Gedichte zum Abheben
Die Schmetterlinge, die Jan Wagner in diesem Gedichtband aus dem Netz holt und Loopings fliegen lässt, können auch Münchner Krähen sein, Marder im Blutrausch oder ein Biker aus Montana. Entscheidend ist: Sie fliegen. Welchen Gegenstand, welches Wesen Jan Wagner auch einfängt und poetisch verwandelt, er hebt damit die Gesetze der Schwerkraft auf, und unsere Wahrnehmung, unser Denken verlieren mit jedem gelesenen Vers an Trägheit. Mit jedem Band dagegen scheint Jan Wagner an Souveränität zu gewinnen, seine Virtuosität zeigt sich in der »Live Butterfly Show« als unbekümmerte Lust an der Freiheit in der Form, am Klang, die großen Spaß macht
Die Schmetterlinge, die Jan Wagner in diesem Gedichtband aus dem Netz holt und Loopings fliegen lässt, können auch Münchner Krähen sein, Marder im Blutrausch oder ein Biker aus Montana. Entscheidend ist: Sie fliegen. Welchen Gegenstand, welches Wesen Jan Wagner auch einfängt und poetisch verwandelt, er hebt damit die Gesetze der Schwerkraft auf, und unsere Wahrnehmung, unser Denken verlieren mit jedem gelesenen Vers an Trägheit. Mit jedem Band dagegen scheint Jan Wagner an Souveränität zu gewinnen, seine Virtuosität zeigt sich in der »Live Butterfly Show« als unbekümmerte Lust an der Freiheit in der Form, am Klang, die großen Spaß macht
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Im blauen Himmel nur Pigmente
Die wahre Heldentruppe der Geschichte besteht aus Getier. Jan Wagner bedichtet es und viele weitere seiner Heroen in "Die Live Butterfly Show".
Von Angelika Overath
Was sind wir anderes als Schemen, unsichere Schatten, sehnsuchtsbereit? Und begleitet von diesen schwankenden Gestalten, die einmal Verheißung waren aus Kinderjahren und deshalb noch an uns rühren?
Da wäre dieser Onkel, der mit seinem Bauch, dem "prächtigen Fesselballon", an Hosenträgern hereinschwebt, ein guter Trinker: "kaum berührt das / braune glas der bierflasche seine lippen, / beginnt er zu glimmen wie eine leuchtglaskugel". Ein stattlicher, lebensrobuster Mann, von dem man aber ahnt, dass "ein dünnerer in ihm wankt". Oder diese Fräuleins-Tanten? Entfernte Freundinnen der Familie? Die Erinnerung weiß nicht mehr viel von ihnen, nur dass sie Kuchen buken zu jedem Geburtstag, Gebäcke mit seltsamen Namen "wie altdeutsche / zaubersprüche, heilsame formeln". Den "gugelhupf" zum Beispiel mit den wenigen Zutaten, "nur butter, eier, mehl / und zucker, milch und mandeln". Und Rosinen, "denen / auch sie am ende glichen, verschrumpelt, / ganz auf die eigene süße konzentriert". Bis ihr Sarg am Altar stand, "sein holz wie glänzend von butter, wie gebacken". Und "draußen sangen / die amseln, glaube ich, und durch die / hohen fenster fiel sonne herein". Oder der alte Lateinlehrer ("terra, terrae, terram - / letzter botschafter eines imperiums") mit seinen Cordhosen und den Strickpullis, "um die taille / so weit, daß alles immer hin zur toga / zu streben schien". Zwischen ihm und den Barbaren von Schülern nur der hölzerne "rhein der tische" (und damit klanglich die "Reihen") und dahinter Gallien, "zerfallen in drei teile".
Es geht hier um die Größe, ja die bescheidene Tapferkeit des kleinen Lebens. Sie hat ihren Grund in Tod und Vergänglichkeit, die in den immerschönen Gedichten von Jan Wagner allgegenwärtig sind. Man hat diesem Lyriker, Jahrgang 1971, vorgeworfen, ein Idylliker zu sein. Dabei steckt in seinen Versen neben dem anmutigen Spiel das verschluckte Schluchzen. Es ist der Impuls für die Verwandlung des Übersehenen in die Heiterkeit und Herrlichkeit der poetischen Haltung. Jan Wagner ist ein Hochseilartist der Form. Wer modulierte denn heute so makellos das Sonett, die Sestine, das Pantun und lancierte dabei mit sicherer Hand den kleinen Webfehler, die subtile Störung? Denk es, o Seele.
Jede noch so prosaische Erscheinung ist poesiefähig, ja mythenverdächtig, wenn sich das Ich ihrer annimmt und an ihr abarbeitet, bis sie glänzt. Bis das ins Gedicht gebrachte Ding das Ich - manchmal monströs - übersteigt und überstrahlt. Der Rettich zum Beispiel: "du hast so lang an ihm gezerrt, gezogen", bis er daliegt auf dem Küchentisch, ein "stoßzahn / von rettich", schließlich ein Gebilde von marmorner Kälte, "wie ein unterschenkel apolls, / ein mittlerer amor", dann ein "stummer albinogott", neben dem das Ich, das ihn doch hervorgebracht hat, immer kleiner wird ("beschleicht dich das gefühl, du habest exakt / um sein gewicht an gewicht verloren"). Dieses Rettich-Wesen (sein Name ist ja ein "seufzer", sein "stoßgebet: hätte ich, hätt ich . . .") steht in einer eigenartigen Korrespondenz zum Ich, in einer Ambivalenz von Leistung und Versagen. So dass das Ich am Ende seine Identität in ebenjene Nacht stellt, die das Wesen, das erst durch seine Anstrengung ans Licht kam, nun erhellt: "dein Haus liegt kalt und unbewohnt / unter dem rettichmond". (Dylan Thomas' Stimmen-Ikone "Unterm Milchwald", seine bitter-melancholische Liebeserklärung an ein walisisches Fischerdorf, mag anklingen.)
Wo ist ein Lyriker zu Hause? Er steht im Leben, schreibt einen "brief ans ende der straße", wo jenseits der Regionalbahn die Prärie beginnt, "jeder ein paria, / ein außenseiter unter den kaninchen". In diesen wüsten Zonen "ohne sonaten / und köchelverzeichnis" erscheinen sie "mit dem tränentattoo / am augenrand und dieser lepraklapper / aus leeren flaschen in der plastiktüte". Aber der Dichter scheint auch eine Art tragischer Verräter zu sein, der allein im Bauch des Wals haust und zu dem durch die "bartendämmerung / weit oben" doch die Frage nach Schuld und Verantwortung dringt. Unter den "leselampen / aus leuchtalgen" wehrt er ab: "verschwende keinen gedanken // daran, daß du ein sohn bist, bruder, neffe, / ob draußen juni ist, ob januar. / denk nicht an tarsis oder nivive. / nenn diesen walfisch deine heimat, jona."
Meer, Tiefen, Fische, aber ebenso Wolken, Höhen, das Fliegende sind Motive in Wagners neuem Gedichtband "Die Live Butterfly Show". Es verbindet sie die Freude an der Metamorphose. Ich und Objekt stehen in Wechselbeziehung. Im titelgebenden Gedicht evoziert das Ich den Schmetterling, der sich ihm nähert und dem er als "trenchcoatflügler, trauermantel" antwortet. Und als "undankbare blüte, die ich war".
Wer blüht, wenn ein Gedicht aufblüht? Das Sujet? Der Autor? Wer ist Schmetterling, wer Blume? Nährt sich der Dichter an den Dingen, die er mit radikalem Blick noch einmal neu sieht? Oder kommen die Dinge erst durch den Dichter zu sich als Bild und Klang und Sinn? In seiner Sprache gewinnen sie eine schillernde Dauer, die tröstet, weil sie, wie die Evidenz eines Stilllebens, uns versichern darf: zu sein.
Das letzte Gedicht gehört der Montgolfière. Unter den Blicken des französischen Königshofs hebt der erste mit Lebewesen besetzte Fesselballon ab. Er transportiert ein Schaf, einen Hahn, eine Ente: "in ihrem korb kaum hörbar, seltsam brav / in gottes blauem himmel nur pigmente". Komisch und tragisch und märchenhaft real steigen sie auf und entschwinden über die sie emportragenden Endreime auf ihre kleinen Namen - schaf/schlaf/graf, hahn/galan/kahn - in einer Versbewegung, die paradox erdet und adelt als Sang.
Jan Wagner: "Die Live Butterfly Show".
Gedichte.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 99 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die wahre Heldentruppe der Geschichte besteht aus Getier. Jan Wagner bedichtet es und viele weitere seiner Heroen in "Die Live Butterfly Show".
Von Angelika Overath
Was sind wir anderes als Schemen, unsichere Schatten, sehnsuchtsbereit? Und begleitet von diesen schwankenden Gestalten, die einmal Verheißung waren aus Kinderjahren und deshalb noch an uns rühren?
Da wäre dieser Onkel, der mit seinem Bauch, dem "prächtigen Fesselballon", an Hosenträgern hereinschwebt, ein guter Trinker: "kaum berührt das / braune glas der bierflasche seine lippen, / beginnt er zu glimmen wie eine leuchtglaskugel". Ein stattlicher, lebensrobuster Mann, von dem man aber ahnt, dass "ein dünnerer in ihm wankt". Oder diese Fräuleins-Tanten? Entfernte Freundinnen der Familie? Die Erinnerung weiß nicht mehr viel von ihnen, nur dass sie Kuchen buken zu jedem Geburtstag, Gebäcke mit seltsamen Namen "wie altdeutsche / zaubersprüche, heilsame formeln". Den "gugelhupf" zum Beispiel mit den wenigen Zutaten, "nur butter, eier, mehl / und zucker, milch und mandeln". Und Rosinen, "denen / auch sie am ende glichen, verschrumpelt, / ganz auf die eigene süße konzentriert". Bis ihr Sarg am Altar stand, "sein holz wie glänzend von butter, wie gebacken". Und "draußen sangen / die amseln, glaube ich, und durch die / hohen fenster fiel sonne herein". Oder der alte Lateinlehrer ("terra, terrae, terram - / letzter botschafter eines imperiums") mit seinen Cordhosen und den Strickpullis, "um die taille / so weit, daß alles immer hin zur toga / zu streben schien". Zwischen ihm und den Barbaren von Schülern nur der hölzerne "rhein der tische" (und damit klanglich die "Reihen") und dahinter Gallien, "zerfallen in drei teile".
Es geht hier um die Größe, ja die bescheidene Tapferkeit des kleinen Lebens. Sie hat ihren Grund in Tod und Vergänglichkeit, die in den immerschönen Gedichten von Jan Wagner allgegenwärtig sind. Man hat diesem Lyriker, Jahrgang 1971, vorgeworfen, ein Idylliker zu sein. Dabei steckt in seinen Versen neben dem anmutigen Spiel das verschluckte Schluchzen. Es ist der Impuls für die Verwandlung des Übersehenen in die Heiterkeit und Herrlichkeit der poetischen Haltung. Jan Wagner ist ein Hochseilartist der Form. Wer modulierte denn heute so makellos das Sonett, die Sestine, das Pantun und lancierte dabei mit sicherer Hand den kleinen Webfehler, die subtile Störung? Denk es, o Seele.
Jede noch so prosaische Erscheinung ist poesiefähig, ja mythenverdächtig, wenn sich das Ich ihrer annimmt und an ihr abarbeitet, bis sie glänzt. Bis das ins Gedicht gebrachte Ding das Ich - manchmal monströs - übersteigt und überstrahlt. Der Rettich zum Beispiel: "du hast so lang an ihm gezerrt, gezogen", bis er daliegt auf dem Küchentisch, ein "stoßzahn / von rettich", schließlich ein Gebilde von marmorner Kälte, "wie ein unterschenkel apolls, / ein mittlerer amor", dann ein "stummer albinogott", neben dem das Ich, das ihn doch hervorgebracht hat, immer kleiner wird ("beschleicht dich das gefühl, du habest exakt / um sein gewicht an gewicht verloren"). Dieses Rettich-Wesen (sein Name ist ja ein "seufzer", sein "stoßgebet: hätte ich, hätt ich . . .") steht in einer eigenartigen Korrespondenz zum Ich, in einer Ambivalenz von Leistung und Versagen. So dass das Ich am Ende seine Identität in ebenjene Nacht stellt, die das Wesen, das erst durch seine Anstrengung ans Licht kam, nun erhellt: "dein Haus liegt kalt und unbewohnt / unter dem rettichmond". (Dylan Thomas' Stimmen-Ikone "Unterm Milchwald", seine bitter-melancholische Liebeserklärung an ein walisisches Fischerdorf, mag anklingen.)
Wo ist ein Lyriker zu Hause? Er steht im Leben, schreibt einen "brief ans ende der straße", wo jenseits der Regionalbahn die Prärie beginnt, "jeder ein paria, / ein außenseiter unter den kaninchen". In diesen wüsten Zonen "ohne sonaten / und köchelverzeichnis" erscheinen sie "mit dem tränentattoo / am augenrand und dieser lepraklapper / aus leeren flaschen in der plastiktüte". Aber der Dichter scheint auch eine Art tragischer Verräter zu sein, der allein im Bauch des Wals haust und zu dem durch die "bartendämmerung / weit oben" doch die Frage nach Schuld und Verantwortung dringt. Unter den "leselampen / aus leuchtalgen" wehrt er ab: "verschwende keinen gedanken // daran, daß du ein sohn bist, bruder, neffe, / ob draußen juni ist, ob januar. / denk nicht an tarsis oder nivive. / nenn diesen walfisch deine heimat, jona."
Meer, Tiefen, Fische, aber ebenso Wolken, Höhen, das Fliegende sind Motive in Wagners neuem Gedichtband "Die Live Butterfly Show". Es verbindet sie die Freude an der Metamorphose. Ich und Objekt stehen in Wechselbeziehung. Im titelgebenden Gedicht evoziert das Ich den Schmetterling, der sich ihm nähert und dem er als "trenchcoatflügler, trauermantel" antwortet. Und als "undankbare blüte, die ich war".
Wer blüht, wenn ein Gedicht aufblüht? Das Sujet? Der Autor? Wer ist Schmetterling, wer Blume? Nährt sich der Dichter an den Dingen, die er mit radikalem Blick noch einmal neu sieht? Oder kommen die Dinge erst durch den Dichter zu sich als Bild und Klang und Sinn? In seiner Sprache gewinnen sie eine schillernde Dauer, die tröstet, weil sie, wie die Evidenz eines Stilllebens, uns versichern darf: zu sein.
Das letzte Gedicht gehört der Montgolfière. Unter den Blicken des französischen Königshofs hebt der erste mit Lebewesen besetzte Fesselballon ab. Er transportiert ein Schaf, einen Hahn, eine Ente: "in ihrem korb kaum hörbar, seltsam brav / in gottes blauem himmel nur pigmente". Komisch und tragisch und märchenhaft real steigen sie auf und entschwinden über die sie emportragenden Endreime auf ihre kleinen Namen - schaf/schlaf/graf, hahn/galan/kahn - in einer Versbewegung, die paradox erdet und adelt als Sang.
Jan Wagner: "Die Live Butterfly Show".
Gedichte.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 99 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Mit Krake und Krill nach Kalifornien
Was macht der Unterschenkel Apolls in der Gemüseabteilung? Jan Wagners „Die Live Butterfly Show“
Weiter als Jan Wagner kann man es als Lyriker heute kaum bringen. Im vorigen Jahr durch den Büchnerpreis mit höchsten literarischen Weihen versehen, gilt der 1971 geborene Autor als bahnbrechender Botschafter der Gattung, seit er 2015 für seine „Regentonnenvariationen“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Zwar muss er seitdem auch mit Anfeindungen leben, weil die Mischung aus Traditionsbewusstsein und Erfindungsreichtum, formaler Meisterschaft und Zugänglichkeit, die seine Sprachkunst auszeichnet, in der jüngeren Lyrikszene einige Irritationen hervorruft und sogar manche Kritiker provoziert, nach dem Haar in der Suppe zu suchen. Aber Wagner steht ja nicht nur auf festen Versfüßen, sondern ist mit fast ebenso großem Erfolg als Übersetzer, Herausgeber, Essayist, Prosa- und Hörspielschreiber tätig, und außerdem macht er sich als Vermittler und Kollegenförderer verdient. So kann er Debatten über sein Werk gelassen beobachten: Sein „Standing“ im Literaturbetrieb dürfte kaum mehr anzufechten sein.
Der Anglizismus scheint durchaus am Platz, denn mit ihrem Titel „Die Live Butterfly Show“, in großen Lettern auf leuchtend buntem Cover, wirkt die neue Kollektion fast so, als wolle Wagner Invektiven wie „Schwiegermamas Lieblingslyrik“ entgegentreten und gezielt ein junges, cooles Publikum ansprechen. Das Eingangsgedicht porträtiert jedoch erst einmal liebevoll-ironisch einen alten Biker, der „langhaarig, steif/ wie eine Mumie aus der Bronzezeit“ über die Landstraßen tourt und noch immer grübelt, warum ein Graureiher einst ausgerechnet seinen winzigen, hoch auf dem Berg gelegenen Fischteich im riesigen Montana entdeckte und alle Karpfen wegfraß.
Mit dieser elegant rhythmisierten Anekdote werden gleich zwei Themenstränge eröffnet, die den Band durchziehen: die Reiseimpressionen, etliche davon aus Amerika, und die Fisch-Motive, die dem aus Hamburg stammenden, notorisch naturaffinen Dichter in schillernder Vielfalt ins Netz gehen. Das Spektrum reicht von der Kindheitserinnerung an Kapitäne („herr barsch, herr dorsch, herr butt“) bis zur Imagination der Sinneseindrücke des Jona im Walfischbauch, vom Krebs- und Neunaugenfang über den geisterhaften „einstellungstag im meerjungfrauenmuseum“ bis zur in ein Geburtstagsgedicht eingebetteten Hommage an „die wesen,/ die wirklich alt sind, (…)abgetaucht/ in dicken Mänteln aus Speck, zwischen kraken/ und krill in ewig dunklen arktiswassern“.
Auch in anderen lyrischen Kontexten taucht immer wieder mal ein Karpfenmäul, ein Fischkopf, ein Goldfisch oder ein Piranha auf, und die maritime Sphäre gewinnt emblematische Gestalt, wenn Wagner klangstark den Tang besingt, Buddelschiffe feiert oder sich von einer Vierzig-Watt-Lampe in die Polarnacht des Seefahrers John Franklin versetzen lässt. Wieder verzaubert er mit seiner Methode, von einem konkreten, zuweilen banalen Gegenstand ausgehend den Blick in historische oder geografische Fernen zu richten, in die Tiefen der Erinnerung oder mythologische Assoziationsräume, um dann mit spielerisch anmutender Kunstfertigkeit das Phänomen in eine Form zu kleiden, die dessen Wesenskern anschaulich, greifbar, sinnlich erfahrbar macht.
Das können entsorgte Matratzen sein, ein Muff („pelzige silbe/ mit dem gewicht von russischen Romanen“) oder ein Beerdigungs-Gugelhupf. Aus der Gemüseabteilung sind es der Rettich („schwer wie ein unterschenkel apolls“) und der Weißkohl („erschreckend kühl/ und wächsern, kälter als ein chorgestühl“), und natürlich lauert dabei die Gefahr der Überinstrumentierung. Aber Jan Wagner ist alles andere als ein humorloser Poet, und so darf man sich dann wohl ein Schmunzeln mitdenken.
Manche Stücke sind sogar extra dafür gedacht, wie jenes über die Kahlköpfigkeit („strähne“), das Sonett über die kolossale Lederhose des Opas oder die „elegie auf einen lateinlehrer“, der „nur von seneca, catull und taci-/tus zehrte, von schwarzbrot und mintpastille“. Doch auch Rührung kann der Dichter erzeugen, mit verblüffendem Instrumentarium: Die lange „klage um goliath“ weckt ein Mitgefühl für den ermordeten Riesen, das man niemals in Betracht gezogen hätte.
Pflanzen und Tiere werden zu Auslösern kleiner Epiphanien: Weißdorn „ereignet“ sich als „lokal/ begrenzter schneefall“, Klatschmohn ist „ein augensalmiak“; der Marder, „taube um taube entkorkend/ und saufend“, wird mit Gargantua verglichen, das dunkeläugige Kamel reimt sich auf „holzpaneel“ und „raffael“. Den Krähen ist ein wunderbar lautmalerischer Hymnus gewidmet, und auf den Ton des Ziegenmelkers wird man künftig mit poetisch geschärften Ohren lauschen.
Die „kalifornischen sonette“ sind Futter für das innere Kino-Auge, aber farbiger noch, einprägsamer auch als die Nachrichten vom Ganges, aus dem Regenwald oder der Verbotenen Stadt, ist „eine postkarte aus novi sad“. Wieder beeindruckt der poeta doctus durch seinen souveränen Umgang mit dem Formenkanon, Haiku und Ode inbegriffen. Leicht penetrant, wie eine schicke Marotte, wirkt allerdings sein Faible für das morphologische Enjambement, den Zeilensprung per Silbentrennung („taci-/tus“). Aber wie raffiniert ist der Schluss des Sonetts „säge“, bei dem Leibniz um die Ecke lugt!
In der „dornröschen“ - Fantasie schwelgt man wie in einem alten Gemälde, und nie wurde dem Trio „schaf, hahn, ente“ im Heißluftballon der Brüder Montgolfier, Versailles 1783, ein charmanteres Denkmal gesetzt. Bleibt die titelgebende „live butterfly show“, eine Art Freak-Performance, etwas kryptisch, aber makellos geschildert. Nur unter die Oberfläche all der schönen Bilder lässt Wagner sich nicht blicken. Und man fragt sich, ob dort womöglich „Der verschlossene Raum“(so heißt seine letzte Essaysammlung) liegt, in dem er existenzielle Erschütterungen abspeichert.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Jan Wagner: Die Live Butterfly Show. Gedichte. Verlag Hanser Berlin, München 2018. 100 S., 18 Euro.
So liegt er in der
Hand, der Weißkohl:
„erschreckend kühl/
und wächsern, kälter
als ein chorgestühl“
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Was macht der Unterschenkel Apolls in der Gemüseabteilung? Jan Wagners „Die Live Butterfly Show“
Weiter als Jan Wagner kann man es als Lyriker heute kaum bringen. Im vorigen Jahr durch den Büchnerpreis mit höchsten literarischen Weihen versehen, gilt der 1971 geborene Autor als bahnbrechender Botschafter der Gattung, seit er 2015 für seine „Regentonnenvariationen“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Zwar muss er seitdem auch mit Anfeindungen leben, weil die Mischung aus Traditionsbewusstsein und Erfindungsreichtum, formaler Meisterschaft und Zugänglichkeit, die seine Sprachkunst auszeichnet, in der jüngeren Lyrikszene einige Irritationen hervorruft und sogar manche Kritiker provoziert, nach dem Haar in der Suppe zu suchen. Aber Wagner steht ja nicht nur auf festen Versfüßen, sondern ist mit fast ebenso großem Erfolg als Übersetzer, Herausgeber, Essayist, Prosa- und Hörspielschreiber tätig, und außerdem macht er sich als Vermittler und Kollegenförderer verdient. So kann er Debatten über sein Werk gelassen beobachten: Sein „Standing“ im Literaturbetrieb dürfte kaum mehr anzufechten sein.
Der Anglizismus scheint durchaus am Platz, denn mit ihrem Titel „Die Live Butterfly Show“, in großen Lettern auf leuchtend buntem Cover, wirkt die neue Kollektion fast so, als wolle Wagner Invektiven wie „Schwiegermamas Lieblingslyrik“ entgegentreten und gezielt ein junges, cooles Publikum ansprechen. Das Eingangsgedicht porträtiert jedoch erst einmal liebevoll-ironisch einen alten Biker, der „langhaarig, steif/ wie eine Mumie aus der Bronzezeit“ über die Landstraßen tourt und noch immer grübelt, warum ein Graureiher einst ausgerechnet seinen winzigen, hoch auf dem Berg gelegenen Fischteich im riesigen Montana entdeckte und alle Karpfen wegfraß.
Mit dieser elegant rhythmisierten Anekdote werden gleich zwei Themenstränge eröffnet, die den Band durchziehen: die Reiseimpressionen, etliche davon aus Amerika, und die Fisch-Motive, die dem aus Hamburg stammenden, notorisch naturaffinen Dichter in schillernder Vielfalt ins Netz gehen. Das Spektrum reicht von der Kindheitserinnerung an Kapitäne („herr barsch, herr dorsch, herr butt“) bis zur Imagination der Sinneseindrücke des Jona im Walfischbauch, vom Krebs- und Neunaugenfang über den geisterhaften „einstellungstag im meerjungfrauenmuseum“ bis zur in ein Geburtstagsgedicht eingebetteten Hommage an „die wesen,/ die wirklich alt sind, (…)abgetaucht/ in dicken Mänteln aus Speck, zwischen kraken/ und krill in ewig dunklen arktiswassern“.
Auch in anderen lyrischen Kontexten taucht immer wieder mal ein Karpfenmäul, ein Fischkopf, ein Goldfisch oder ein Piranha auf, und die maritime Sphäre gewinnt emblematische Gestalt, wenn Wagner klangstark den Tang besingt, Buddelschiffe feiert oder sich von einer Vierzig-Watt-Lampe in die Polarnacht des Seefahrers John Franklin versetzen lässt. Wieder verzaubert er mit seiner Methode, von einem konkreten, zuweilen banalen Gegenstand ausgehend den Blick in historische oder geografische Fernen zu richten, in die Tiefen der Erinnerung oder mythologische Assoziationsräume, um dann mit spielerisch anmutender Kunstfertigkeit das Phänomen in eine Form zu kleiden, die dessen Wesenskern anschaulich, greifbar, sinnlich erfahrbar macht.
Das können entsorgte Matratzen sein, ein Muff („pelzige silbe/ mit dem gewicht von russischen Romanen“) oder ein Beerdigungs-Gugelhupf. Aus der Gemüseabteilung sind es der Rettich („schwer wie ein unterschenkel apolls“) und der Weißkohl („erschreckend kühl/ und wächsern, kälter als ein chorgestühl“), und natürlich lauert dabei die Gefahr der Überinstrumentierung. Aber Jan Wagner ist alles andere als ein humorloser Poet, und so darf man sich dann wohl ein Schmunzeln mitdenken.
Manche Stücke sind sogar extra dafür gedacht, wie jenes über die Kahlköpfigkeit („strähne“), das Sonett über die kolossale Lederhose des Opas oder die „elegie auf einen lateinlehrer“, der „nur von seneca, catull und taci-/tus zehrte, von schwarzbrot und mintpastille“. Doch auch Rührung kann der Dichter erzeugen, mit verblüffendem Instrumentarium: Die lange „klage um goliath“ weckt ein Mitgefühl für den ermordeten Riesen, das man niemals in Betracht gezogen hätte.
Pflanzen und Tiere werden zu Auslösern kleiner Epiphanien: Weißdorn „ereignet“ sich als „lokal/ begrenzter schneefall“, Klatschmohn ist „ein augensalmiak“; der Marder, „taube um taube entkorkend/ und saufend“, wird mit Gargantua verglichen, das dunkeläugige Kamel reimt sich auf „holzpaneel“ und „raffael“. Den Krähen ist ein wunderbar lautmalerischer Hymnus gewidmet, und auf den Ton des Ziegenmelkers wird man künftig mit poetisch geschärften Ohren lauschen.
Die „kalifornischen sonette“ sind Futter für das innere Kino-Auge, aber farbiger noch, einprägsamer auch als die Nachrichten vom Ganges, aus dem Regenwald oder der Verbotenen Stadt, ist „eine postkarte aus novi sad“. Wieder beeindruckt der poeta doctus durch seinen souveränen Umgang mit dem Formenkanon, Haiku und Ode inbegriffen. Leicht penetrant, wie eine schicke Marotte, wirkt allerdings sein Faible für das morphologische Enjambement, den Zeilensprung per Silbentrennung („taci-/tus“). Aber wie raffiniert ist der Schluss des Sonetts „säge“, bei dem Leibniz um die Ecke lugt!
In der „dornröschen“ - Fantasie schwelgt man wie in einem alten Gemälde, und nie wurde dem Trio „schaf, hahn, ente“ im Heißluftballon der Brüder Montgolfier, Versailles 1783, ein charmanteres Denkmal gesetzt. Bleibt die titelgebende „live butterfly show“, eine Art Freak-Performance, etwas kryptisch, aber makellos geschildert. Nur unter die Oberfläche all der schönen Bilder lässt Wagner sich nicht blicken. Und man fragt sich, ob dort womöglich „Der verschlossene Raum“(so heißt seine letzte Essaysammlung) liegt, in dem er existenzielle Erschütterungen abspeichert.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Jan Wagner: Die Live Butterfly Show. Gedichte. Verlag Hanser Berlin, München 2018. 100 S., 18 Euro.
So liegt er in der
Hand, der Weißkohl:
„erschreckend kühl/
und wächsern, kälter
als ein chorgestühl“
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"Jan Wagner ist derzeit einer der hellsten Sterne am poetischen Himmel in Deutschland. Außerordentlich inspiriert, mit großer Phantasie ausgestattet und einem traumwandlerisch sicheren Griff zu Metaphern und Bildern, schafft dieser Dichter federleichte Gedichte, die bisweilen schwer nachwirken können. Eine absolute Empfehlung." Matthias Ehlers, WDR 5, 20.04.2019
"Jan Wagner gibt den klassischen Motiven der Lyrik eine neue und ungewöhnliche Note. Er hat eine ganz eigene, klare Stimme - eine Art Jan-Wagner-Sound." Mario Scalla, Hessischer Rundfunk, 19.05.2019
"Jan Wagner gibt den klassischen Motiven der Lyrik eine neue und ungewöhnliche Note. Er hat eine ganz eigene, klare Stimme - eine Art Jan-Wagner-Sound." Mario Scalla, Hessischer Rundfunk, 19.05.2019