Weltpolitik ist auch Geopolitik. Alle Regierungen, alle Staatschefs unterliegen den Zwängen der Geographie. Berge und Ebenen, Flüsse, Meere, Wüsten setzen ihrem Entscheidungsspielraum Grenzen. Um Geschichte und Politik zu verstehen, muss man selbstverständlich die Menschen, die Ideen, die Einstellungen kennen. Aber wenn man die Geographie nicht mit einbezieht, bekommt man kein vollständiges Bild. Zum Beispiel Russland: Von den Moskauer Großfürsten über Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen und Stalin bis hin zu Wladimir Putin sah sich jeder russische Staatschef denselben geostrategischen Problemen ausgesetzt, egal ob im Zarismus, im Kommunismus oder im kapitalistischen Nepotismus. Die meisten Häfen frieren immer noch ein halbes Jahr zu. Nicht gut für die Marine. Die nordeuropäische Tiefebene von der Nordsee bis zum Ural ist immer noch flach. Jeder kann durchmarschieren.
Russland, China, die USA, Europa, Afrika, Lateinamerika, der Nahe Osten, Indien und Pakistan, Japan und Korea, die Arktis und Grönland: In zehn Kapiteln zeigt Tim Marshall, wie die Geographie die Weltpolitik beeinflusst und beeinflusst hat.
Russland, China, die USA, Europa, Afrika, Lateinamerika, der Nahe Osten, Indien und Pakistan, Japan und Korea, die Arktis und Grönland: In zehn Kapiteln zeigt Tim Marshall, wie die Geographie die Weltpolitik beeinflusst und beeinflusst hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2016Karten und Gebiete
Tim Marshall plädiert für geopolitischen Realismus
Als der amerikanische Präsident Barack Obama 2014 Russland "bloß eine Regionalmacht" nannte, war das vielleicht nicht sonderlich charmant oder diplomatisch geschickt, aber falsch war es nicht. Die Vereinigten Staaten haben sich vor, während und nach dem Kalten Krieg als einzig verbleibende Supermacht durchgesetzt. Und das lag auch an den geographischen Gegebenheiten. Die Vereinigten Staaten sind das Glückskind der Natur: Die Ostküstenebene hat natürliche Häfen und fruchtbare Böden, dahinter schlängeln sich durch das Mississippibecken große, schiffbare Flüsse. Im Norden haben das unwegsame Gelände des Kanadischen Schilds und im Südwesten die Wüste für Voraussetzungen gesorgt, dass die amerikanischen Siedler ihr Land erobern und es zu einer Großmacht werden konnte.
Anders Russland: Das Land ist riesig - vielleicht zu riesig, um in allen Winkeln von Moskau aus effektiv kontrolliert werden zu können -, aber es hat keinen eisfreien Hafen mit direktem Zugang zu den weltweiten Seewegen, und ihm fehlt noch immer die militärische Kapazität, in Kriegszeiten den Atlantik durch Ost- und Nordsee oder durch das Schwarze Meer und das Mittelmeer zu erreichen.
Es war lange Zeit verpönt, politische Einsichten und Schlussfolgerungen aus der Betrachtung der geographischen Gegebenheiten zu ziehen, scheint sie doch einer fatalistisch anmutenden Weltsicht zu entsprechen: Nicht der (hoffentlich) vernünftige Mensch bestimmt die politischen Geschicke, sondern das Land, auf dem er steht, also das Schicksal. Und ohne Zweifel hat der auf den Boden gerichtete Blick Schlimmes hervorgebracht: In Deutschland fürchtete man sich lange davor, über die flache nordeuropäische Tiefebene aus Osten und Westen angegriffen zu werden, was den präventiven Angriff rechtfertigen musste.
Der britische Journalist Tim Marshall verschweigt die dunklen Seiten nicht, plädiert aber in seinem Buch trotzdem dafür, der Geopolitik wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn durch sie könne man etwas besser verstehen, warum Afrikas Entwicklung nur so schleppend vorankommt, Syriens Bürgerkrieg so schwierig zu befrieden ist und sich alle um die Arktis streiten.
Anhand von zehn Karten schaut Tim Marshall auf nahezu jeden Punkt der Erde. Durchaus kenntnisreich führt er die Fäden zusammen, zum Beispiel im Fall Südamerikas: So wie die Geographie den Vereinigten Staaten half, zur Großmacht aufzusteigen, so sorgt diese auch dafür, dass keiner der zwanzig Staaten im Süden des Kontinents groß genug werden kann, um den nordamerikanischen Giganten ernsthaft herauszufordern. Mexiko sei zwar dabei, zu einer Regionalmacht heranzuwachsen, aber es werde immer Wüste im Norden, die Berge im Osten und den Dschungel im Süden haben, die sein Wirtschaftswachstum physisch einschränken. Südamerika ist zwar ein sehr großer Kontinent, aber geprägt durch die 7500 Kilometer langen Anden, die größtenteils nicht zu überqueren sind und viele Gebiete im Westen des Kontinents vom Osten abschneiden.
Natürlich können Gebirgsketten, Rohstoffe und klimatische Verhältnisse nur ein Erklärungsfaktor unter vielen sein, und meistens ist dieser Faktor auch nicht der wichtigste, um die politische und wirtschaftliche Lage von Ländern und Regionen zu erhellen. In Zeitläuften, in denen da und dort der Vorstellung einer Abschaffung nationalstaatlicher Grenzen nachgehangen wird, ist es aber vielleicht gut, faktische Gegebenheiten staatlicher Gebilde deutlich zu machen. Vielleicht erübrigt sich Geopolitik ja im Weltraum? Nein, meint Tim Marshall. Da habe der Kampf um Territorium gerade erst begonnen.
MONA JAEGER
Tim Marshall: "Die Macht der Geographie". Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt.
dtv-Verlagsgesellschaft, München 2015. 304 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tim Marshall plädiert für geopolitischen Realismus
Als der amerikanische Präsident Barack Obama 2014 Russland "bloß eine Regionalmacht" nannte, war das vielleicht nicht sonderlich charmant oder diplomatisch geschickt, aber falsch war es nicht. Die Vereinigten Staaten haben sich vor, während und nach dem Kalten Krieg als einzig verbleibende Supermacht durchgesetzt. Und das lag auch an den geographischen Gegebenheiten. Die Vereinigten Staaten sind das Glückskind der Natur: Die Ostküstenebene hat natürliche Häfen und fruchtbare Böden, dahinter schlängeln sich durch das Mississippibecken große, schiffbare Flüsse. Im Norden haben das unwegsame Gelände des Kanadischen Schilds und im Südwesten die Wüste für Voraussetzungen gesorgt, dass die amerikanischen Siedler ihr Land erobern und es zu einer Großmacht werden konnte.
Anders Russland: Das Land ist riesig - vielleicht zu riesig, um in allen Winkeln von Moskau aus effektiv kontrolliert werden zu können -, aber es hat keinen eisfreien Hafen mit direktem Zugang zu den weltweiten Seewegen, und ihm fehlt noch immer die militärische Kapazität, in Kriegszeiten den Atlantik durch Ost- und Nordsee oder durch das Schwarze Meer und das Mittelmeer zu erreichen.
Es war lange Zeit verpönt, politische Einsichten und Schlussfolgerungen aus der Betrachtung der geographischen Gegebenheiten zu ziehen, scheint sie doch einer fatalistisch anmutenden Weltsicht zu entsprechen: Nicht der (hoffentlich) vernünftige Mensch bestimmt die politischen Geschicke, sondern das Land, auf dem er steht, also das Schicksal. Und ohne Zweifel hat der auf den Boden gerichtete Blick Schlimmes hervorgebracht: In Deutschland fürchtete man sich lange davor, über die flache nordeuropäische Tiefebene aus Osten und Westen angegriffen zu werden, was den präventiven Angriff rechtfertigen musste.
Der britische Journalist Tim Marshall verschweigt die dunklen Seiten nicht, plädiert aber in seinem Buch trotzdem dafür, der Geopolitik wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn durch sie könne man etwas besser verstehen, warum Afrikas Entwicklung nur so schleppend vorankommt, Syriens Bürgerkrieg so schwierig zu befrieden ist und sich alle um die Arktis streiten.
Anhand von zehn Karten schaut Tim Marshall auf nahezu jeden Punkt der Erde. Durchaus kenntnisreich führt er die Fäden zusammen, zum Beispiel im Fall Südamerikas: So wie die Geographie den Vereinigten Staaten half, zur Großmacht aufzusteigen, so sorgt diese auch dafür, dass keiner der zwanzig Staaten im Süden des Kontinents groß genug werden kann, um den nordamerikanischen Giganten ernsthaft herauszufordern. Mexiko sei zwar dabei, zu einer Regionalmacht heranzuwachsen, aber es werde immer Wüste im Norden, die Berge im Osten und den Dschungel im Süden haben, die sein Wirtschaftswachstum physisch einschränken. Südamerika ist zwar ein sehr großer Kontinent, aber geprägt durch die 7500 Kilometer langen Anden, die größtenteils nicht zu überqueren sind und viele Gebiete im Westen des Kontinents vom Osten abschneiden.
Natürlich können Gebirgsketten, Rohstoffe und klimatische Verhältnisse nur ein Erklärungsfaktor unter vielen sein, und meistens ist dieser Faktor auch nicht der wichtigste, um die politische und wirtschaftliche Lage von Ländern und Regionen zu erhellen. In Zeitläuften, in denen da und dort der Vorstellung einer Abschaffung nationalstaatlicher Grenzen nachgehangen wird, ist es aber vielleicht gut, faktische Gegebenheiten staatlicher Gebilde deutlich zu machen. Vielleicht erübrigt sich Geopolitik ja im Weltraum? Nein, meint Tim Marshall. Da habe der Kampf um Territorium gerade erst begonnen.
MONA JAEGER
Tim Marshall: "Die Macht der Geographie". Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt.
dtv-Verlagsgesellschaft, München 2015. 304 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mona Jaeger weiß, dass die Geopolitik lange Zeit nicht besonders hoch im Kurs stand. Auch jetzt würde sie sie immer noch überbewerten, doch von Tim Marshall lässt sie sich gern noch einmal darauf hinweisen, welche Bedeutung natürliche Häfen, schiffbare Flüsse, Gebirgsketten und Rohstoffe für die politische Position eines Landes haben. Das alles erscheint ihr nicht sonderlich neu, aber gut auf den Punkt gebracht: Wer die Kontrolle über die Seewege hat, wie die nordeuropäische Tiefebene einen Panzervormarsch ermöglicht und warum die USA das Glückskind der Natur sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Nach dieser Lektüre erscheinen einem Landkarten wichtiger denn je zu sein. Versprochen!"
Bernhard Lübbers, Mittelbayerische Zeitung am Sonntag 14. August 2016
Bernhard Lübbers, Mittelbayerische Zeitung am Sonntag 14. August 2016