik, wunderbare Errettungen, unverhoffte Erbschaften und herzergreifende Familienzusammenführungen: Was die junge New Yorker Autorin Hannah Tinti, viel gefeiert für ihren Erzählband "Tanz der Tiere", in ihrem ersten Roman auffährt, erinnert stark an Dickens-Romane wie "Oliver Twist" oder "David Copperfield".
"Die linke Hand" ist kein rasant und vital erzählter "Slumdog Millionaire", sondern der gescheiterte Versuch, die Sozial-, Abenteuer- und Coming-of-Age-Romane des frühen neunzehnten Jahrhunderts durch behäbige Mimikry von den Toten aufzuerwecken. Die "ungeschminkte soziale Realität" ist eingebettet in betuliche Heiligenlegenden, Märchenmotive und makabren Humor. Die Springteufel, Hexen und guten Feen, die in dieser düsteren Spielzeugwelt leben, sind so leblos wie die von Spinnweb überzogenen Mumien, Wachspuppen, in Paraffin eingelegten und ausgestopften Missgeburten einer viktorianischen Rumpelwunderkammer.
Tinti, in der Hexenstadt Salem mit Grimms Märchen aufgewachsen, kann den Grusel- und Märchenton der alten Vorlagen perfekt imitieren: Die Achterbahnfahrten des Schicksals auf dem Rummelplatz des Frühkapitalismus enden stilecht in einem leicht verkitschten Happy End. Nur eines fehlt diesem Waisenkindroman: die Seele, wenigstens ein Muster, das diesen Flickenteppich aus Secondhand-Fummeln strukturieren könnte. Tinti gräbt bei Dickens, Robert Louis Stevensons "Leichenräubern" und natürlich auch bei Huckleberry Finn und Tom Sawyer. Sie flickt die ausgebuddelten Leichenteile mit gemütlicher Brutalität, biederen Merksprüchen und sentimentalem Kitt zusammen, steckt sie in abenteuerliche Kostüme und nostalgische Kulissen, aber ihre "Linke Hand" bleibt doch nur ein an Leib und Seele amputiertes Frankenstein-Monster.
MARTIN HALTER
Hannah Tinti: "Die linke Hand". Roman. Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler. Luchterhand Verlag, München 2009., 367 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Barmherzige Schwestern und bigotte Patres: Hannah Tintis Waisenkindgeschichte "Die linke Hand" versucht vergeblich, an die Sozial- und Abenteuerromane des neunzehnten Jahrhunderts anzuknüpfen.
Ren wurde als Kind durch die Säuglingsklappe des katholischen Waisenhauses St. Anthony geschoben. Der heilige Antonius ist der Schutzpatron der verlorenen Sachen, und dazu gehört auch die linke Hand, die dem Bastard gleich nach der Geburt ruchlos abgetrennt und in einem Zauberwürfel konserviert wurde. Bevor der verlorene Sohn seine verlorene Hand und seinen Vater wiederfindet, muss er den mit guten Vorsätzen und grotesken Figuren gepflasterten Leidensweg eines Dickens-Waisenkindes bis zum bitteren Ende abschreiten: Prügel, Lieblosigkeit, Hunger, Elend, Amputationen ohne Narkose. Dunkle Kaschemmen, Krankenhäuser und Fabriken sind seine Schulzimmer, Gauner, Diebe und Säufer seine Erzieher: Ren glaubt unbeirrt an das Wunder, aber er bekommt von seinem Wohltäter, einem herumziehenden Quacksalber, nur die "Opiumtinktur für unartige Kinder" oder bestenfalls "Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume".
Benjamin Nab, der Ren vor dem Prügelschemel der Patres, einem Los als Soldat oder skalpierter Siedler rettete, entpuppt sich rasch als notorischer Lügner, Dieb und Leichenfledderer. In einem der Gräber, die der Tunichtgut zusammen mit seinem Komplizen Tom in Doktor Miltons Auftrag aushebt, liegt Dolly, lebendig begraben in seinem violetten Anzug: Der von den Toten auferstandene gutmütige Riese nimmt Ren unter seine Fittiche und lässt seinetwegen sogar von seinem bösen Tun als Auftragskiller ab. Die Ersatzmutter der Kinder, eine rauhe, aber herzliche Pensionswirtin, hält sich, vermutlich aus Gründen der Symmetrie, einen buckligen Zwerg, der nachts durch den Kamin in ihre Küche klettert. Tom wiederum, der verkommene Lehrer, entwickelt eine väterliche Zuneigung zu Rens Freunden Brom und Ichy.
North Umbrage, das schmutzig graue Hafendorf in Neuengland, ist voll bizarrer Patchworkfamilien und schaurig missgebildeter Kreaturen: Alle sind mit Gebresten und exzentrischen Tics geschlagen, gefühlsamputiert und immer auf der Suche nach Geborgenheit und elterlicher Zuneigung. König im Reich des Bösen ist ein ehemaliger Rattenfänger, der seinem Neffen Ren einst die linke Hand abschnitt und heute in seiner Mausefallenfabrik hasenschartige Mädchen zu Krüppeln macht und die Stadt mit seiner Reitermiliz terrorisiert. Nachdem alle Missetaten gesühnt und alle offenen Wunden vernarbt sind, findet Ren auch noch seinen Vater, wenn auch nur, um ihn gleich wieder zu verlieren. Aber der aufgeweckte Junge ist durch Verluste, Elend und Wunder längst so weit gereift, dass er sein Leben nun auch ohne die Linke meistern kann.
Barmherzige Schwestern und bigotte Patres, die arme Waisenkinder mit der Rute und frommen Sprüchen traktieren; hartherzige Fabrikherren, die sie als Arbeitssklaven und gern auch sexuell missbrauchen; verschrobene Matronen, die Findelkinder des Unglücks an ihren weichherzigen Busen drücken, und am Ende, nach einer Odyssee durch alle Höllen schwarzer Pädagogik, wunderbare Errettungen, unverhoffte Erbschaften und herzergreifende Familienzusammenführungen: Was die junge New Yorker Autorin Hannah Tinti, viel gefeiert für ihren Erzählband "Tanz der Tiere", in ihrem ersten Roman auffährt, erinnert stark an Dickens-Romane wie "Oliver Twist" oder "David Copperfield".
"Die linke Hand" ist kein rasant und vital erzählter "Slumdog Millionaire", sondern der gescheiterte Versuch, die Sozial-, Abenteuer- und Coming-of-Age-Romane des frühen neunzehnten Jahrhunderts durch behäbige Mimikry von den Toten aufzuerwecken. Die "ungeschminkte soziale Realität" ist eingebettet in betuliche Heiligenlegenden, Märchenmotive und makabren Humor. Die Springteufel, Hexen und guten Feen, die in dieser düsteren Spielzeugwelt leben, sind so leblos wie die von Spinnweb überzogenen Mumien, Wachspuppen, in Paraffin eingelegten und ausgestopften Missgeburten einer viktorianischen Rumpelwunderkammer.
Tinti, in der Hexenstadt Salem mit Grimms Märchen aufgewachsen, kann den Grusel- und Märchenton der alten Vorlagen perfekt imitieren: Die Achterbahnfahrten des Schicksals auf dem Rummelplatz des Frühkapitalismus enden stilecht in einem leicht verkitschten Happy End. Nur eines fehlt diesem Waisenkindroman: die Seele, wenigstens ein Muster, das diesen Flickenteppich aus Secondhand-Fummeln strukturieren könnte. Tinti gräbt bei Dickens, Robert Louis Stevensons "Leichenräubern" und natürlich auch bei Huckleberry Finn und Tom Sawyer. Sie flickt die ausgebuddelten Leichenteile mit gemütlicher Brutalität, biederen Merksprüchen und sentimentalem Kitt zusammen, steckt sie in abenteuerliche Kostüme und nostalgische Kulissen, aber ihre "Linke Hand" bleibt doch nur ein an Leib und Seele amputiertes Frankenstein-Monster.
MARTIN HALTER
Hannah Tinti: "Die linke Hand". Roman. Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler. Luchterhand Verlag, München 2009., 367 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht erwärmen kann sich Rezensent Martin Halter für Hannah Tintis Waisenkinderroman "Die linke Hand". Er sieht in der an skurrilen Figuren reichen Geschichte um den Leidensweg des Waisen Ren den Versuch, die großen Sozial- und Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts von Charles Dickens über Robert Louis Stevensons bis Mark Twain zu reanimieren. Ein Versuch, der nach Ansicht Halters allerdings misslungen ist. Zwar fühlt er sich immer wieder an die genannten Autoren erinnert. Auch bescheinigt er Tinti, den "Grusel- und Märchenton" der Vorbilder "perfekt" nachzuahmen. Aber dem Roman fehlt in seinen Augen die "Seele" oder wenigstens ein "Muster", das dem Ganzen eine Struktur geben könnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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