»Phantasie« steht heute für die kreativen und schöpferischen Fähigkeiten des Menschen. Dieser Sprachgebrauch ist relativ neu. Tatsächlich findet der Versuch, dieses Vermögen terminologisch und systematisch genauer zu bestimmen, die längste Zeit in der Erkenntnistheorie und nicht in der Ästhetik statt. Dabei steht die Phantasie von Anfang an als eigenständiges Vermögen neben der Wahrnehmung und dem Verstand und wird in einer wichtigen Rolle für die Erklärung unserer Wissensansprüche gesehen. Wegen ihrer epistemischen Unzuverlässigkeit haben Erkenntnistheoretiker sie allerdings oft mit großem Misstrauen betrachtet. Die Untersuchung zeichnet anhand ausgewählter historischer Stationen die grundlegende Veränderung in der Wahrnehmung des Vermögens nach, von der Antike bis zur Neuzeit. Der diachrone Blick legt dabei auch eine systematische Pointe frei, nämlich dass sich anhand der theoretischen Wahrnehmung der Phantasie jeweils der Stand der Diskussion in der Frage bestimmen lässt, ob Erkenntnis ein ausschließlich passiver Vorgang ist, wie antike Theorien behaupten, oder auf jeden Fall eine aktive und produktive Eigenleistung des Geistes erfordert, wie die Theorien der Neuzeit mit steigender Überzeugung argumentieren. Je eindeutiger die Antwort zugunsten der zweiten Option ausfällt, desto weniger neutral oder objektiv scheint unser (empirisches) Wissen zu sein, desto eher entspringt es offensichtlich einer subjektiven Interpretationsleistung.