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Wer nicht fähig ist, seine eigenen Toten zu betrauern, kann nicht ehrlich am Leid anderer teilnehmen. Das ist ein tragender Gedanke, von dem Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, sich leiten läßt.

Produktbeschreibung
Wer nicht fähig ist, seine eigenen Toten zu betrauern, kann nicht ehrlich am Leid anderer teilnehmen. Das ist ein tragender Gedanke, von dem Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, sich leiten läßt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2011

Mit offenem Visier
Erika Steinbachs Kampf gegen das Vergessen von Flucht und Vertreibung

Erika Steinbach ist eine Kämpferin. Jede Seite ihres Buches dokumentiert ihre Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen: Zustimmend zitiert sie dieses - auch für sie geltende - Urteil aus Otto Schilys Trauerrede über Peter Glotz, ihren sozialdemokratischen Mitstreiter bei der Vorbereitung eines Zentrums gegen Vertreibungen, dem sie in diesem Buch ein Denkmal setzt. Sie ist aber eine Politikerin, die weiß: Nicht nur die Kontroverse gehört zu Demokratie, sondern auch der Kompromiss. Die Fähigkeit, zum rechten Zeitpunkt beides zu verbinden, macht ihre Durchsetzungsfähigkeit aus. So streitbar und umstritten sie auch ist, so spricht für sie die heute immer weniger zum politischen Repertoire gehörende beständige Wertorientierung politischen Handelns: Wollte man ihre politische Maxime benennen, die auch ein Kernthema des Buches ist, so lautet sie: Menschenrechte sind unteilbar, sie müssen immer und überall gelten. Sie wendet sich vehement dagegen, die Menschenrechte nur "opferspezifisch" zu betrachten, wo doch die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist. Daraus folgt für sie: Mitleid für die Opfer darf nicht hierarchisiert werden. Kein Opfer rechtfertigt ein anderes. Opfergruppen dürfen nicht gegeneinander instrumentalisiert werden.

Nach dem Jahrhundert der millionenfachen Massenmorde, der massenhaften Verbrechen an ganzen Bevölkerungsgruppen ist auch ihr Ziel die Versöhnung. Doch kann sie nur durch Wahrheit erreicht werden. Daraus folgt eine weitere Maxime: Friedliche Koexistenz der europäischen Völker in der Zukunft ist ohne Aufklärung über die Vergangenheit nicht möglich. In dieser Abstraktion würde kaum jemand Erika Steinbach widersprechen, das Problem steckt in der Konkretion, nämlich dem Schicksal der 15 Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches sowie deutschen Siedlungsgebieten in anderen Staaten. Die Politikerin wird flugs zur Historikerin und nennt immer Beispiele für die von ihr beklagte Unkenntnis. So enthalten zwei Kapitel sowie ein bevölkerungsstatistischer Anhang grundlegende Informationen über deutsche Siedlungen sowie Vertreibungen. Sie streut immer wieder Zeugnisse von Vertriebenen über ihre traumatischen Erfahrungen ein und zitiert ausführlich die schriftlichen Erinnerungen ihrer Mutter, für deren Text sie als junge Frau kein besonderes Interesse hatte.

Warum dieser Zugang? Sie will zeigen, wie sie selbst - relativ spät - dazu kam, sich dem Schicksal der Vertriebenen zuzuwenden, mit dem sie als in Ostpreußen 1943 Geborene zunächst nur aufgrund der Kriegsfolgen und schwierigen Integration der Anfangsjahre, allerdings auch durch schlesische Verwandte in Berührung kam. Heimat aber war für sie kein Ort, sondern ihre Mutter. Wie es in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft die Regel war, galt auch das Mitgefühl von Erika Steinbach in den sechziger und siebziger Jahre den Opfern des Nationalsozialismus, ihre Bewunderung galt den Widerstandskämpfern. Konsequent engagierte sie sich gegen Antisemitismus und in deutsch-israelischen Gesellschaften.

Dieser Hinweis ist wichtig: Der immer wieder gegen Frau Steinbach erhobene Vorwurf, sie versuche durch ihr Engagement für die Vertriebenen den Massenmord an den Juden oder andere Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands "zu relativieren", ist ebenso abwegig wie die Behauptung, sie interpretiere das Vertriebenenschicksal ohne die entscheidende Ursache, den Zweiten Weltkrieg. Immer wieder findet sich in ihrem Buch der Hinweis, dass es ohne den vom nationalsozialistischen Deutschland begonnenen Krieg keine Vertreibung gegeben hätte.

Zu Recht betont sie, dass die deutsche Siedlungsgeschichte, aber auch die Nationalitäten- und Minderheitsproblematik nicht erst 1939 oder 1933 beginnen. Und ebenso wenig reduziert sich ihr Engagement auf die deutschen Vertreibungsopfer. Vielmehr hat sie in dem von ihr gemeinsam mit Peter Glotz initiierten "Zentrum gegen Vertreibungen" und in der Ausstellung "Erzwungene Wege" konsequent Vertreibungen und Deportationen anderer Nationalitäten im 20. Jahrhundert thematisiert, darunter auch die deutschen Verbrechen an den Polen: Unter dem Generalgouverneur Frank und den Gauleitern habe das Land "den Anblick eines Schlachthauses" geboten.

So ist es das Anliegen der Autorin erklärbar, sich gegen Diffamierungen zur Wehr zu setzen: Neben den historischen Informationen, neben ihrer Darstellung der heftig umstrittenen Entstehung der Bundesstiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" ist das Buch auch eine Streitschrift. Die "Macht der Erinnerung" richtet sich gegen die Verdrängung eines zentralen Problems der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Autorin verteidigt auch deshalb die Arbeit des Bundes der Vertriebenen (BdV), der in der heutigen Form erst 1957 gegründet wurde, sie stellt die zukunftsweisende Bedeutung der "Charta der Heimatvertriebenen" von 1950 heraus und wendet gegen Kritik ein, man könne sie nur im zeitgenössischen Kontext angemessen würdigen.

Sie schildert die komplexen Wege der Integration in der Bundesrepublik beziehungsweise der DDR und nimmt Stellung zur rechtlichen Problematik von Entschädigungen und der zeitweilig inkonsequenten deutschen Politik. Ein wesentliches Thema bildet der seinerseits unterschiedliche Umgang mit Flucht und Vertreibung in den östlichen Nachbarstaaten. Auch in diesem Bereich setzt sich Frau Steinbach kräftig zur Wehr, wo sie angegriffen wird. Es würde nicht zu ihr passen, wenn sie nicht mit offenem Visier die Frage der 20 Neinstimmen zur definitiven Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1990 ansprechen würde: Man habe damals eine Gesamtregelung aller offenen Fragen gewollt, die in den Zwei-plus-vier-Vereinbarungen in dieser Frage jedoch nicht enthalten sei. Auch sie konstatiert indes, im BdV sei längst klar gewesen, dass an der völkerrechtlichen Anerkennung dieser Grenzziehung kein Weg vorbeiführe.

Das klar akzentuierte und geschriebene Buch, das für die eigene Position zahlreiche "unverdächtige" Zeugen anführt und den Text durch einen Anhang einschlägiger Reden, Kommentare und Korrespondenzen ergänzt, zehrt von jahrzehntelanger politischer Arbeit nach ihrer beruflichen Tätigkeit als Informatikerin und ihrer künstlerischen als Geigerin: Sie arbeitete als Kommunalpolitikerin (bis 1990), als Bundestagsabgeordnete (seit 1990), als (ehrenamtliche) Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (seit 1998). Trotz ihres Engagements in der CDU betont sie die Überparteilichkeit (und die Heterogenität) des BdV, was heftige Kritik am Verhalten einiger Politiker in der Frage der Bundesstiftung nicht ausschließt. Charakteristisch ist, dass sie Willy Brandt gegen zeitgenössische Kritik ihres Verbandes in Schutz nimmt - hatte sich der SPD-Politiker doch seinerseits gegen Legendenbildung verwahrt: Der Warschauer Vertrag von 1970 sei keine nachträgliche Legitimierung von Unrecht, Gewalt und Vertreibung!

HORST MÖLLER.

Erika Steinbach: Die Macht der Erinnerung. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. Universitas Verlag, München/Wien 2011. 258 S., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der hier rezensierende Horst Möller schätzt Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, als Kämpferin, die immer bereit ist, "gegen den Strom zu schwimmen". Ihr seines Erachtens "klar akzentuierte" Buch befasst sich mit einer Vielzahl an Themen wie etwa die Integration der Bundesrepublik oder das gemeinsam mit Peter Glotz initiierte "Zentrum gegen Vertreibungen". Dabei belegt das Werk für ihn die Abwegigkeit von Behauptungen, Steinbach relativiere den Holocaust und andere Verbrechen Nazi-Deutschlands. Auch der Vorwurf, sie interpretiere das Vertriebenenschicksal ohne die Ursache, den Zweiten Weltkrieg, in Rechnung zu stellen, scheint Möller nicht haltbar.

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