USA, 1947: Der Krieg ist vorbei. Kino, Musik, Konsum und Reklame prägen den Alltag. Auch auf die 15-jährige Evie machen die Verheißungen der Werbung großen Eindruck. So wie die Frauen auf den Plakaten und Kinoleinwänden will sie sein: unwiderstehlich und schlagfertig. Als der geheimnisvolle Peter, ein ehemaliger Kamerad ihres Stiefvaters Joe, in ihr Leben tritt, sieht Evie ihre Stunde gekommen. Doch Peter und Joe verbindet ein düsteres Geheimnis ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2010Ein Dschungel von Lüge und Verrat
In bester amerikanischer Erzähltradition zeigt Judy Blundell ein Bild der amerikanischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Stunde Null, die Zeit des Vergessens und Verdrängens und Neuanfangens, und die Zeit, endlich, nach all den Entbehrungen, Spaß zu haben. Nicht nur in Deutschland, das in Trümmern lag, sehnte man sich nach neuer Leichtigkeit, sondern auch in den USA, im Land der Sieger, denn auch dort hatte es Entbehrungen gegeben, Leid und Tote. In den Nachkriegsjahren siedelt Judy Blundell ihre Geschichte Die Lügen, die wir erzählten von Liebe und Betrug an. In einer Durchschnittsfamilie, die endlich gut leben will, Geld verdienen, reisen. Stiefvater Joe ist aus dem Krieg zurück, er wird daheim von einem ehemaligen Kameraden telefonisch belästigt, irgendetwas ist da nicht in Ordnung, irgendeine unschöne Geschichte aus dem Krieg kommt hoch. Jedenfalls ergreift Joe die Flucht nach vorn und fährt mit seiner Frau Beverley, der blonden femme fatale, und deren Tochter Evie, in Urlaub. Es ist der erste ihres Lebens. Evie ist 16, findet sich hässlich und langweilig, sie freut sich riesig auf Florida. Palmen, Sonne, Erwachsenwerden – all das will sie, und zwar sofort.
1er ist zu alt für sie, über 20, er sieht toll aus, und er sieht sie. Er nimmt sie wahr, er redet mit ihr, wie ein Mann mit einer Frau redet, nicht wie mit einem Kind. Und auch die Graysons sind neue Bekannte, nette Bekannte, sie wohnen im selben Hotel, man freundet sich an, man macht gemeinsame Ausflüge. Seltsam nur, dass Stiefvater Joe so aggressiv auf Peter reagiert, der seiner Tochter auf spielerische Weise den Hof macht, und seiner schönen, blonden Frau auch. Joe plant derweil ein großes Geschäft mit Mr. Grayson, er will mehr vom Leben, will nicht nur Haushaltsgeräte verkaufen, sondern ins Hotelbusiness einsteigen. Graysons haben ein Hotel in New York, das Hotel in Palm Beach, in dem alle wohnen, steht derzeit zum Verkauf, der Touristenboom der kommenden Jahre ist absehbar – warum nicht nach Florida ziehen und zusammen das Haus übernehmen?
Die Stimmung könnte gut sein, aber sie wird schlechter. Evie verliebt sich unsterblich in Peter, aber der bleibt auf Abstand, ihre Mutter ist immer häufiger allein verschwunden, Joe trinkt zuviel, Mrs. Grayson sitzt nachts heulend am Pool, Mr. Grayson scheint Geldprobleme zu haben. Und Peter macht ständig seltsame Andeutungen über die Vergangenheit Joes in Europa im Krieg, man kannte sich dort offenbar, diente zusammen, aber man mochte sich nicht. Ist Peter der Anrufer, der schon daheim Vater Joe unter Druck setzte?
Judy Blundell erzählt die Geschichte, die in einem tödlichen Showdown und einer spannenden Schlussvolte endet, aus der Sicht von Evie; Mirjam Pressler hat das Buch schwungvoll und einfühlsam übersetzt. Die Frau-Werdung Evies steht im Mittelpunkt des Romans, das hässliche Entlein wird zum Schwan, vor allem aber zu einer Person, die handelt und nicht nur behandelt werden will. Sie erlebt und erleidet den Showdown zwischen den fünf Erwachsenen, sie weint und bangt, aber die Rettung aus dem Dschungel von Lüge und Verrat, sie geht von Evie aus.
Sofern man das Ende dieses lebensklugen, in den USA mit dem National Book Award ausgezeichneten Buches als Rettung bezeichnen kann. Eigentlich geht es mehr um Sühne und um die Anerkenntnis von Schuld. Aber auch um das zu tun, muss man das Leben verstehen – und sehr erwachsen sein. (ab 13 Jahre) CATHRIN KAHLWEIT
Judy Blundell
Die Lügen, die wir erzählten
Ravensburger Buchverlag. Aus dem Englischen von Mirjam Pressler.
290 Seiten, 16,95 Euro.
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In bester amerikanischer Erzähltradition zeigt Judy Blundell ein Bild der amerikanischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Stunde Null, die Zeit des Vergessens und Verdrängens und Neuanfangens, und die Zeit, endlich, nach all den Entbehrungen, Spaß zu haben. Nicht nur in Deutschland, das in Trümmern lag, sehnte man sich nach neuer Leichtigkeit, sondern auch in den USA, im Land der Sieger, denn auch dort hatte es Entbehrungen gegeben, Leid und Tote. In den Nachkriegsjahren siedelt Judy Blundell ihre Geschichte Die Lügen, die wir erzählten von Liebe und Betrug an. In einer Durchschnittsfamilie, die endlich gut leben will, Geld verdienen, reisen. Stiefvater Joe ist aus dem Krieg zurück, er wird daheim von einem ehemaligen Kameraden telefonisch belästigt, irgendetwas ist da nicht in Ordnung, irgendeine unschöne Geschichte aus dem Krieg kommt hoch. Jedenfalls ergreift Joe die Flucht nach vorn und fährt mit seiner Frau Beverley, der blonden femme fatale, und deren Tochter Evie, in Urlaub. Es ist der erste ihres Lebens. Evie ist 16, findet sich hässlich und langweilig, sie freut sich riesig auf Florida. Palmen, Sonne, Erwachsenwerden – all das will sie, und zwar sofort.
1er ist zu alt für sie, über 20, er sieht toll aus, und er sieht sie. Er nimmt sie wahr, er redet mit ihr, wie ein Mann mit einer Frau redet, nicht wie mit einem Kind. Und auch die Graysons sind neue Bekannte, nette Bekannte, sie wohnen im selben Hotel, man freundet sich an, man macht gemeinsame Ausflüge. Seltsam nur, dass Stiefvater Joe so aggressiv auf Peter reagiert, der seiner Tochter auf spielerische Weise den Hof macht, und seiner schönen, blonden Frau auch. Joe plant derweil ein großes Geschäft mit Mr. Grayson, er will mehr vom Leben, will nicht nur Haushaltsgeräte verkaufen, sondern ins Hotelbusiness einsteigen. Graysons haben ein Hotel in New York, das Hotel in Palm Beach, in dem alle wohnen, steht derzeit zum Verkauf, der Touristenboom der kommenden Jahre ist absehbar – warum nicht nach Florida ziehen und zusammen das Haus übernehmen?
Die Stimmung könnte gut sein, aber sie wird schlechter. Evie verliebt sich unsterblich in Peter, aber der bleibt auf Abstand, ihre Mutter ist immer häufiger allein verschwunden, Joe trinkt zuviel, Mrs. Grayson sitzt nachts heulend am Pool, Mr. Grayson scheint Geldprobleme zu haben. Und Peter macht ständig seltsame Andeutungen über die Vergangenheit Joes in Europa im Krieg, man kannte sich dort offenbar, diente zusammen, aber man mochte sich nicht. Ist Peter der Anrufer, der schon daheim Vater Joe unter Druck setzte?
Judy Blundell erzählt die Geschichte, die in einem tödlichen Showdown und einer spannenden Schlussvolte endet, aus der Sicht von Evie; Mirjam Pressler hat das Buch schwungvoll und einfühlsam übersetzt. Die Frau-Werdung Evies steht im Mittelpunkt des Romans, das hässliche Entlein wird zum Schwan, vor allem aber zu einer Person, die handelt und nicht nur behandelt werden will. Sie erlebt und erleidet den Showdown zwischen den fünf Erwachsenen, sie weint und bangt, aber die Rettung aus dem Dschungel von Lüge und Verrat, sie geht von Evie aus.
Sofern man das Ende dieses lebensklugen, in den USA mit dem National Book Award ausgezeichneten Buches als Rettung bezeichnen kann. Eigentlich geht es mehr um Sühne und um die Anerkenntnis von Schuld. Aber auch um das zu tun, muss man das Leben verstehen – und sehr erwachsen sein. (ab 13 Jahre) CATHRIN KAHLWEIT
Judy Blundell
Die Lügen, die wir erzählten
Ravensburger Buchverlag. Aus dem Englischen von Mirjam Pressler.
290 Seiten, 16,95 Euro.
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