"Entzauberung" ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis der Moderne. Doch worum handelt es sich dabei eigentlich? Was genau meinte Max Weber damit? Und sind seine kanonisch gewordenen Vorstellungen überhaupt haltbar beziehungsweise: Sind sie alternativlos?
Die Macht des Heiligen ist der Versuch, "Entzauberung" zu entzaubern. Dazu widmet sich Hans Joas zunächst exemplarischen Fällen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion seit dem 18. Jahrhundert. In direkter Auseinandersetzung mit Weber entfaltet er sodann den Grundriss einer Theorie, die dem machtstützenden Potenzial von Religion ebenso gerecht werden kann wie dem machtkritischen. An die Stelle des Geschichtsbilds vom unaufhaltsam fortschreitenden Prozess der Entzauberung tritt die Konzeption eines Spannungsfelds zwischen Dynamiken der Sakralisierung, ihrer reflexiven Brechung und den Gefahren ihrer Aneignung in Prozessen der Machtbildung. Das beinhaltet Zumutungen - für Gläubige ebenso wie für säkulare Geister.
Die Macht des Heiligen ist der Versuch, "Entzauberung" zu entzaubern. Dazu widmet sich Hans Joas zunächst exemplarischen Fällen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion seit dem 18. Jahrhundert. In direkter Auseinandersetzung mit Weber entfaltet er sodann den Grundriss einer Theorie, die dem machtstützenden Potenzial von Religion ebenso gerecht werden kann wie dem machtkritischen. An die Stelle des Geschichtsbilds vom unaufhaltsam fortschreitenden Prozess der Entzauberung tritt die Konzeption eines Spannungsfelds zwischen Dynamiken der Sakralisierung, ihrer reflexiven Brechung und den Gefahren ihrer Aneignung in Prozessen der Machtbildung. Das beinhaltet Zumutungen - für Gläubige ebenso wie für säkulare Geister.
" [...] eine wuchtige, gleichwohl respektvolle Kampfansage an die Soziologie."
Thomas Assheuer, DIE ZEIT 05.10.2017
Thomas Assheuer, DIE ZEIT 05.10.2017
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2018Heiliges verflicht sich stets mit Macht
Entzauberung der Entzauberung: Hans Joas nimmt sich Max Webers wirkungsreiche Diagnose der Moderne vor
Vor genau hundert Jahren hielt Max Weber in München einen Vortrag zum Thema Wissenschaft als Beruf. Eingewoben darin war die Diagnose der Entzauberung der Welt. In diesem Topos verknüpft Weber das Zurückdrängen magischer Vorstellungen mit einer Gesamtdeutung der Entwicklung hin zur Moderne: als Prozess der Rationalisierung, der auch die Stellung der Religion massiv beeinflusst. Dieses Narrativ ist ungemein einflussreich geworden für Selbstdeutungen der westlichen Welt, etwa im Rahmen von Konzepten der Modernisierung und Säkularisierung. Vor allem jene, die sich auf Weber stützten, verstanden Entzauberung oft als faktische Entwicklung, die der Religion unweigerlich einen prekären Status zuweist.
All dies provoziert Hans Joas zum Widerspruch: Erstens setzt er dem linearen Geschichtsverständnis ein Denken in Konstellationen entgegen. Zweitens bemängelt er die Kanonisierung des Topos der Entzauberung, der für die Religion letztlich keinen Platz in der Moderne vorsieht. Drittens schlägt er eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung vor, deren Leitfaden "das Wechselspiel von vielfältigen Prozessen der Sakralisierung mit vielfältigen Prozessen der Machtbildung" sein müsse.
An Stelle eines dominierenden Prozesses tritt demnach deren Vielzahl, an die Stelle der Linearität tritt die Figur des Wechselspiels, an die Stelle der Religion die Figur der Sakralisierung. Man könnte ergänzen: an die Stelle der bloß sanften Korrektur soziologischer Klassiker tritt deren ernsthafte Befragung. In der Haltung ist der Weber-Kritiker weberianisch.
Das vierte Kapitel, das sich mit Weber und Ernst Troeltsch befasst, ist das Herzstück des Buches, auf das hin und von dem her sich der Rest entwickelt. Dabei geht es dem Autor auch um andere Entwürfe, die er nutzt, um eine Alternative zu Weber zu skizzieren. Exemplarisch behandelt werden David Humes Universalgeschichte der Religion; William James mit seiner auf religiöse Erfahrung zielenden Religionspsychologie; der Diskurs über die Bedeutung kollektiver Rituale, für den Emile Durkheim und Numa Denis Fustel de Coulanges stehen. Joas folgert, dass "Religion auf historisch situierte menschliche Erfahrungen von etwas, das als heilig empfunden wird", zurückzuführen sei, die wir "nur dann richtig verstehen, wenn wir sie in einer semiotisch transformierten Psychologie des Selbst verkörpert denken".
Ein wichtiger Baustein ist zudem der Diskurs um die "Achsenzeit", in dem es um eine fundamentale Transformation im Verständnis des Heiligen geht. Als deren Resultat entstand im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Steigerung von Reflexivität ein starker Begriff von Transzendenz. Joas nennt dies Transzendenz als reflexiv gewordene Sakralität.
Joas' Buch ist eine beeindruckende Summe und Weiterführung seiner bisherigen Arbeiten. Indem er Prozesse der Sakralisierung ins Zentrum rückt, wählt er einen Begriff, den er als grundlegender ansieht als Religion. Nicht Religion sei anthropologisch universell, sondern "Erfahrungen der ,Selbsttranszendenz'" und die sich "daraus ergebenden Zuschreibungen von ,Heiligkeit'". Vor diesem Hintergrund skizziert er dann seine Alternative zur Geschichte der Entzauberung: den Grundriss einer Theorie der Sakralisierung, in der diese mit Prozessen der Idealbildung verknüpft wird, die nach Ausdeutung verlangen. Neu ist, dass das Heilige hier im Zusammenhang mit einer Theorie der Macht behandelt wird. Dafür führt Joas bereits Vorgelegtes zusammen und ergänzt es um den Gedanken der (kollektiven) Selbstsakralisierung als einer mit jeder Sakralisierung verbundenen Gefahr.
Joas verfolgt aber auch eine theoriepolitische Agenda. Er rechnet mit allen Ansätzen ab, bei denen er Linearitätsunterstellungen vermutet. Daraus entstünden "gefährliche Prozessbegriffe" wie Rationalisierung, funktionale Differenzierung und Modernisierung. Konsequenterweise schickt er sich an, Webers berühmte "Zwischenbetrachtung" mit ihrer Rede von der Autonomisierung der Wertsphären aus "der Tradition einer differenzierungstheoretischen Lesart" zu befreien. Die Vielzahl unterschiedlicher Spannungsverhältnisse ließe sich nicht auf einen solchen Nenner bringen.
Bestimmte Fragen bleiben dabei ungeklärt. Das überzeugende Plädoyer für die Untersuchung wechselnder Konstellationen von Sakralisierung und Macht erspart nicht schon die Frage nach möglichen längerfristigen Prozessen, im Verlauf derer etwa Religion zur "Option" geworden ist und sich Sakralisierungen an ganz anderen Stellen finden. Sollte es wirklich "gefährlich" sein, dafür einen Begriff wie Säkularisierung oder funktionale Differenzierung zu verwenden? Gerade die von Joas so gescholtenen Theorien funktionaler Differenzierung haben für Prozesse der Sakralisierung (die hier auf der Seite der Immanenz zu stehen kommen) durchaus Platz. Überdies schließt eine Theorie funktionaler Differenzierung natürlich nicht aus, dass Gläubige auch nichtreligiöse Sphären aus einem gläubigen Blickwinkel betrachten.
Bisweilen irritiert auch, dass manche Autoren chronisch unerwähnt bleiben und gerade dadurch als weiße Elefanten im Raum stehen: Schütz und Luckmann mit ihren drei Stufen der Transzendenz etwa, die sich bei Luckmann mit einem allgemeinen, anthropologisch fundierten Religionsbegriff verbinden, der Joas' Verständnis von Selbsttranszendierung recht nahe kommt. An dieser Stelle erweist sich übrigens der Vorteil des Begriffs der Selbsttranszendierung gegenüber einer anthropologischen Unhintergehbarkeit von Religion. Auch Carl Schmitts Auseinandersetzung mit Webers Konzept der Entzauberung und sein Anschluss an das Konzept des Charismas wären in einer Theorie, die sich mit dem Heiligen und der Macht befasst, gerade dort, wo es um die Gefahren der kollektiven Selbstsakralisierung geht, zumindest erwähnenswert. Der Münchner Religionswissenschaftler Robert Yelle befasst sich seit längerem mit dem Zusammenhang von "Sovereignty and the Sacred". Auf einen Austausch könnte man gespannt sein.
MONIKA WOHLRAB-SAHR.
Hans Joas: "Die Macht des Heiligen". Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 543 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Entzauberung der Entzauberung: Hans Joas nimmt sich Max Webers wirkungsreiche Diagnose der Moderne vor
Vor genau hundert Jahren hielt Max Weber in München einen Vortrag zum Thema Wissenschaft als Beruf. Eingewoben darin war die Diagnose der Entzauberung der Welt. In diesem Topos verknüpft Weber das Zurückdrängen magischer Vorstellungen mit einer Gesamtdeutung der Entwicklung hin zur Moderne: als Prozess der Rationalisierung, der auch die Stellung der Religion massiv beeinflusst. Dieses Narrativ ist ungemein einflussreich geworden für Selbstdeutungen der westlichen Welt, etwa im Rahmen von Konzepten der Modernisierung und Säkularisierung. Vor allem jene, die sich auf Weber stützten, verstanden Entzauberung oft als faktische Entwicklung, die der Religion unweigerlich einen prekären Status zuweist.
All dies provoziert Hans Joas zum Widerspruch: Erstens setzt er dem linearen Geschichtsverständnis ein Denken in Konstellationen entgegen. Zweitens bemängelt er die Kanonisierung des Topos der Entzauberung, der für die Religion letztlich keinen Platz in der Moderne vorsieht. Drittens schlägt er eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung vor, deren Leitfaden "das Wechselspiel von vielfältigen Prozessen der Sakralisierung mit vielfältigen Prozessen der Machtbildung" sein müsse.
An Stelle eines dominierenden Prozesses tritt demnach deren Vielzahl, an die Stelle der Linearität tritt die Figur des Wechselspiels, an die Stelle der Religion die Figur der Sakralisierung. Man könnte ergänzen: an die Stelle der bloß sanften Korrektur soziologischer Klassiker tritt deren ernsthafte Befragung. In der Haltung ist der Weber-Kritiker weberianisch.
Das vierte Kapitel, das sich mit Weber und Ernst Troeltsch befasst, ist das Herzstück des Buches, auf das hin und von dem her sich der Rest entwickelt. Dabei geht es dem Autor auch um andere Entwürfe, die er nutzt, um eine Alternative zu Weber zu skizzieren. Exemplarisch behandelt werden David Humes Universalgeschichte der Religion; William James mit seiner auf religiöse Erfahrung zielenden Religionspsychologie; der Diskurs über die Bedeutung kollektiver Rituale, für den Emile Durkheim und Numa Denis Fustel de Coulanges stehen. Joas folgert, dass "Religion auf historisch situierte menschliche Erfahrungen von etwas, das als heilig empfunden wird", zurückzuführen sei, die wir "nur dann richtig verstehen, wenn wir sie in einer semiotisch transformierten Psychologie des Selbst verkörpert denken".
Ein wichtiger Baustein ist zudem der Diskurs um die "Achsenzeit", in dem es um eine fundamentale Transformation im Verständnis des Heiligen geht. Als deren Resultat entstand im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Steigerung von Reflexivität ein starker Begriff von Transzendenz. Joas nennt dies Transzendenz als reflexiv gewordene Sakralität.
Joas' Buch ist eine beeindruckende Summe und Weiterführung seiner bisherigen Arbeiten. Indem er Prozesse der Sakralisierung ins Zentrum rückt, wählt er einen Begriff, den er als grundlegender ansieht als Religion. Nicht Religion sei anthropologisch universell, sondern "Erfahrungen der ,Selbsttranszendenz'" und die sich "daraus ergebenden Zuschreibungen von ,Heiligkeit'". Vor diesem Hintergrund skizziert er dann seine Alternative zur Geschichte der Entzauberung: den Grundriss einer Theorie der Sakralisierung, in der diese mit Prozessen der Idealbildung verknüpft wird, die nach Ausdeutung verlangen. Neu ist, dass das Heilige hier im Zusammenhang mit einer Theorie der Macht behandelt wird. Dafür führt Joas bereits Vorgelegtes zusammen und ergänzt es um den Gedanken der (kollektiven) Selbstsakralisierung als einer mit jeder Sakralisierung verbundenen Gefahr.
Joas verfolgt aber auch eine theoriepolitische Agenda. Er rechnet mit allen Ansätzen ab, bei denen er Linearitätsunterstellungen vermutet. Daraus entstünden "gefährliche Prozessbegriffe" wie Rationalisierung, funktionale Differenzierung und Modernisierung. Konsequenterweise schickt er sich an, Webers berühmte "Zwischenbetrachtung" mit ihrer Rede von der Autonomisierung der Wertsphären aus "der Tradition einer differenzierungstheoretischen Lesart" zu befreien. Die Vielzahl unterschiedlicher Spannungsverhältnisse ließe sich nicht auf einen solchen Nenner bringen.
Bestimmte Fragen bleiben dabei ungeklärt. Das überzeugende Plädoyer für die Untersuchung wechselnder Konstellationen von Sakralisierung und Macht erspart nicht schon die Frage nach möglichen längerfristigen Prozessen, im Verlauf derer etwa Religion zur "Option" geworden ist und sich Sakralisierungen an ganz anderen Stellen finden. Sollte es wirklich "gefährlich" sein, dafür einen Begriff wie Säkularisierung oder funktionale Differenzierung zu verwenden? Gerade die von Joas so gescholtenen Theorien funktionaler Differenzierung haben für Prozesse der Sakralisierung (die hier auf der Seite der Immanenz zu stehen kommen) durchaus Platz. Überdies schließt eine Theorie funktionaler Differenzierung natürlich nicht aus, dass Gläubige auch nichtreligiöse Sphären aus einem gläubigen Blickwinkel betrachten.
Bisweilen irritiert auch, dass manche Autoren chronisch unerwähnt bleiben und gerade dadurch als weiße Elefanten im Raum stehen: Schütz und Luckmann mit ihren drei Stufen der Transzendenz etwa, die sich bei Luckmann mit einem allgemeinen, anthropologisch fundierten Religionsbegriff verbinden, der Joas' Verständnis von Selbsttranszendierung recht nahe kommt. An dieser Stelle erweist sich übrigens der Vorteil des Begriffs der Selbsttranszendierung gegenüber einer anthropologischen Unhintergehbarkeit von Religion. Auch Carl Schmitts Auseinandersetzung mit Webers Konzept der Entzauberung und sein Anschluss an das Konzept des Charismas wären in einer Theorie, die sich mit dem Heiligen und der Macht befasst, gerade dort, wo es um die Gefahren der kollektiven Selbstsakralisierung geht, zumindest erwähnenswert. Der Münchner Religionswissenschaftler Robert Yelle befasst sich seit längerem mit dem Zusammenhang von "Sovereignty and the Sacred". Auf einen Austausch könnte man gespannt sein.
MONIKA WOHLRAB-SAHR.
Hans Joas: "Die Macht des Heiligen". Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 543 S., geb., 35,- [Euro].
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