Sofia liebt Listen - Listen von Schokoladensorten oder peinlichen Hundenamen. Diese Sammlungen bringen Ordnung in ihr Leben: An das Dasein als Mutter hat Sofia sich noch nicht gewöhnt, ihre Großmutter dämmert dement vor sich hin, und auch sonst läuft wenig rund. Eines Tages macht Sofia in der großmütterlichen Wohnung eine Entdeckung: eine andere Listensammlung, in kyrillischer Schrift - die Familie hat in den Siebzigern die Sowjetunion verlassen. Über diesen Fund stößt Sofia auf einen geheimnisvollen Onkel: ein lustiger, schräger Querkopf, der sich aber auch im Untergrund betätigt hat. Sofie spürt Onkel Grischas dunkler Geschichte nach und entdeckt, was die Vergangenheit für sie bedeutet.
Ein in jeder Hinsicht umwerfender Roman NZZ am Sonntag
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.09.2013Familienalbum
Lena Goreliks neuer Roman
„Die Listensammlerin“
Kinder erschaffen sich irgendwann diese schillernden Wunschphantasien, wenn sie sich von der Familie unverstanden und alleingelassen fühlen. Selbst später lässt es einen nie ganz los: Das trotzige Traumbild vom sprichwörtlichen Onkel aus Amerika – wahlweise auch der Hippietante aus Portugal –, der oder die eines Tages unverhofft und seltsam fremdvertraut vor der Tür steht und die kleine miefige Welt zur großen, weiten Welt hin öffnet. Er taucht aber nicht auf, nicht in echt und auch nicht im neuen Roman der 32-jährigen Münchner Autorin Lena Gorelik „Die Listensammlerin“. Allerdings stößt die Hauptfigur Sofia darin unerwartet auf die Spur eines unbekannten Verwandten aus der Sowjetunion: Grischa, ein charmanter, eigenwilliger Querkopf, der ausgerechnet den gleichen Spleen hatte wie sie selbst: Listen schreiben.
Sofias eigene Listen tragen Titel wie „seltsame religiöse Rituale“, „skurrile Charakterzüge in meinem Umfeld“, „typische Großmuttersätze“ oder „wenn wir in einem Hollywoodfilm wären“. Die Welt in Listen zu ordnen, das schafft Struktur, bannt Ängste, und es lenkt die junge Autorin und Mutter von ihrer Schreibblockade ab. Es hilft aber auch im täglichen Kampf mit dem Selbstbild, etwa wenn Sofia dort Sätze sammelt, die sie nie hatte sagen wollen, jetzt aber sagt, wie „Ich muss nach Hause, der Babysitter wartet“ oder „Ach ja, früher sind wir auch so viel gereist“.
Beim Entrümpeln der Wohnung ihrer dementen Großmutter stößt Sofia dann auf eine Schachtel voller Papiere, sorgfältig in Kyrillisch beschriebene Seiten, Onkel Grischas Listen: Sie heißen „Männer mit schönen Händen“, „Amerika“, „Szenen für ein Buch“ oder „Was ich Mama wünsche“, Punkt eins: „einen anderen Sohn (an meiner Stelle)“. Entlang dieser gemeinsamen, vom jeweiligen Umfeld misstrauisch beäugten Alltags-Bewältigungsstrategie entwickelt Lena Gorelik zwei ineinander verwobene Geschichten.
Da ist zum einen Sofias Ich-Erzählung, die sich nur zaghaft durch das heutige München vorantastet, ständig gebremst durch die drückende Angst vor der anstehenden Herz-OP ihrer Tochter Anna. Der zweite Erzählstrang springt zurück in die Jugendzeit von Sofias Mutter in der Sowjetunion, genauer zu deren Bruder Grischa und zu der Frage, warum der ehemalige Liebling der Familie heute totgeschwiegen wird. Diese Geschichte eines für immer Abwesenden kann nur in der dritten Person erzählt werden, drängt aber umso lebhafter voran, immer dicht auf den Fersen des umtriebigen und wenig systemkompatiblen Studenten. Grischa stellt Fragen, die sonst keiner stellt. Er verliebt sich in einen Mann, eine Liebe, die beide nicht zu leben wagen. Und er schließt sich einer oppositionellen Gruppe an, drängt zur Tat, beschließt, die Missstände in einem Krankenhaus öffentlich zu machen. An dieser Stelle freilich wird die Geschichte in ihrem Horror seltsam klischeehaft, was eher irritiert als berührt.
Es ist weniger die Story, die das fünfte Buch von Lena Gorelik lesenswert macht, als der präzise Stil, die Art, wie die Autorin ihre Figuren zeichnet: als Menschen, die von der eigenen Wut, dem eigenen Verlangen und dem eigenen analytischen Blick auf die Welt überfordert sind. Dabei ist hinter den abgeklärt rotzigen Beobachtungen immer ein klar parteiisches Mitfühlen spürbar, ohne sentimental zu werden. Wie nebenbei entsteht so eine Diagnose der seltsamen Zustände, in denen wir leben und die wir selbst mitverantworten. Sucht man darin Halt, findet man nur Sätze aus der Großmutter-Liste, wie diesen: „Schmerz ist Schmerz, deswegen tut er weh.“
CORNELIA FIEDLER
Lena Gorelik: Die Listensammlerin. Roman. Rowohlt Berlin 2013. 352 Seiten, 19,95 Euro.
Ihren Spleen teilt die Erzählerin
mit dem totgeschwiegenen Onkel
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lena Goreliks neuer Roman
„Die Listensammlerin“
Kinder erschaffen sich irgendwann diese schillernden Wunschphantasien, wenn sie sich von der Familie unverstanden und alleingelassen fühlen. Selbst später lässt es einen nie ganz los: Das trotzige Traumbild vom sprichwörtlichen Onkel aus Amerika – wahlweise auch der Hippietante aus Portugal –, der oder die eines Tages unverhofft und seltsam fremdvertraut vor der Tür steht und die kleine miefige Welt zur großen, weiten Welt hin öffnet. Er taucht aber nicht auf, nicht in echt und auch nicht im neuen Roman der 32-jährigen Münchner Autorin Lena Gorelik „Die Listensammlerin“. Allerdings stößt die Hauptfigur Sofia darin unerwartet auf die Spur eines unbekannten Verwandten aus der Sowjetunion: Grischa, ein charmanter, eigenwilliger Querkopf, der ausgerechnet den gleichen Spleen hatte wie sie selbst: Listen schreiben.
Sofias eigene Listen tragen Titel wie „seltsame religiöse Rituale“, „skurrile Charakterzüge in meinem Umfeld“, „typische Großmuttersätze“ oder „wenn wir in einem Hollywoodfilm wären“. Die Welt in Listen zu ordnen, das schafft Struktur, bannt Ängste, und es lenkt die junge Autorin und Mutter von ihrer Schreibblockade ab. Es hilft aber auch im täglichen Kampf mit dem Selbstbild, etwa wenn Sofia dort Sätze sammelt, die sie nie hatte sagen wollen, jetzt aber sagt, wie „Ich muss nach Hause, der Babysitter wartet“ oder „Ach ja, früher sind wir auch so viel gereist“.
Beim Entrümpeln der Wohnung ihrer dementen Großmutter stößt Sofia dann auf eine Schachtel voller Papiere, sorgfältig in Kyrillisch beschriebene Seiten, Onkel Grischas Listen: Sie heißen „Männer mit schönen Händen“, „Amerika“, „Szenen für ein Buch“ oder „Was ich Mama wünsche“, Punkt eins: „einen anderen Sohn (an meiner Stelle)“. Entlang dieser gemeinsamen, vom jeweiligen Umfeld misstrauisch beäugten Alltags-Bewältigungsstrategie entwickelt Lena Gorelik zwei ineinander verwobene Geschichten.
Da ist zum einen Sofias Ich-Erzählung, die sich nur zaghaft durch das heutige München vorantastet, ständig gebremst durch die drückende Angst vor der anstehenden Herz-OP ihrer Tochter Anna. Der zweite Erzählstrang springt zurück in die Jugendzeit von Sofias Mutter in der Sowjetunion, genauer zu deren Bruder Grischa und zu der Frage, warum der ehemalige Liebling der Familie heute totgeschwiegen wird. Diese Geschichte eines für immer Abwesenden kann nur in der dritten Person erzählt werden, drängt aber umso lebhafter voran, immer dicht auf den Fersen des umtriebigen und wenig systemkompatiblen Studenten. Grischa stellt Fragen, die sonst keiner stellt. Er verliebt sich in einen Mann, eine Liebe, die beide nicht zu leben wagen. Und er schließt sich einer oppositionellen Gruppe an, drängt zur Tat, beschließt, die Missstände in einem Krankenhaus öffentlich zu machen. An dieser Stelle freilich wird die Geschichte in ihrem Horror seltsam klischeehaft, was eher irritiert als berührt.
Es ist weniger die Story, die das fünfte Buch von Lena Gorelik lesenswert macht, als der präzise Stil, die Art, wie die Autorin ihre Figuren zeichnet: als Menschen, die von der eigenen Wut, dem eigenen Verlangen und dem eigenen analytischen Blick auf die Welt überfordert sind. Dabei ist hinter den abgeklärt rotzigen Beobachtungen immer ein klar parteiisches Mitfühlen spürbar, ohne sentimental zu werden. Wie nebenbei entsteht so eine Diagnose der seltsamen Zustände, in denen wir leben und die wir selbst mitverantworten. Sucht man darin Halt, findet man nur Sätze aus der Großmutter-Liste, wie diesen: „Schmerz ist Schmerz, deswegen tut er weh.“
CORNELIA FIEDLER
Lena Gorelik: Die Listensammlerin. Roman. Rowohlt Berlin 2013. 352 Seiten, 19,95 Euro.
Ihren Spleen teilt die Erzählerin
mit dem totgeschwiegenen Onkel
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2013Überleben mit Listen
Lena Gorelik macht mit einer Familie Ernst
Die Neuauflage des Lexikons der deutsch-jüdischen Literatur verzeichnet einen Artikel zu "Gorelik, Lena, geb. 1. 2. 1981 in Leningrad (Sankt Petersburg)" und lässt den Leser wissen, das Schreiben dieser jungen Autorin kreise um die Frage der Normalität jüdischen Lebens in Deutschland nach der Schoa. Und tatsächlich verarbeitet Lena Gorelik seit ihrem erfolgreichen Debütroman "Meine weißen Nächte" die Erfahrung, als Kind russischer Einwanderer nach Deutschland gekommen zu sein und sich hier plötzlich als Jüdin zu fühlen. In einem Briefroman an ihren Sohn spielte sie mit äußeren Zuschreibungen, mit Klischees und Projektionen und seufzte über die Vielschichtigkeit jeglicher Identität.
Mit der macht sie nun Ernst. Denn ihr neuer Roman verzichtet auf das bisher zentrale Thema, gerade jetzt, wo sich das Bild der Autorin zu verfestigen begann. "Die Listensammlerin" ist ein komischer und ernster Familienroman, dessen Figuren-Ensemble sich auf zwei narrativen Ebenen bewegt. Die Ich-Erzählerin lebt in der Münchner Gegenwart, eine temperamentvolle junge Frau mit einer großen Sorge: Ihre kleine Tochter hat ein krankes Herz und steht vor einer lebenswichtigen Operation. Die Angst um das Kind ist ein Teil des trotz allem mit Leichtigkeit geschilderten Alltags, zu dem auch die Mutter und die Großmutter der Ich-Erzählerin gehören. Beide Frauen sind vor Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland immigriert, und der oft peinlich berührte Tochterblick auf ihre Eigenarten (Spucken beim Bügeln) sorgt für einen humorvollen Ton und einige transkulturelle Spiegeleffekte. Die Einwanderungsthematik führt Lena Gorelik fort und vergewissert sich dabei, wie viele ihrer Generationsgenossinnen, der eigenen Herkunft.
Der zweite, parallel geführte Erzählstrang spielt in der poststalinistischen Sowjetunion. Der Leser folgt hier der Perspektive Grischas, eines anarchisch wilden Jungen, dessen Verhalten zugleich komisch und erschreckend ist. Er ist der Onkel der Ich-Erzählerin, von dessen Existenz und Schicksal diese erst nach und nach erfährt. Die Protagonisten der beiden Romanebenen verbindet eine Passion: das Führen und Sammeln von Listen, mit deren Hilfe das chaotisch andrängende Leben geordnet und gebändigt werden soll. Die junge Frau der Gegenwart erstellt Listen schöner Menschen, von Momenten, die sie nie erleben wollte, Listen mit Tomatengerichten. Der junge Sowjet führt Listen mit Männerhänden, Listen zu lesender Literatur und eine Liste mit Wünschen für die eigene Mutter, der er Arbeit und Leid ersparen möchte. Die Mutter leidet, weil ihr Sohn als unbekümmerter und querulatorischer Individualist ohne jedes Autoritätsempfinden heranwächst und sich bereits als Jugendlicher einer antisowjetischen Gruppe anschließt.
Im Gewand des plaudernden Familienromans liefert Lena Gorelik das Psychogramm eines Dissidenten in seiner ganzen sozialen Ambivalenz. Seine Selbst- und Freiheitsliebe, seine Leichtfertigkeit und sein Mut machen ihn zum Außenseiter und disponieren ihn zur Opposition. Zugleich gefährden seine Charaktereigenschaften und Aktionen die ihm nächsten Menschen und bestimmen ihr Schicksal. Deren Lebensläufe verbinden die russische Vergangenheit und die erzählte Gegenwart. Die Autorin führt aber auch Motive beider Erzählebenen parallel: In Moskau fotografiert der empörte Grischa die menschenunwürdigen Zustände in einem Heim, in dem Systemgegner, Kriegsversehrte und Verrückte vegetieren. In München leidet die Ich-Erzählerin bei jedem ihrer Besuche in einem Altenheim mit den Alzheimerkranken.
Die Darstellung schafft eine eindeutige Differenz zwischen den Systemen. Sie spricht für die selbstverständliche Nähe der Autorin zum Land, in dem sie lebt. Hinter den gewichtigen, den komischen und den feinen Unterschieden, die in diesem Roman geschildert werden, steht allerdings das allen Menschen Gemeinsame. Es findet in der mütterlichen Angst seinen Ausdruck: in der Sorge um den eigensinnigen Jungen, in der Sorge um das kranke Kind. Sie überdauert die Generationen und geht über Grenzen.
SANDRA KERSCHBAUMER.
Lena Gorelik: "Die Listensammlerin". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. 350 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lena Gorelik macht mit einer Familie Ernst
Die Neuauflage des Lexikons der deutsch-jüdischen Literatur verzeichnet einen Artikel zu "Gorelik, Lena, geb. 1. 2. 1981 in Leningrad (Sankt Petersburg)" und lässt den Leser wissen, das Schreiben dieser jungen Autorin kreise um die Frage der Normalität jüdischen Lebens in Deutschland nach der Schoa. Und tatsächlich verarbeitet Lena Gorelik seit ihrem erfolgreichen Debütroman "Meine weißen Nächte" die Erfahrung, als Kind russischer Einwanderer nach Deutschland gekommen zu sein und sich hier plötzlich als Jüdin zu fühlen. In einem Briefroman an ihren Sohn spielte sie mit äußeren Zuschreibungen, mit Klischees und Projektionen und seufzte über die Vielschichtigkeit jeglicher Identität.
Mit der macht sie nun Ernst. Denn ihr neuer Roman verzichtet auf das bisher zentrale Thema, gerade jetzt, wo sich das Bild der Autorin zu verfestigen begann. "Die Listensammlerin" ist ein komischer und ernster Familienroman, dessen Figuren-Ensemble sich auf zwei narrativen Ebenen bewegt. Die Ich-Erzählerin lebt in der Münchner Gegenwart, eine temperamentvolle junge Frau mit einer großen Sorge: Ihre kleine Tochter hat ein krankes Herz und steht vor einer lebenswichtigen Operation. Die Angst um das Kind ist ein Teil des trotz allem mit Leichtigkeit geschilderten Alltags, zu dem auch die Mutter und die Großmutter der Ich-Erzählerin gehören. Beide Frauen sind vor Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland immigriert, und der oft peinlich berührte Tochterblick auf ihre Eigenarten (Spucken beim Bügeln) sorgt für einen humorvollen Ton und einige transkulturelle Spiegeleffekte. Die Einwanderungsthematik führt Lena Gorelik fort und vergewissert sich dabei, wie viele ihrer Generationsgenossinnen, der eigenen Herkunft.
Der zweite, parallel geführte Erzählstrang spielt in der poststalinistischen Sowjetunion. Der Leser folgt hier der Perspektive Grischas, eines anarchisch wilden Jungen, dessen Verhalten zugleich komisch und erschreckend ist. Er ist der Onkel der Ich-Erzählerin, von dessen Existenz und Schicksal diese erst nach und nach erfährt. Die Protagonisten der beiden Romanebenen verbindet eine Passion: das Führen und Sammeln von Listen, mit deren Hilfe das chaotisch andrängende Leben geordnet und gebändigt werden soll. Die junge Frau der Gegenwart erstellt Listen schöner Menschen, von Momenten, die sie nie erleben wollte, Listen mit Tomatengerichten. Der junge Sowjet führt Listen mit Männerhänden, Listen zu lesender Literatur und eine Liste mit Wünschen für die eigene Mutter, der er Arbeit und Leid ersparen möchte. Die Mutter leidet, weil ihr Sohn als unbekümmerter und querulatorischer Individualist ohne jedes Autoritätsempfinden heranwächst und sich bereits als Jugendlicher einer antisowjetischen Gruppe anschließt.
Im Gewand des plaudernden Familienromans liefert Lena Gorelik das Psychogramm eines Dissidenten in seiner ganzen sozialen Ambivalenz. Seine Selbst- und Freiheitsliebe, seine Leichtfertigkeit und sein Mut machen ihn zum Außenseiter und disponieren ihn zur Opposition. Zugleich gefährden seine Charaktereigenschaften und Aktionen die ihm nächsten Menschen und bestimmen ihr Schicksal. Deren Lebensläufe verbinden die russische Vergangenheit und die erzählte Gegenwart. Die Autorin führt aber auch Motive beider Erzählebenen parallel: In Moskau fotografiert der empörte Grischa die menschenunwürdigen Zustände in einem Heim, in dem Systemgegner, Kriegsversehrte und Verrückte vegetieren. In München leidet die Ich-Erzählerin bei jedem ihrer Besuche in einem Altenheim mit den Alzheimerkranken.
Die Darstellung schafft eine eindeutige Differenz zwischen den Systemen. Sie spricht für die selbstverständliche Nähe der Autorin zum Land, in dem sie lebt. Hinter den gewichtigen, den komischen und den feinen Unterschieden, die in diesem Roman geschildert werden, steht allerdings das allen Menschen Gemeinsame. Es findet in der mütterlichen Angst seinen Ausdruck: in der Sorge um den eigensinnigen Jungen, in der Sorge um das kranke Kind. Sie überdauert die Generationen und geht über Grenzen.
SANDRA KERSCHBAUMER.
Lena Gorelik: "Die Listensammlerin". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. 350 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hingerissen zeigt sich Rainer Moritz von Lena Goreliks Roman "Die Listensammlerin" und weist gleich darauf hin, dass man diesen nicht wegen seiner Titelähnlichkeit mit seichten Historienromanen wie "Die Gewürzhändlerin" oder "Die Mondspielerin" verwechseln darf. Die Geschichte von Sofia, einer Schriftstellerin in München, die immer wieder in Krisen gerät und sich sehr um ihr herzkrankes Kind sorgt, und ihrem in der Sowjetunion aufgewachsenen Onkel Grischa erzählt für ihn einfühlsam von unterschwelligen familiären Brüchen und davon, wie sehr die Lebensgeschichte der Vorfahren die eigene prägt. Dabei gelingt der Autorin zur Freude des Rezensenten eine gute Balance aus Ernsthaftigkeit und Humor. Besonders lobt er die Klarheit von Goreliks Stil und ihren "feinen, gewitzten Tonfall". Für Moritz ist steht fest: "Mit dem Mond sollen andere spielen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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