Die Wut auf die Politik wächst. Und mit ihr der Frust und das Unbehagen der Bürger. Carsten Linnemann geht in diesem Buch der Frage nach, warum die Menschen sich von der Politik nicht mehr vertreten oder gar von ihr verraten fühlen. Doch bei dieser mit vielen anschaulichen Beispielen illustrierten Analyse bleibt es nicht. Linnemann hinterfragt auch kritisch, warum der Politikbetrieb häufig auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner agiert oder in die Symbolpolitik flüchtet. Anhand von wichtigen Zukunftsthemen sondiert er zudem Wege, wie das verkrustete Politiksystem aufgebrochen werden kann. Ein offener Blick in den Maschinenraum der Politik von einem der jungen Bundestagsparlamentarier der CDU - ehrlich, streitbar, auf den Punkt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2017Erhard als Feigenblatt
Carsten Linnemann über Ursachen des Politikfrusts
Was kommt dabei heraus, wenn Politiker sich an die Küchentische des Landes setzen und zuhören? Ein Buch zum Beispiel, wie es der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann gerade geschrieben hat. Regelmäßig, schreibt er in der Einleitung, besuche er die Bürger seines Wahlkreis zu Hause. Jahrelang sei die Stimmung bei diesen Küchentischgesprächen eine Mischung aus Unzufriedenheit und Zustimmung gewesen. Zuletzt aber sei die Stimmung gekippt, "in einen generellen Frust und generelles Unverständnis". Um den Ursachen auf die Spur zu kommen, hat er mit Bürgern, Wissenschaftlern, Journalisten, Wirtschafts- und Kirchenleuten gesprochen. Zum ersten Mal fiel Linnemann, der auch Chef der Mittelstandsvereinigung der Union ist, das gewaltige Maß an Unzufriedenheit in der Euro-Krise auf; noch heftiger dann im Flüchtlingssommer 2015. Beide Ereignisse hätten die Entfremdung von Politik und Bürgern verstärkt. "Die machen eh, was sie wollen" - diesen Satz hört der Neununddreißigjährige immer öfter. Und nennt ihn "ein deprimierendes Urteil".
Bei seiner Ursachenforschung streift Linnemann so gut wie alle großen Themen: die Angst vor Armut im Alter, die Gehaltsexzesse in einigen Chefetagen, die Furcht, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze vernichten könnte. Aber auch die Flüchtlingspolitik, die Integrationsprobleme, die Verschleierungsdebatte ("Ein klares Nein zur Komplettverschleierung der Frau ist meiner Meinung nach unerlässlich"), die Sorge vieler Bürger um ihre Sicherheit nach Ereignissen wie der Kölner Silvesternacht.
Weil seine eigentliche Leidenschaft der Wirtschaftspolitik gehört, dreht sich ein zentrales Kapitel seines Buches jedoch um die soziale Marktwirtschaft und deren "Wiedererfindung". Die Finanz- und Wirtschaftskrise habe das Vertrauen der Menschen in das Wirtschaftssystem geschädigt, die Soziale Marktwirtschaft an sich aber habe diese Kritik nicht verdient. Denn: Die Probleme, die er in seinen Küchentischgesprächen aufgetischt bekommt, "resultieren vor allem daraus, dass die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft ganz eindeutig nicht befolgt wurden". Es missfällt ihm, dass die deutsche Wirtschaftspolitik sich "sehr weit vom Grundgerüst der Sozialen Marktwirtschaft entfernt hat". Sie werde häufig nur als "Feigenblatt" in Sonntagsreden benutzt. Linnemann arbeitet sich an sieben Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ab und zeigt, wo gegen sie verstoßen wird. So hält er etwa die Förderung erneuerbarer Energien für eine Verletzung des Preismechanismus, die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank für einen Angriff auf die Geldwertstabilität und das Ausbleiben einer Steuerreform für ein Kratzen am Prinzip Privateigentum.
Die Probleme, die Linnemann aufzeigt, sind wohlbekannt, und auch seine Thesen, wie man ihrer Herr werden könnte, sind nicht die Neuerfindung des Rades - etwa die Forderung, die Mitte der Gesellschaft wieder in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu rücken, langfristiger zu denken und die Parteien unterscheidbarer zu machen. Doch seine 166 Seiten zeigen, dass er gut zugehört hat in seinen Gesprächen.
HENRIKE ROSSBACH
Carsten Linnemann: Die machen eh, was sie wollen. Herder 2017, 166 Seiten, 16,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Carsten Linnemann über Ursachen des Politikfrusts
Was kommt dabei heraus, wenn Politiker sich an die Küchentische des Landes setzen und zuhören? Ein Buch zum Beispiel, wie es der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann gerade geschrieben hat. Regelmäßig, schreibt er in der Einleitung, besuche er die Bürger seines Wahlkreis zu Hause. Jahrelang sei die Stimmung bei diesen Küchentischgesprächen eine Mischung aus Unzufriedenheit und Zustimmung gewesen. Zuletzt aber sei die Stimmung gekippt, "in einen generellen Frust und generelles Unverständnis". Um den Ursachen auf die Spur zu kommen, hat er mit Bürgern, Wissenschaftlern, Journalisten, Wirtschafts- und Kirchenleuten gesprochen. Zum ersten Mal fiel Linnemann, der auch Chef der Mittelstandsvereinigung der Union ist, das gewaltige Maß an Unzufriedenheit in der Euro-Krise auf; noch heftiger dann im Flüchtlingssommer 2015. Beide Ereignisse hätten die Entfremdung von Politik und Bürgern verstärkt. "Die machen eh, was sie wollen" - diesen Satz hört der Neununddreißigjährige immer öfter. Und nennt ihn "ein deprimierendes Urteil".
Bei seiner Ursachenforschung streift Linnemann so gut wie alle großen Themen: die Angst vor Armut im Alter, die Gehaltsexzesse in einigen Chefetagen, die Furcht, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze vernichten könnte. Aber auch die Flüchtlingspolitik, die Integrationsprobleme, die Verschleierungsdebatte ("Ein klares Nein zur Komplettverschleierung der Frau ist meiner Meinung nach unerlässlich"), die Sorge vieler Bürger um ihre Sicherheit nach Ereignissen wie der Kölner Silvesternacht.
Weil seine eigentliche Leidenschaft der Wirtschaftspolitik gehört, dreht sich ein zentrales Kapitel seines Buches jedoch um die soziale Marktwirtschaft und deren "Wiedererfindung". Die Finanz- und Wirtschaftskrise habe das Vertrauen der Menschen in das Wirtschaftssystem geschädigt, die Soziale Marktwirtschaft an sich aber habe diese Kritik nicht verdient. Denn: Die Probleme, die er in seinen Küchentischgesprächen aufgetischt bekommt, "resultieren vor allem daraus, dass die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft ganz eindeutig nicht befolgt wurden". Es missfällt ihm, dass die deutsche Wirtschaftspolitik sich "sehr weit vom Grundgerüst der Sozialen Marktwirtschaft entfernt hat". Sie werde häufig nur als "Feigenblatt" in Sonntagsreden benutzt. Linnemann arbeitet sich an sieben Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ab und zeigt, wo gegen sie verstoßen wird. So hält er etwa die Förderung erneuerbarer Energien für eine Verletzung des Preismechanismus, die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank für einen Angriff auf die Geldwertstabilität und das Ausbleiben einer Steuerreform für ein Kratzen am Prinzip Privateigentum.
Die Probleme, die Linnemann aufzeigt, sind wohlbekannt, und auch seine Thesen, wie man ihrer Herr werden könnte, sind nicht die Neuerfindung des Rades - etwa die Forderung, die Mitte der Gesellschaft wieder in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu rücken, langfristiger zu denken und die Parteien unterscheidbarer zu machen. Doch seine 166 Seiten zeigen, dass er gut zugehört hat in seinen Gesprächen.
HENRIKE ROSSBACH
Carsten Linnemann: Die machen eh, was sie wollen. Herder 2017, 166 Seiten, 16,99 Euro
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