Die Lust am Text - die Veröffentlichung von Roland Barthes war in den 1970er Jahren ein erfolgreicher Weckruf an die Theorie und Praxis der Leser. Die Lust am Buch von Michael Hagner ist ein Weckruf zur Demonstration der unhintergehbaren Rolle des Buches im digitalen Zeitalter. Hier vermischen sich Liebeserklärungen an das Ding Buch mit Einsprüchen gegen Fehlentwicklungen. Auf engstem Raum, in der kurzen Form prallen aufeinander Mikroessays, Lesebilder, Lustschilder und Warnschilder, Buchgeschichten und Anekdoten, die die Lust am Buch auf den eigenen Lebenswegen in Erinnerung rufen. Ein Buch der Lust also, bestehend aus Miniaturen in alphabetischer Unordnung - wie Bücher einer imaginären Bibliothek.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2019Warum nur nennt man Bibliotheken Wissensspeicher?
Michael Hagner unternimmt zehn Durchgänge durch das Alphabet, um die Lust am Buch aufzublättern
In seinem Büchlein "Le plaisir du texte" stellte sich Roland Barthes eine Steigerung dieser Lust am Text bis zur "jouissance", zur Wollust, vor - obwohl sie, schon wegen des spröden Textbegriffs, eigentlich recht calvinistisch daherkam. Die "Lust am Text" nimmt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seinem Buch auf, wenn er drei Linien im Reich der Druckerschwärze kreuzt: die bibliophile Tradition, den Taschenbuch- und Antiquariatskult der sechziger und siebziger Jahre und die Wiederentdeckung des Buchs als Objekt im Moment seines vermeintlichen digitalen Verschwindens.
Alle drei Linien sind, so könnte man meinen, sattsam ausgezogen: Aber Hagner denkt weiter. Zehn Alphabete blättert er dafür auf - von "Anfassen" und "Aufklärung" bis "Zensur" und "Zuschlagen". Darin mischt er persönliche Beobachtungen und Erinnerungen mit philosophischen und literarischen Betrachtungen, wagt sich auch im Gegensatz zu Barthes, der sich in die Zeichenräume seiner Kopfbibliotheken zurückzog, an die Bücherkörper heran. Ermittlungen zur Provenienz eines Buchs aus einem Tel Aviver Kellerantiquariat stehen neben locker gefügten Notizen über Jagdfieber und Strandgut. Hagners Analysen glänzen, wenn sie Scheinalternativen auflösen: Analog oder digital? Authentische Rekonstruktion vergangener Bücherlust oder "Humanismus-Disneyland"?
Kulturpessimismus vermeidet Hagner ebenso wie Digitaleuphorie. Mit melancholischer Neugier fragt er sich stattdessen, warum Bibliotheken irreführend als "Wissensspeicher" bezeichnet werden, wenn sie bloß bedrucktes Papier speichern, und ob wir uns an den Satz "Ich schenke dir ein E-Book" je gewöhnen werden.
Zur Lust am Buch gehört der Mut zur freien Interpretation - mit allen Risiken. Als Barthes schrieb, "Offenheit" sei im Allgemeinen das "Tor zur Dummheit", da hatte er "Open Access" nicht vor Augen. Er sprach nicht vom "accès libre", sondern von der "franchise", nicht vom Zugang zur Schrift, sondern von der Schonungslosigkeit der Rede. Die Öffnung digitaler Eingänge bringt hingegen, wie Hagner zu Recht bemerkt, nicht automatisch die erhoffte Erleuchtung, aber auch nicht zwingend die Verdummung.
Die marxistische Literaturkritik konnte Roland Barthes vorwerfen, seine "Lust am Text" zu wenig sozialhistorisch anzulegen. Wenn Michael Hagner feststellt, im Zeitalter digitaler Zugänglichkeit sei "das Seltene selten geworden", dann versteckt er darin keine elitäre Nostalgie. Sein Programm gewinnt er vielmehr aus den Fotografien, die André Kertész 1971 in dem Buch "On Reading" versammelte. Die Aufnahmen aus fünfzig Jahren zeigen Menschen unterschiedlicher Herkunft, vertieft in Zeitungen, in Bücherkisten stöbernd, auf Dächern und auf Parkbänken lesend. Keinen Moment lang lassen die Bilder daran denken, dass zwischen Lust und Buch ein "oder" gehört.
MARCEL LEPPER
Michael Hagner: "Die Lust am Buch".
Insel Verlag, Berlin 2019. 168 S., geb., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Hagner unternimmt zehn Durchgänge durch das Alphabet, um die Lust am Buch aufzublättern
In seinem Büchlein "Le plaisir du texte" stellte sich Roland Barthes eine Steigerung dieser Lust am Text bis zur "jouissance", zur Wollust, vor - obwohl sie, schon wegen des spröden Textbegriffs, eigentlich recht calvinistisch daherkam. Die "Lust am Text" nimmt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seinem Buch auf, wenn er drei Linien im Reich der Druckerschwärze kreuzt: die bibliophile Tradition, den Taschenbuch- und Antiquariatskult der sechziger und siebziger Jahre und die Wiederentdeckung des Buchs als Objekt im Moment seines vermeintlichen digitalen Verschwindens.
Alle drei Linien sind, so könnte man meinen, sattsam ausgezogen: Aber Hagner denkt weiter. Zehn Alphabete blättert er dafür auf - von "Anfassen" und "Aufklärung" bis "Zensur" und "Zuschlagen". Darin mischt er persönliche Beobachtungen und Erinnerungen mit philosophischen und literarischen Betrachtungen, wagt sich auch im Gegensatz zu Barthes, der sich in die Zeichenräume seiner Kopfbibliotheken zurückzog, an die Bücherkörper heran. Ermittlungen zur Provenienz eines Buchs aus einem Tel Aviver Kellerantiquariat stehen neben locker gefügten Notizen über Jagdfieber und Strandgut. Hagners Analysen glänzen, wenn sie Scheinalternativen auflösen: Analog oder digital? Authentische Rekonstruktion vergangener Bücherlust oder "Humanismus-Disneyland"?
Kulturpessimismus vermeidet Hagner ebenso wie Digitaleuphorie. Mit melancholischer Neugier fragt er sich stattdessen, warum Bibliotheken irreführend als "Wissensspeicher" bezeichnet werden, wenn sie bloß bedrucktes Papier speichern, und ob wir uns an den Satz "Ich schenke dir ein E-Book" je gewöhnen werden.
Zur Lust am Buch gehört der Mut zur freien Interpretation - mit allen Risiken. Als Barthes schrieb, "Offenheit" sei im Allgemeinen das "Tor zur Dummheit", da hatte er "Open Access" nicht vor Augen. Er sprach nicht vom "accès libre", sondern von der "franchise", nicht vom Zugang zur Schrift, sondern von der Schonungslosigkeit der Rede. Die Öffnung digitaler Eingänge bringt hingegen, wie Hagner zu Recht bemerkt, nicht automatisch die erhoffte Erleuchtung, aber auch nicht zwingend die Verdummung.
Die marxistische Literaturkritik konnte Roland Barthes vorwerfen, seine "Lust am Text" zu wenig sozialhistorisch anzulegen. Wenn Michael Hagner feststellt, im Zeitalter digitaler Zugänglichkeit sei "das Seltene selten geworden", dann versteckt er darin keine elitäre Nostalgie. Sein Programm gewinnt er vielmehr aus den Fotografien, die André Kertész 1971 in dem Buch "On Reading" versammelte. Die Aufnahmen aus fünfzig Jahren zeigen Menschen unterschiedlicher Herkunft, vertieft in Zeitungen, in Bücherkisten stöbernd, auf Dächern und auf Parkbänken lesend. Keinen Moment lang lassen die Bilder daran denken, dass zwischen Lust und Buch ein "oder" gehört.
MARCEL LEPPER
Michael Hagner: "Die Lust am Buch".
Insel Verlag, Berlin 2019. 168 S., geb., 14,- [Euro].
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»Ein Buch über das Buch hatte Lichtehberg schon vor 200 Jahren für fatal erklärt; vielleicht hätte er dieses aber durchgehen lassen. Es liest sich gut.« Ulrich Johannes Schneider Süddeutsche Zeitung 20191026