Trotz zahlreicher Studien zur wilhelminischen Außenpolitik und zur Julikrise 1914 bleibt die Frage, welchen konkreten Einfluß "kriegerische" Mentalitäten und nationalistische Wertevorstellungen auf den Weltkriegsausbruch hatten. Die Ausblendung oder Ignorierung dieses "kulturellen" Aspektes unter dem Schlagwort "Manipulationsideologie" führt dazu, den deutschen Anteil am Weltkriegsausbruch lediglich mit "Strukturmerkmalen" zu erklären. Machten aber "Mittellage", zunehmende machtpolitische Schwächung des Dreibundes oder der "Widerspruch" einer industriellen Gesellschaft mit der politischen Dominanz von traditionellen Eliten (Junkern) den Krieg wirklich notwendig? Diese Studie wendet sich gegen einen solchen "Struktur-Determinismus" und hebt stärker hervor, wie die Realität von den außenpolitischen Akteuren perzipiert wurde, ein Ansatz, der in der Disziplin der Internationalen Beziehungen schon länger verfochten wird und durch diese Fallstudie empirische Bestätigung findet. Nicht allein "objektive Zwänge" verleiteten in dieser Perspektive die deutschen Verantwortlichen zu einem riskanten und fast schon verzweifelten Pokerspiel in der Julikrise, sondern vor allem ihre völkisch-darwinistische Fehlinterpretation der "objektiven Strukturen". Diese "Weltanschauung" verstellte ihnen einen angemesseneren Blick auf die innen- und außenpolitische Realität und nährte vor allem subjektive Bedrohungskomplexe, die ihrerseits zu einem objektiven Faktor der deutschen Kriegsbereitschaft wurden. Rußland wurde so als unversöhnlich feindliche Macht angesehen und diese Feindschaft wurde hauptsächlich auf den "elementaren" und "rassischen" Gegensatz von Slawen und Germanen zurückgeführt. Auch andere völkische Axiome wie der Glaubenssatz von der unbedingten "germanischen" Solidarität zur Donaumonarchie oder die Befürchtung eines "eisernen Slawenring" verstärkten das perzeptuelle Sicherheitsdilemma. Schlimmer noch: Rußland wurde nicht nur als unerbittlich feindliche, sondern auch als extrem dynamische Macht angesehen. Dieses Urteil über Rußlands unaufhaltsamen Machtanstieg speiste sich aus der Überschätzung "quantitativer" Faktoren. Der Kanzler, ein Bewunderer Darwins, machte aus dem demographischen Wachstum ein entscheidendes Kriterium für die Vitalität einer Nation getreu dem Motto: "Die Fähigen vermehren sich am meisten". Die deutschen Verantwortlichen nahmen die internationale Politik - wie ein großer Teil der deutschen gar der europäischen Bevölkerung auch - durch die verzerrende Linse eines "rassisch" gefärbten Darwinismus wahr, und es waren in letzter Instanz diese Perzeptionen und nicht irgendwelche anonymen Strukturen, die den Weltkriegsausbruch ermöglichten.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sönke Neitzel ist mit den zentralen Annahmen von Thomas Lindemann über die auslösenden Momente für den ersten Weltkrieg nicht einverstanden. Der behauptet nämlich, referiert der Rezensent, dass irrationale Übertreibungen und Verzerrungen der Gegner, die aus einem völkischen Nationalismus (Darwinismus, Raumgedanke, Fatalismus) gespeist worden seien, zum Krieg geführt hätten. Einen völkischen Nationalismus als eines der wesentlichen Momente der Kriegspolitik der Deutschen streitet Neitzel nicht ab. Doch will er die geschichtlichen Zusammenhänge nicht darauf reduziert wissen. Machtpolitische Überlegungen und reale Bedrohungen sind für den Rezensenten gleichermaßen bedeutend gewesen. Sein eher negatives Fazit: Lindemanns Thesen seien übertrieben, die Beweisführung zu holzschnittartig und undifferenziert. Und der Verweis auf den völkischen Nationalismus sei zwar richtig, aber leider auch nichts Neues.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH