Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, Bedeutung und Funktion der Lügenerzählungen des Odysseus genauer zu betrachten, deren Art und Aufgaben sehr unterschiedliche Beurteilungen erfahren haben und die in der Tat viele Fragen aufwerfen. So ist zweifelhaft schon ihre Funktion, die teilweise in einer "geistige(n) Aristie des Helden" gesehen wird. Doch dem steht entgegen, dass ihre Erfolge nur sehr begrenzt sind. Dazu ist Odysseus hier keineswegs nur ein souveräner und geschickter Lügenerzähler. So bleibt durchaus zweifelhaft, worauf der Dichter mit den Lügenerzählungen wirklich abzielt. Neue Kriterien für die Einschätzung der Lügenerzählungen werden hier aus den Gesprächshandlungen gewonnen, die zwischen dem Lügenerzähler und seinem Gegenüber und auf der höheren Ebene zwischen dem Odysseedichter und seinen Zuhörern stattfinden. Die überraschenden Ergebnisse betreffen einmal das Verhältnis der Lügenerzählungen zu den märchenhaften Irrfahrten des Odysseus, dann ihren Bezug auf den aufgelösten Zustand der damaligen Welt, dann ihre wichtige Aufgabe bei der Rechtfertigung der Ermordung der gesamten Freier und das noch mit göttlicher Hilfe. So wird immer deutlicher die besondere Rolle sichtbar, die ihnen innerhalb des neuen Weltbildes des Odysseedichters und dies gerade auch in theologischer Hinsicht zukommt. Da ist es am Ende dann nicht mehr verwunderlich, dass die Lügenerzählungen noch in besonderer Weise an die Zuhörer des Dichters gerichtet sind.