Alle Wege der ästhetischen Wahrnehmung kreuzen sich in einer Aufmerksamkeit für das phänomenale Erscheinen der Welt - und damit in einer Vergegenwärtigung der vergehenden Gegenwart des menschlichen Lebens. Dieser Grundgedanke von Martin Seels vielbeachteter Ästhetik des Erscheinens wird in den Texten dieses Buchs theoretisch erweitert und an einem breiten Spektrum von Künsten und Künstlern kritisch erprobt: Sie sind Texte zur Ästhetik, deren Ästhetik auf den Rhythmus ihrer Gegenstände zu antworten versteht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007Umso besser für die Anwendung
In seinen Texten zur Ästhetik räsoniert Martin Seel über gesteigerte Gefühle und über vollzugsorientierte Wahrnehmung – und zeigt sich zugleich als Meister des Leichten
Martin Seels Sammlung von 22 „Texten zur Ästhetik” vielfältig zu nennen, wäre eine Untertreibung. Der Frankfurter Philosoph verteidigt die Hermeneutik gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern. Er erwischt Peter Handke bei „Kitsch” und Verlogenheit. Er weist die „evolutionäre” – biologische – „Ästhetik” in ihre Schranken, auf dass sie nicht in Konkurrenz zur philosophischen trete. Er entdeckt in Fassbinders Filmen ein Dynamit, das „unser weithin sediertes Vorstellungsvermögen sprengt”. Er liest Platon. Er lässt sich von der Tonkunst zu Tiefsinn und Paradoxie stimmen: „Musik versöhnt nur, indem sie entzweit.” Und all das ist erst ein Bruchteil dessen, was Martin Seel zusammenbringt.
Was aber soll die Einheit dieser Texte ausmachen? Die Antwort kann nicht überraschen: Ästhetik. „Die Ästhetik erkundet, warum uns an bestimmten Arten einer vollzugsorientierten Wahrnehmung etwas liegt”, schreibt Seel im ersten Abschnitt seines Buches. Der Satz ist nicht als Definition gemeint. Denn ihm folgt eine Liste dessen, was Ästhetik noch alles tut. Und doch führt jener Satz die Liste anscheinend nicht zufällig an. Nur, was ist das: Vollzugsorientierung?
Es geht dabei, ließe sich vermuten, wohl nicht oder nicht bloß um das wahrgenommene Ding, sondern auch, vor allem oder, falls möglich, nur ums Wahrnehmen selbst, seinen Vollzug. Wo die Lust am Hören und Sehen die Hauptrolle spielt, hört Wahrnehmung auf, Information zu sammeln und wird ästhetisch: so könnte man verstehen, was Seel Vollzugsorientierung nennt.
Für diese Deutung sprechen einige Stellen in Seels Texten, etwa diese: „Denn sein” (des Ästhetischen) „primärer Sinn liegt in ihm selbst – in einer als Weltbegegnung vollzogenen Selbstbegegnung, der es um nichts weiter als diese Begegnung geht”. Und doch erweist sich die gegebene Deutung als unvereinbar mit vielen anderen Stellen, die im Wirklichen weit mehr denn einen bloßen Anlass von Wahrnehmungslust ausmachen: „Das ästhetische Bewusstsein nimmt das Wirkliche in der Besonderheit seines sensitiven Sichdarbietens wahr, und das bedeutet: in der Simultaneität und Momentaneität, in der es sich dem sinnlichen Vernehmen darbietet”.
Den Unterschied „ästhetischer” Wahrnehmung zu anderen Arten, „das Wirkliche” wahrzunehmen, fasst Seel als Steigerung: „mit einem gesteigerten Gefühl für das Hier und Jetzt der Situation, in der sich die Wahrnehmung ereignet”, nehme „das ästhetische Bewusstsein” wahr. Steigerungen von Gefühlen geschehen gradweise. Auch wer eine Bahnfahrkarte am Schalter erwirbt, hat ein gewisses Gefühl für das Hier und Jetzt. Ist es glaubhaft, dass, steigerte sich dieses Gefühl nur, aus dem Kauf der Fahrkarte eine ästhetische Illumination würde? Und wenn ja, an welchem Punkt? Denn zu sagen, es geschehe irgendwann, beraubte die Erklärung des Ästhetischen durch „Steigerung” der Erklärungskraft.
Legte das Stichwort der „vollzugsorientierten Wahrnehmung” eine qualitative Differenz nahe, so das des „gesteigerten Gefühls” eine nicht quantifizierbare Quantität, also eine Leerstelle. Der Zweifel an Seels Erklärung braucht nicht vorauszusetzen, Fahrkarten seien zu banal und ihr Erwerb zu hausbacken, um ästhetisches Wahrnehmen freizusetzen. (Seel meint entschieden: nicht; denn, so bemerkt er in einer Fußnote, ein Video von Plastiktüten reüssierte 1997 bei der IV. Biennale in Lyon.) Aber da Menschen, außer in Schlaf und Ohnmacht, stets ein Bewusstsein ihres Hier und Jetzt haben – sonst wären sie keine zurechnungsfähigen Personen –, ist die Vorstellung kaum sehr einleuchtend, bloß mehr davon mache ihren Zugang zur Welt ästhetisch. Wer zwei Minuten vor Ende der Prüfung die entscheidende Rechenaufgabe noch fertigzubringen sucht, hat intensivst das Gefühl, es hier und jetzt schaffen zu müssen, aber die Rechenaufgabe bleibt ihm theoretisches Problem und praktische Bewährungsprobe: sie wird durch die volle Präsenz seiner Aufmerksamkeit weder „ästhetisch” noch „ästhetischer”.
Der Aufbau von Seels Buch suggeriert zwar, es schreite von Grundlegung zu Anwendung. Doch in der Durchführung erweist sich, dass der Autor in den vermeintlichen Anwendungen sich den Teufel um die eigene Theorie schert. Und das ist um so besser für jene. In einem brillanten Essay über Musikhören im Auto etwa ist abwechselnd von Wahrnehmung und Erfahrung die Rede, ohne dass die hundert Seiten vorher als philosophisch dringlich angemahnte Abgrenzung beider Einfluss auf den Gedankengang nähme, und ohne dass sie zu vermissen wäre. Welcher Einwand Seels gegen das Berliner Stadtschloss wäre entkräftet, ließen sich Schein und Erscheinung nicht so auseinanderhalten, wie Martin Seel gern möchte (und wie es ohnehin nur in deutscher Sprache halbwegs zu machen ist)?
Ist die angebliche Basis der konkreten ästhetischen Studien eher ein Überbau, der ebensogut wegbleiben könnte und in ihnen zu ihrem Besten oft genug auch wegbleibt, so fragt es sich, ob Seel, sich als philosophischer Grundleger missverstehend, vielmehr der Meister der Tapete ist, der leichten, bunten Oberfläche. Diese Einschätzung wäre wahr und falsch zugleich. Ihr Wahres mag schon kenntlich sein. Falsch aber wäre an ihr, dass sie das sogenannte Leichte unterschätzt. Denn es zu machen ist schwer. Wer einmal versuchen würde, zu Themen wie dem des Autoradios oder dem der Stadtmitte – Themen in diesem Band – Gründliches, Erkenntnisförderndes zu sagen, könnte sich schnell nach so vorhersehbar zu bearbeitenden Themen wie etwa dem transzendentalen Subjekt zurücksehnen. Leicht zu machen ist auf dem Feld, das in Frage steht, eigentlich nur eines: nebulöses, wirres Zeugs. An dessen Hervorbringung hat Martin Seel sich nie beteiligt. Wo er sich in die Nähe der Dinge begibt, ist er wirklich ein Meister des Leichten, das ihm in der deutschen Philosophie, die zur Schwerfälligkeit neigt, nicht leicht einer nachmacht. Des Leichten nämlich, das so schwer zu machen ist. ANDREAS DORSCHEL
Martin Seel
Die Macht des Erscheinens
Texte zur Ästhetik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 274 Seiten, 11 Euro.
Handkes Kitsch, Musikhören im Auto . . . Diese Texte vielfältig zu nennen, wäre untertrieben
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
In seinen Texten zur Ästhetik räsoniert Martin Seel über gesteigerte Gefühle und über vollzugsorientierte Wahrnehmung – und zeigt sich zugleich als Meister des Leichten
Martin Seels Sammlung von 22 „Texten zur Ästhetik” vielfältig zu nennen, wäre eine Untertreibung. Der Frankfurter Philosoph verteidigt die Hermeneutik gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern. Er erwischt Peter Handke bei „Kitsch” und Verlogenheit. Er weist die „evolutionäre” – biologische – „Ästhetik” in ihre Schranken, auf dass sie nicht in Konkurrenz zur philosophischen trete. Er entdeckt in Fassbinders Filmen ein Dynamit, das „unser weithin sediertes Vorstellungsvermögen sprengt”. Er liest Platon. Er lässt sich von der Tonkunst zu Tiefsinn und Paradoxie stimmen: „Musik versöhnt nur, indem sie entzweit.” Und all das ist erst ein Bruchteil dessen, was Martin Seel zusammenbringt.
Was aber soll die Einheit dieser Texte ausmachen? Die Antwort kann nicht überraschen: Ästhetik. „Die Ästhetik erkundet, warum uns an bestimmten Arten einer vollzugsorientierten Wahrnehmung etwas liegt”, schreibt Seel im ersten Abschnitt seines Buches. Der Satz ist nicht als Definition gemeint. Denn ihm folgt eine Liste dessen, was Ästhetik noch alles tut. Und doch führt jener Satz die Liste anscheinend nicht zufällig an. Nur, was ist das: Vollzugsorientierung?
Es geht dabei, ließe sich vermuten, wohl nicht oder nicht bloß um das wahrgenommene Ding, sondern auch, vor allem oder, falls möglich, nur ums Wahrnehmen selbst, seinen Vollzug. Wo die Lust am Hören und Sehen die Hauptrolle spielt, hört Wahrnehmung auf, Information zu sammeln und wird ästhetisch: so könnte man verstehen, was Seel Vollzugsorientierung nennt.
Für diese Deutung sprechen einige Stellen in Seels Texten, etwa diese: „Denn sein” (des Ästhetischen) „primärer Sinn liegt in ihm selbst – in einer als Weltbegegnung vollzogenen Selbstbegegnung, der es um nichts weiter als diese Begegnung geht”. Und doch erweist sich die gegebene Deutung als unvereinbar mit vielen anderen Stellen, die im Wirklichen weit mehr denn einen bloßen Anlass von Wahrnehmungslust ausmachen: „Das ästhetische Bewusstsein nimmt das Wirkliche in der Besonderheit seines sensitiven Sichdarbietens wahr, und das bedeutet: in der Simultaneität und Momentaneität, in der es sich dem sinnlichen Vernehmen darbietet”.
Den Unterschied „ästhetischer” Wahrnehmung zu anderen Arten, „das Wirkliche” wahrzunehmen, fasst Seel als Steigerung: „mit einem gesteigerten Gefühl für das Hier und Jetzt der Situation, in der sich die Wahrnehmung ereignet”, nehme „das ästhetische Bewusstsein” wahr. Steigerungen von Gefühlen geschehen gradweise. Auch wer eine Bahnfahrkarte am Schalter erwirbt, hat ein gewisses Gefühl für das Hier und Jetzt. Ist es glaubhaft, dass, steigerte sich dieses Gefühl nur, aus dem Kauf der Fahrkarte eine ästhetische Illumination würde? Und wenn ja, an welchem Punkt? Denn zu sagen, es geschehe irgendwann, beraubte die Erklärung des Ästhetischen durch „Steigerung” der Erklärungskraft.
Legte das Stichwort der „vollzugsorientierten Wahrnehmung” eine qualitative Differenz nahe, so das des „gesteigerten Gefühls” eine nicht quantifizierbare Quantität, also eine Leerstelle. Der Zweifel an Seels Erklärung braucht nicht vorauszusetzen, Fahrkarten seien zu banal und ihr Erwerb zu hausbacken, um ästhetisches Wahrnehmen freizusetzen. (Seel meint entschieden: nicht; denn, so bemerkt er in einer Fußnote, ein Video von Plastiktüten reüssierte 1997 bei der IV. Biennale in Lyon.) Aber da Menschen, außer in Schlaf und Ohnmacht, stets ein Bewusstsein ihres Hier und Jetzt haben – sonst wären sie keine zurechnungsfähigen Personen –, ist die Vorstellung kaum sehr einleuchtend, bloß mehr davon mache ihren Zugang zur Welt ästhetisch. Wer zwei Minuten vor Ende der Prüfung die entscheidende Rechenaufgabe noch fertigzubringen sucht, hat intensivst das Gefühl, es hier und jetzt schaffen zu müssen, aber die Rechenaufgabe bleibt ihm theoretisches Problem und praktische Bewährungsprobe: sie wird durch die volle Präsenz seiner Aufmerksamkeit weder „ästhetisch” noch „ästhetischer”.
Der Aufbau von Seels Buch suggeriert zwar, es schreite von Grundlegung zu Anwendung. Doch in der Durchführung erweist sich, dass der Autor in den vermeintlichen Anwendungen sich den Teufel um die eigene Theorie schert. Und das ist um so besser für jene. In einem brillanten Essay über Musikhören im Auto etwa ist abwechselnd von Wahrnehmung und Erfahrung die Rede, ohne dass die hundert Seiten vorher als philosophisch dringlich angemahnte Abgrenzung beider Einfluss auf den Gedankengang nähme, und ohne dass sie zu vermissen wäre. Welcher Einwand Seels gegen das Berliner Stadtschloss wäre entkräftet, ließen sich Schein und Erscheinung nicht so auseinanderhalten, wie Martin Seel gern möchte (und wie es ohnehin nur in deutscher Sprache halbwegs zu machen ist)?
Ist die angebliche Basis der konkreten ästhetischen Studien eher ein Überbau, der ebensogut wegbleiben könnte und in ihnen zu ihrem Besten oft genug auch wegbleibt, so fragt es sich, ob Seel, sich als philosophischer Grundleger missverstehend, vielmehr der Meister der Tapete ist, der leichten, bunten Oberfläche. Diese Einschätzung wäre wahr und falsch zugleich. Ihr Wahres mag schon kenntlich sein. Falsch aber wäre an ihr, dass sie das sogenannte Leichte unterschätzt. Denn es zu machen ist schwer. Wer einmal versuchen würde, zu Themen wie dem des Autoradios oder dem der Stadtmitte – Themen in diesem Band – Gründliches, Erkenntnisförderndes zu sagen, könnte sich schnell nach so vorhersehbar zu bearbeitenden Themen wie etwa dem transzendentalen Subjekt zurücksehnen. Leicht zu machen ist auf dem Feld, das in Frage steht, eigentlich nur eines: nebulöses, wirres Zeugs. An dessen Hervorbringung hat Martin Seel sich nie beteiligt. Wo er sich in die Nähe der Dinge begibt, ist er wirklich ein Meister des Leichten, das ihm in der deutschen Philosophie, die zur Schwerfälligkeit neigt, nicht leicht einer nachmacht. Des Leichten nämlich, das so schwer zu machen ist. ANDREAS DORSCHEL
Martin Seel
Die Macht des Erscheinens
Texte zur Ästhetik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 274 Seiten, 11 Euro.
Handkes Kitsch, Musikhören im Auto . . . Diese Texte vielfältig zu nennen, wäre untertrieben
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lobend äußert sich Andreas Dorschel über Martin Seels Band mit 22 "Texten zur Ästhetik". Die Themen, die der Philosoph darin angeht, fallen zur Freude des Rezensenten überraschend vielfältig aus: Es geht um Platon, die Verteidigung der Hermeneutik, Kritik der biologischen Ästhetik, um Kitsch bei Handke, Musikhören im Auto usw. Natürlich geht es auch um grundlegende ästhetische Fragen. Dorschel nennt hier etwa Seels Überlegungen zu einer "vollzugsorientierten Wahrnehmung", die ihm nicht immer ganz einleuchtend erscheinen. Überhaupt hat er den Eindruck, dass Seel in seinen Essays die eigene theoretische Fundierung oft nicht so ganz ernst nimmt. Das ist in Dorschels Augen auch absolut kein Nachteil. Er sieht in Seel ohnehin mehr den "Meister des Leichten", wobei er hervor hebt, dass diese Einschätzung als Lob zu verstehen ist: denn das Leichte herzustellen, gehört für ihn zum Schweren, zumal in der zur Schwerfälligkeit neigenden deutschen Philosophie.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH