Weltpolitik ist auch Geopolitik. Alle Regierungen, alle Staatschefs unterliegen den Zwängen der Geographie. Berge und Ebenen, Flüsse, Meere, Wüsten setzen ihrem Entscheidungsspielraum Grenzen. Um Geschichte und Politik zu verstehen, muss man selbstverständlich die Menschen, die Ideen, die Einstellungen kennen. Aber wenn man die Geographie nicht mit einbezieht, bekommt man kein vollständiges Bild. Zum Beispiel Russland: Von den Moskauer Großfürsten über Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen und Stalin bis hin zu Wladimir Putin sah sich jeder russische Staatschef denselben geostrategischen Problemen ausgesetzt, egal ob im Zarismus, im Kommunismus oder im kapitalistischen Nepotismus. Die meisten Häfen frieren immer noch ein halbes Jahr zu. Nicht gut für die Marine. Die nordeuropäische Tiefebene von der Nordsee bis zum Ural ist immer noch flach. Jeder kann durchmarschieren.
Russland, China, die USA, Europa, Afrika, Lateinamerika, der Nahe Osten, Indien und Pakistan, Japan und Korea, die Arktis und Grönland: In zehn Kapiteln zeigt Tim Marshall, wie die Geographie die Weltpolitik beeinflusst und beeinflusst hat.
Russland, China, die USA, Europa, Afrika, Lateinamerika, der Nahe Osten, Indien und Pakistan, Japan und Korea, die Arktis und Grönland: In zehn Kapiteln zeigt Tim Marshall, wie die Geographie die Weltpolitik beeinflusst und beeinflusst hat.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.05.2016Von Grenzen und Brücken
Landkarten können mehr über Geschichte und Politik, über Trennendes und Verbindendes erzählen als manch dicker Wälzer.
Doch dazu müssen Kartografie und Erklärungen harmonieren. Ein Überblick
VON WERNER HORNUNG
Die kartografische Verblödung nimmt zu, das geografische Wissen schwindet. Großformatige Orientierungshilfen wie der „Diercke Weltatlas“ mit seiner Vielzahl und Vielfalt an Karten werden kaum mehr aufgeblättert. Der Blick fällt eher aufs kleinformatige Smartphone-Display zu den Google Maps oder man begnügt sich mit dem schmalspurigen Tunnelblick des Navigationsgerätes. Dabei sind doch Atlanten eine wunderbare Lektüre. Unsere Neugierde kann Seite für Seite ausufern, kann unkontrolliert Grenzen überschreiten. Der Fantasie sind keine Schranken gesetzt, trotzdem wird sie nicht bodenlos, dafür sorgen topografische, thematische und politische Karten. Vierundvierzig solcher Kartenausschnitte finden sich nun zusammen mit informativen Texten in einem lesenswerten und zugleich schönem Buch, das der Schweizer Journalist David Signer herausgegeben hat: „Grenzen erzählen Geschichten. Was Landkarten offenbaren“.
Es sind geopolitische Kurzgeschichten, verfasst von 16 Redakteuren und Auslandskorrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung. Ihr vorgegebenes Thema war stets gleich, aber ihre teils kuriosen Storys aus allen Ecken der Welt fallen höchst unterschiedlich aus, weil die Zustände vor Ort und entlang der Grenzen so verschieden sind. Zum Beispiel sieht es seit 1953 geradezu martialisch an der streng bewachten Waffenstillstandslinie zwischen Nord- und Südkorea aus. Ganz friedlich und zudem weniger bekannt ist dagegen der genaue Grenzverlauf zwischen Italien und der Vatikanstadt, der teilweise über den Petersplatz und dann mitten durch die Audienzhalle des Papstes führt.
Natürlich erfährt der Leser nicht bloß Zahlen, Daten und Fakten, es wird auch die momentane Situation geschildert und dazu der historische Hintergrund geliefert. Schließlich will der Leser ja wissen, wie etwa der im Nordosten Indiens gelegene Siliguri-Korridor (wegen seiner Form „Hühnerhals“ genannt) 1947 durch britische Schludrigkeit zustande kam oder warum 1890 Reichskanzler Caprivi die Grenzen von Deutsch-Südwestafrika mit einem Federstrich erweitern konnte. Ein bisschen weniger Geschichte, dafür einen genaueren Blick auf die Gegenwart wünscht man sich im Beitrag zur spanischen Exklave Ceuta, die an der marokkanischen Mittelmeerküste gegenüber von Gibraltar liegt. Diese Stadt markiert „die Kulturgrenze – oder Kulturbrücke – zwischen der christlichen und der muslimischen Welt“; hier hätte der Autor noch hinzufügen müssen, dass Ceuta heute für viele afrikanische Migranten ein begehrter Zwischenstopp ist, den allerdings ein 24 Kilometer langer, sechs Meter hoher Grenzzaun umgibt.
Mit Stacheldraht bewehrten Barrieren beschäftigt sich Tim Marshall nicht, das deutet bereits der Titel seines Buches an: „Die Macht der Geographie“. Dem englischen Journalisten sind natürliche Grenzen und geografische Besonderheiten wichtiger, weil sie – so seine These – den Rahmen für politisches Handeln abstecken: Meere und ihr Klima, schiffbare Flussläufe, weite Ebenen oder Gebirgszüge wie der Himalaja, die Frieden stiftend zwischen den Großmächten China und Indien liegen. Auf das variantenreiche Zusammenspiel von Geografie und Politik wurde der Autor aufmerksam, als er für den TV-Sender Sky News in zahlreichen Ländern unterwegs war. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus dieser Zeit sind nachzulesen in zehn Kapiteln. Wobei in der deutschen Übersetzung das lobende Vorwort von Sir John Scarlett fehlt, ehemals Chef des britischen Geheimdienstes MI 6.
Mit dem Untertitel „Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt“ verspricht Tim Marshall viel; und relativ viel wird uns geboten: eine Fülle an detailreichen Informationen, anschaulichen Impressionen und pointierten Resümees. Zum Beispiel zu Russland: „Vom Großfürstentum Moskau über Peter den Großen bis zu Stalin und heute Putin sah sich jeder russische Führer den gleichen Problemen gegenüber. Es ist egal, ob die Ideologie jener, die die Macht haben, zaristisch, kommunistisch oder nepotistisch ist – die Häfen frieren immer noch zu und die nordeuropäische Tiefebene ist weiterhin flach.“ Die dazugehörige Doppelseite in diffusem Blaugrau ist allerdings beinah eine kartografische Katastrophe. Einige Länderbezeichnungen sind kaum lesbar und ausgerechnet die Staatsgrenze der Ukraine ist unvollständig eingezeichnet.
Da all die anderen Karten ebenfalls keine großartige Orientierungshilfe leisten, sei als Parallellektüre nochmals der neu bearbeitete „Diercke Weltatlas“ empfohlen. Dort können zweifelnde Leser außerdem überprüfen, wo der Gelbe Fluss und der Jangtsekiang tatsächlich entspringen, von denen es fehlerhaft heißt: „die beide von Ost nach West fließen“. Mit Yin und Yang hat das wenig zu tun, eher mit einem Reporter, der zwar das neokoloniale Verhalten chinesischer Unternehmen in Afrika treffend beschreibt, jedoch in der Volksrepublik nicht sorgfältig genug recherchiert hat. Dabei hätte Tim Marshall feststellen können, dass es nicht bloß „Die Macht der Geographie“ gibt. Die Kartografie prägt ebenso Menschen und ihr Weltbild. Schon wenn chinesische Schüler ihre Bücher aufschlagen, haben sie eine ganz anders gestaltete Weltkarte vor sich als wir. Auf ihr liegen Europa am westlichen und Amerika am östlichen Rand, dazwischen der Indische Ozean, der Pazifik und eben sie selbst. Kein Wunder, wenn die Leute hinter der Großen Mauer ihre Heimat seit Langem „zhong guo“ (Reich der Mitte) nennen – und entsprechend denken.
Ein bisschen viel Fachchinesisch bietet eine weitere Neuerscheinung; sie stammt von einem deutsch-französischen Forscherteam und ihr Titel kommt einem zunächst spanisch vor: „Phantomgrenzen“. Damit sind Markierungen gemeint, die auf thematisch gefertigten Spezialkarten zu finden sind. Sie verdeutlichen politische, soziale oder kulturelle Merkmale eines abgegrenzten Gebietes. Ein seltenes Beispiel aus den sonst oft abstrakt formulierten Beiträgen veranschaulicht das etwas genauer, es ist eine „Karte der Wasserhähne im ländlichen Rumänien“. Sie zeigt exemplarisch den deutlichen Unterschied beim Lebensstandard in verschieden entwickelten Regionen. Ansonsten dokumentiert dieser sparsam illustrierte Band vorwiegend die sozialwissenschaftliche Diskussion, wie durch neue Methoden bessere geopolitische Forschungsergebnisse erreicht werden können. Ein Buch fürs interessierte Fachpublikum, das sich nicht an ellenlangen Fußnoten und Sprachbarrieren stört.
Werner Hornung bespricht seit fast fünfzig Jahren politische Bücher und kartografische Literatur.
Die Kartografie bietet
Orientierung, prägt aber auch
Menschen und ihr Weltbild
Ihre Sicht der Welt: Besucher in der Stadt Chongqing spazieren über eine Weltkarte, dunkel eingefärbt China.
Foto: AfP
David Signer (Hrsg.): Grenzen erzählen Geschichten. Was Landkarten offenbaren. Verlag NZZ libro Zürich, 2. Auflage 2016. 136 Seiten, 29 Franken.
Tim Marshall:
Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. Aus dem Englischen von Birgit Brandau. dtv München, 5. Auflage 2016. 304 Seiten, 22,90 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
Béatrice von Hirschhausen, Hannes Grandits, Claudia Kraft, u. a.:
Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken. Wallstein-Verlag Göttingen 2015. 224 Seiten, 19,90 Euro. E-Book: 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Landkarten können mehr über Geschichte und Politik, über Trennendes und Verbindendes erzählen als manch dicker Wälzer.
Doch dazu müssen Kartografie und Erklärungen harmonieren. Ein Überblick
VON WERNER HORNUNG
Die kartografische Verblödung nimmt zu, das geografische Wissen schwindet. Großformatige Orientierungshilfen wie der „Diercke Weltatlas“ mit seiner Vielzahl und Vielfalt an Karten werden kaum mehr aufgeblättert. Der Blick fällt eher aufs kleinformatige Smartphone-Display zu den Google Maps oder man begnügt sich mit dem schmalspurigen Tunnelblick des Navigationsgerätes. Dabei sind doch Atlanten eine wunderbare Lektüre. Unsere Neugierde kann Seite für Seite ausufern, kann unkontrolliert Grenzen überschreiten. Der Fantasie sind keine Schranken gesetzt, trotzdem wird sie nicht bodenlos, dafür sorgen topografische, thematische und politische Karten. Vierundvierzig solcher Kartenausschnitte finden sich nun zusammen mit informativen Texten in einem lesenswerten und zugleich schönem Buch, das der Schweizer Journalist David Signer herausgegeben hat: „Grenzen erzählen Geschichten. Was Landkarten offenbaren“.
Es sind geopolitische Kurzgeschichten, verfasst von 16 Redakteuren und Auslandskorrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung. Ihr vorgegebenes Thema war stets gleich, aber ihre teils kuriosen Storys aus allen Ecken der Welt fallen höchst unterschiedlich aus, weil die Zustände vor Ort und entlang der Grenzen so verschieden sind. Zum Beispiel sieht es seit 1953 geradezu martialisch an der streng bewachten Waffenstillstandslinie zwischen Nord- und Südkorea aus. Ganz friedlich und zudem weniger bekannt ist dagegen der genaue Grenzverlauf zwischen Italien und der Vatikanstadt, der teilweise über den Petersplatz und dann mitten durch die Audienzhalle des Papstes führt.
Natürlich erfährt der Leser nicht bloß Zahlen, Daten und Fakten, es wird auch die momentane Situation geschildert und dazu der historische Hintergrund geliefert. Schließlich will der Leser ja wissen, wie etwa der im Nordosten Indiens gelegene Siliguri-Korridor (wegen seiner Form „Hühnerhals“ genannt) 1947 durch britische Schludrigkeit zustande kam oder warum 1890 Reichskanzler Caprivi die Grenzen von Deutsch-Südwestafrika mit einem Federstrich erweitern konnte. Ein bisschen weniger Geschichte, dafür einen genaueren Blick auf die Gegenwart wünscht man sich im Beitrag zur spanischen Exklave Ceuta, die an der marokkanischen Mittelmeerküste gegenüber von Gibraltar liegt. Diese Stadt markiert „die Kulturgrenze – oder Kulturbrücke – zwischen der christlichen und der muslimischen Welt“; hier hätte der Autor noch hinzufügen müssen, dass Ceuta heute für viele afrikanische Migranten ein begehrter Zwischenstopp ist, den allerdings ein 24 Kilometer langer, sechs Meter hoher Grenzzaun umgibt.
Mit Stacheldraht bewehrten Barrieren beschäftigt sich Tim Marshall nicht, das deutet bereits der Titel seines Buches an: „Die Macht der Geographie“. Dem englischen Journalisten sind natürliche Grenzen und geografische Besonderheiten wichtiger, weil sie – so seine These – den Rahmen für politisches Handeln abstecken: Meere und ihr Klima, schiffbare Flussläufe, weite Ebenen oder Gebirgszüge wie der Himalaja, die Frieden stiftend zwischen den Großmächten China und Indien liegen. Auf das variantenreiche Zusammenspiel von Geografie und Politik wurde der Autor aufmerksam, als er für den TV-Sender Sky News in zahlreichen Ländern unterwegs war. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus dieser Zeit sind nachzulesen in zehn Kapiteln. Wobei in der deutschen Übersetzung das lobende Vorwort von Sir John Scarlett fehlt, ehemals Chef des britischen Geheimdienstes MI 6.
Mit dem Untertitel „Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt“ verspricht Tim Marshall viel; und relativ viel wird uns geboten: eine Fülle an detailreichen Informationen, anschaulichen Impressionen und pointierten Resümees. Zum Beispiel zu Russland: „Vom Großfürstentum Moskau über Peter den Großen bis zu Stalin und heute Putin sah sich jeder russische Führer den gleichen Problemen gegenüber. Es ist egal, ob die Ideologie jener, die die Macht haben, zaristisch, kommunistisch oder nepotistisch ist – die Häfen frieren immer noch zu und die nordeuropäische Tiefebene ist weiterhin flach.“ Die dazugehörige Doppelseite in diffusem Blaugrau ist allerdings beinah eine kartografische Katastrophe. Einige Länderbezeichnungen sind kaum lesbar und ausgerechnet die Staatsgrenze der Ukraine ist unvollständig eingezeichnet.
Da all die anderen Karten ebenfalls keine großartige Orientierungshilfe leisten, sei als Parallellektüre nochmals der neu bearbeitete „Diercke Weltatlas“ empfohlen. Dort können zweifelnde Leser außerdem überprüfen, wo der Gelbe Fluss und der Jangtsekiang tatsächlich entspringen, von denen es fehlerhaft heißt: „die beide von Ost nach West fließen“. Mit Yin und Yang hat das wenig zu tun, eher mit einem Reporter, der zwar das neokoloniale Verhalten chinesischer Unternehmen in Afrika treffend beschreibt, jedoch in der Volksrepublik nicht sorgfältig genug recherchiert hat. Dabei hätte Tim Marshall feststellen können, dass es nicht bloß „Die Macht der Geographie“ gibt. Die Kartografie prägt ebenso Menschen und ihr Weltbild. Schon wenn chinesische Schüler ihre Bücher aufschlagen, haben sie eine ganz anders gestaltete Weltkarte vor sich als wir. Auf ihr liegen Europa am westlichen und Amerika am östlichen Rand, dazwischen der Indische Ozean, der Pazifik und eben sie selbst. Kein Wunder, wenn die Leute hinter der Großen Mauer ihre Heimat seit Langem „zhong guo“ (Reich der Mitte) nennen – und entsprechend denken.
Ein bisschen viel Fachchinesisch bietet eine weitere Neuerscheinung; sie stammt von einem deutsch-französischen Forscherteam und ihr Titel kommt einem zunächst spanisch vor: „Phantomgrenzen“. Damit sind Markierungen gemeint, die auf thematisch gefertigten Spezialkarten zu finden sind. Sie verdeutlichen politische, soziale oder kulturelle Merkmale eines abgegrenzten Gebietes. Ein seltenes Beispiel aus den sonst oft abstrakt formulierten Beiträgen veranschaulicht das etwas genauer, es ist eine „Karte der Wasserhähne im ländlichen Rumänien“. Sie zeigt exemplarisch den deutlichen Unterschied beim Lebensstandard in verschieden entwickelten Regionen. Ansonsten dokumentiert dieser sparsam illustrierte Band vorwiegend die sozialwissenschaftliche Diskussion, wie durch neue Methoden bessere geopolitische Forschungsergebnisse erreicht werden können. Ein Buch fürs interessierte Fachpublikum, das sich nicht an ellenlangen Fußnoten und Sprachbarrieren stört.
Werner Hornung bespricht seit fast fünfzig Jahren politische Bücher und kartografische Literatur.
Die Kartografie bietet
Orientierung, prägt aber auch
Menschen und ihr Weltbild
Ihre Sicht der Welt: Besucher in der Stadt Chongqing spazieren über eine Weltkarte, dunkel eingefärbt China.
Foto: AfP
David Signer (Hrsg.): Grenzen erzählen Geschichten. Was Landkarten offenbaren. Verlag NZZ libro Zürich, 2. Auflage 2016. 136 Seiten, 29 Franken.
Tim Marshall:
Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. Aus dem Englischen von Birgit Brandau. dtv München, 5. Auflage 2016. 304 Seiten, 22,90 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
Béatrice von Hirschhausen, Hannes Grandits, Claudia Kraft, u. a.:
Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken. Wallstein-Verlag Göttingen 2015. 224 Seiten, 19,90 Euro. E-Book: 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2016Karten und Gebiete
Tim Marshall plädiert für geopolitischen Realismus
Als der amerikanische Präsident Barack Obama 2014 Russland "bloß eine Regionalmacht" nannte, war das vielleicht nicht sonderlich charmant oder diplomatisch geschickt, aber falsch war es nicht. Die Vereinigten Staaten haben sich vor, während und nach dem Kalten Krieg als einzig verbleibende Supermacht durchgesetzt. Und das lag auch an den geographischen Gegebenheiten. Die Vereinigten Staaten sind das Glückskind der Natur: Die Ostküstenebene hat natürliche Häfen und fruchtbare Böden, dahinter schlängeln sich durch das Mississippibecken große, schiffbare Flüsse. Im Norden haben das unwegsame Gelände des Kanadischen Schilds und im Südwesten die Wüste für Voraussetzungen gesorgt, dass die amerikanischen Siedler ihr Land erobern und es zu einer Großmacht werden konnte.
Anders Russland: Das Land ist riesig - vielleicht zu riesig, um in allen Winkeln von Moskau aus effektiv kontrolliert werden zu können -, aber es hat keinen eisfreien Hafen mit direktem Zugang zu den weltweiten Seewegen, und ihm fehlt noch immer die militärische Kapazität, in Kriegszeiten den Atlantik durch Ost- und Nordsee oder durch das Schwarze Meer und das Mittelmeer zu erreichen.
Es war lange Zeit verpönt, politische Einsichten und Schlussfolgerungen aus der Betrachtung der geographischen Gegebenheiten zu ziehen, scheint sie doch einer fatalistisch anmutenden Weltsicht zu entsprechen: Nicht der (hoffentlich) vernünftige Mensch bestimmt die politischen Geschicke, sondern das Land, auf dem er steht, also das Schicksal. Und ohne Zweifel hat der auf den Boden gerichtete Blick Schlimmes hervorgebracht: In Deutschland fürchtete man sich lange davor, über die flache nordeuropäische Tiefebene aus Osten und Westen angegriffen zu werden, was den präventiven Angriff rechtfertigen musste.
Der britische Journalist Tim Marshall verschweigt die dunklen Seiten nicht, plädiert aber in seinem Buch trotzdem dafür, der Geopolitik wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn durch sie könne man etwas besser verstehen, warum Afrikas Entwicklung nur so schleppend vorankommt, Syriens Bürgerkrieg so schwierig zu befrieden ist und sich alle um die Arktis streiten.
Anhand von zehn Karten schaut Tim Marshall auf nahezu jeden Punkt der Erde. Durchaus kenntnisreich führt er die Fäden zusammen, zum Beispiel im Fall Südamerikas: So wie die Geographie den Vereinigten Staaten half, zur Großmacht aufzusteigen, so sorgt diese auch dafür, dass keiner der zwanzig Staaten im Süden des Kontinents groß genug werden kann, um den nordamerikanischen Giganten ernsthaft herauszufordern. Mexiko sei zwar dabei, zu einer Regionalmacht heranzuwachsen, aber es werde immer Wüste im Norden, die Berge im Osten und den Dschungel im Süden haben, die sein Wirtschaftswachstum physisch einschränken. Südamerika ist zwar ein sehr großer Kontinent, aber geprägt durch die 7500 Kilometer langen Anden, die größtenteils nicht zu überqueren sind und viele Gebiete im Westen des Kontinents vom Osten abschneiden.
Natürlich können Gebirgsketten, Rohstoffe und klimatische Verhältnisse nur ein Erklärungsfaktor unter vielen sein, und meistens ist dieser Faktor auch nicht der wichtigste, um die politische und wirtschaftliche Lage von Ländern und Regionen zu erhellen. In Zeitläuften, in denen da und dort der Vorstellung einer Abschaffung nationalstaatlicher Grenzen nachgehangen wird, ist es aber vielleicht gut, faktische Gegebenheiten staatlicher Gebilde deutlich zu machen. Vielleicht erübrigt sich Geopolitik ja im Weltraum? Nein, meint Tim Marshall. Da habe der Kampf um Territorium gerade erst begonnen.
MONA JAEGER
Tim Marshall: "Die Macht der Geographie". Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt.
dtv-Verlagsgesellschaft, München 2015. 304 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tim Marshall plädiert für geopolitischen Realismus
Als der amerikanische Präsident Barack Obama 2014 Russland "bloß eine Regionalmacht" nannte, war das vielleicht nicht sonderlich charmant oder diplomatisch geschickt, aber falsch war es nicht. Die Vereinigten Staaten haben sich vor, während und nach dem Kalten Krieg als einzig verbleibende Supermacht durchgesetzt. Und das lag auch an den geographischen Gegebenheiten. Die Vereinigten Staaten sind das Glückskind der Natur: Die Ostküstenebene hat natürliche Häfen und fruchtbare Böden, dahinter schlängeln sich durch das Mississippibecken große, schiffbare Flüsse. Im Norden haben das unwegsame Gelände des Kanadischen Schilds und im Südwesten die Wüste für Voraussetzungen gesorgt, dass die amerikanischen Siedler ihr Land erobern und es zu einer Großmacht werden konnte.
Anders Russland: Das Land ist riesig - vielleicht zu riesig, um in allen Winkeln von Moskau aus effektiv kontrolliert werden zu können -, aber es hat keinen eisfreien Hafen mit direktem Zugang zu den weltweiten Seewegen, und ihm fehlt noch immer die militärische Kapazität, in Kriegszeiten den Atlantik durch Ost- und Nordsee oder durch das Schwarze Meer und das Mittelmeer zu erreichen.
Es war lange Zeit verpönt, politische Einsichten und Schlussfolgerungen aus der Betrachtung der geographischen Gegebenheiten zu ziehen, scheint sie doch einer fatalistisch anmutenden Weltsicht zu entsprechen: Nicht der (hoffentlich) vernünftige Mensch bestimmt die politischen Geschicke, sondern das Land, auf dem er steht, also das Schicksal. Und ohne Zweifel hat der auf den Boden gerichtete Blick Schlimmes hervorgebracht: In Deutschland fürchtete man sich lange davor, über die flache nordeuropäische Tiefebene aus Osten und Westen angegriffen zu werden, was den präventiven Angriff rechtfertigen musste.
Der britische Journalist Tim Marshall verschweigt die dunklen Seiten nicht, plädiert aber in seinem Buch trotzdem dafür, der Geopolitik wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn durch sie könne man etwas besser verstehen, warum Afrikas Entwicklung nur so schleppend vorankommt, Syriens Bürgerkrieg so schwierig zu befrieden ist und sich alle um die Arktis streiten.
Anhand von zehn Karten schaut Tim Marshall auf nahezu jeden Punkt der Erde. Durchaus kenntnisreich führt er die Fäden zusammen, zum Beispiel im Fall Südamerikas: So wie die Geographie den Vereinigten Staaten half, zur Großmacht aufzusteigen, so sorgt diese auch dafür, dass keiner der zwanzig Staaten im Süden des Kontinents groß genug werden kann, um den nordamerikanischen Giganten ernsthaft herauszufordern. Mexiko sei zwar dabei, zu einer Regionalmacht heranzuwachsen, aber es werde immer Wüste im Norden, die Berge im Osten und den Dschungel im Süden haben, die sein Wirtschaftswachstum physisch einschränken. Südamerika ist zwar ein sehr großer Kontinent, aber geprägt durch die 7500 Kilometer langen Anden, die größtenteils nicht zu überqueren sind und viele Gebiete im Westen des Kontinents vom Osten abschneiden.
Natürlich können Gebirgsketten, Rohstoffe und klimatische Verhältnisse nur ein Erklärungsfaktor unter vielen sein, und meistens ist dieser Faktor auch nicht der wichtigste, um die politische und wirtschaftliche Lage von Ländern und Regionen zu erhellen. In Zeitläuften, in denen da und dort der Vorstellung einer Abschaffung nationalstaatlicher Grenzen nachgehangen wird, ist es aber vielleicht gut, faktische Gegebenheiten staatlicher Gebilde deutlich zu machen. Vielleicht erübrigt sich Geopolitik ja im Weltraum? Nein, meint Tim Marshall. Da habe der Kampf um Territorium gerade erst begonnen.
MONA JAEGER
Tim Marshall: "Die Macht der Geographie". Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt.
dtv-Verlagsgesellschaft, München 2015. 304 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mona Jaeger weiß, dass die Geopolitik lange Zeit nicht besonders hoch im Kurs stand. Auch jetzt würde sie sie immer noch überbewerten, doch von Tim Marshall lässt sie sich gern noch einmal darauf hinweisen, welche Bedeutung natürliche Häfen, schiffbare Flüsse, Gebirgsketten und Rohstoffe für die politische Position eines Landes haben. Das alles erscheint ihr nicht sonderlich neu, aber gut auf den Punkt gebracht: Wer die Kontrolle über die Seewege hat, wie die nordeuropäische Tiefebene einen Panzervormarsch ermöglicht und warum die USA das Glückskind der Natur sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Nach dieser Lektüre erscheinen einem Landkarten wichtiger denn je zu sein. Versprochen!"
Bernhard Lübbers, Mittelbayerische Zeitung am Sonntag 14. August 2016
Bernhard Lübbers, Mittelbayerische Zeitung am Sonntag 14. August 2016
Ein ausgezeichneter Einstieg ins Thema Geopolitik. Hamburger Abendblatt 20220305