Welche Möglichkeiten gibt es zur Ahndung von Völkerrechtsverbrechen und wie kann das Recht angesichts von Krieg und Terror wirken? Diesen Fragen stellen sich die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes.
Im Mai 1993 setzte der UN-Sicherheitsrat den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ein und im November 1994 das für Ruanda zuständige Tribunal. 1998 begannen in Rom die Verhandlungen über ein Statut für einen Strafgerichtshof, dessen Aufgabe in der weltweiten Ahndung schwerster Völkerrechtsverbrechen bestehen sollte. Vier Jahre später, im Juli 2002, trat es in Kraft und begründete den Internationalen Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag.
Aber die Hoffnung auf eine gewaltärmere Welt, welche die Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit begleitet hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits einer gewissen Ernüchterung gewichen. Die Anschläge vom 11. September 2001 und die fortdauernde terroristische Bedrohung ließen die begrenzte Neigung der USA, sich multilateral zu binden und entsprechend zu agieren, deutlich zutage treten. Sie setzten auf eine militärische Antwort, ohne Erfolg. Und so besteht weiterhin das Dilemma, dass die Gewalt zur Erosion zivilisatorischer Werte führt, das Völkerstrafrecht aber noch zu schwach ist und einflussreiche Gegner hat.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen - ausgehend von neueren Entwicklungslinien im Völkerrecht und Völkerstrafrecht - den aktuellen Problemstand dar und denken, darauf aufbauend, in stärkerem Maße konsensuelle und friedliche Perspektiven weiter.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Im Mai 1993 setzte der UN-Sicherheitsrat den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ein und im November 1994 das für Ruanda zuständige Tribunal. 1998 begannen in Rom die Verhandlungen über ein Statut für einen Strafgerichtshof, dessen Aufgabe in der weltweiten Ahndung schwerster Völkerrechtsverbrechen bestehen sollte. Vier Jahre später, im Juli 2002, trat es in Kraft und begründete den Internationalen Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag.
Aber die Hoffnung auf eine gewaltärmere Welt, welche die Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit begleitet hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits einer gewissen Ernüchterung gewichen. Die Anschläge vom 11. September 2001 und die fortdauernde terroristische Bedrohung ließen die begrenzte Neigung der USA, sich multilateral zu binden und entsprechend zu agieren, deutlich zutage treten. Sie setzten auf eine militärische Antwort, ohne Erfolg. Und so besteht weiterhin das Dilemma, dass die Gewalt zur Erosion zivilisatorischer Werte führt, das Völkerstrafrecht aber noch zu schwach ist und einflussreiche Gegner hat.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen - ausgehend von neueren Entwicklungslinien im Völkerrecht und Völkerstrafrecht - den aktuellen Problemstand dar und denken, darauf aufbauend, in stärkerem Maße konsensuelle und friedliche Perspektiven weiter.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2008Gerichte gegen Menschheitsverbrechen
Trotz aller Ernüchterungen ist es eine Fortschrittserzählung: Neue Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht
Es hätte eine große Fortschrittserzählung werden können. Sie beginnt im Sommer 1995, als Gerd Hankel und Gerhard Stuby einen dicken Sammelband über „Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen” herausgaben, der dem hier zu besprechenden Buch vorausging. Der Band wurde unter Jurastudenten schnell zum Geheimtipp – und zur Pflichtlektüre. Denn im Sommer 1995, als sich der Name Srebrenica ins Gedächtnis einbrannte, endete in den Lehrbüchern die Geschichte des Völkerstrafrechts noch immer mit den Nürnberger Prozessen. 1993 und 1994 hatte der UN-Sicherheitsrat Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda eingerichtet. Die Zukunft dieser Gerichte, die 2009 ihre erstinstanzlichen Verfahren abschließen sollen, schien damals so unsicher wie ihre Rechtsgrundlage.
Dann aber überbot die Wirklichkeit in atemberaubendem Tempo die vorsichtigen Prognosen des Hamburger Sammelbandes, und bald schon war mein Exemplar des Buches ganz zerlesen, voller Bleistiftkommentare, eselsohrig und kaffeegefleckt. Viele der Aufsätze erleichterten die Navigation in der Flut der Ereignisse, denen bald eine Welle neuer Literatur folgte. 1998 wurde in Rom das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet. Schon am 1. Juli 2002 trat es in Kraft, als in New York die sechzigste Ratifikationsurkunde hinterlegt wurde, und im Sommer vor fünf Jahren konnte das neue Haager Weltgericht seine Arbeit aufnehmen.
Eine gefährdete Errungenschaft
Der hoffnungsvolle Überschwang, der die Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit anfänglich begleitet hatte, war längst großer Ernüchterung gewichen. Die bleibt. Seit dem 11. September 2001 sind Bedrohungen unübersehbar, die zu Neudefinitionen von Freiheit und Sicherheit drängen. Forsche Unworte wie „Feindstrafrecht” und „Bürgeropfer” sind salonfähig geworden. Ein schnittiger Neorealismus macht sich breit, der mit der Moral auch gleich das Recht davonjagt.
Den Haag hat Darfur nicht verhindert. Karadzic ist endlich verhaftet, doch Mladic und Kabuga leben weiter unbehelligt irgendwo in Freiheit. Im Irak und in Afghanistan kann von Strukturen stabiler, geschweige denn demokratischer Staatlichkeit keine Rede sein. Das völkerrechtliche Folterverbot ist, wie Monique Chemillier-Gendreau im vorliegenden Band treffend formuliert, eine „gefährdete Errungenschaft”. Und der Internationale Strafgerichtshof, dessen Ermittlungen erst begonnen haben, kann die Vereinigten Staaten, China und Russland weiterhin nicht zu seinen Unterstützern zählen. Nach der schönen neuen Weltordnung kam die neue Unübersichtlichkeit. Sie dauert an – aber sie eröffnet, in allen Begrenzungen, auch Handlungsmöglichkeiten.
Darum ist es gut, dass Gerd Hankel nun in der Hamburger Edition erneut einen völkerstrafrechtlichen Sammelband vorgelegt hat, der Orientierungen ermöglicht und zum Weiterdenken anregt. Grund und Grenzen des Völkerrechts sind neu zu bestimmen. Das Völkerstrafrecht spielt dabei eine entscheidende Rolle, wird aber selbst auch von veränderten Wertungen und Prinzipien beeinflusst. Der Band bildet diese Wechselwirkungen ab, indem er sechs Aufsätzen mit völkerstrafrechtlichen Themen in einem zweiten Teil sechs Beiträge zu aktuellen Problemfeldern des internationalen Rechts folgen lässt.
Den Überblick über „Völkerrechtsverbrechen und die Möglichkeiten ihrer Ahndung” eröffnet ein kriminalpsychologischer Beitrag von Frank Neubacher, der die „Neutralisierungen” analysiert, die bei Massenverbrechen das Opfer zum „Feind” umdefinieren und so den Weg in kollektive Verantwortungslosigkeiten ebnen. Volker Nerlich zeichnet die Entwicklung der internationalen und internationalisierten Strafgerichtsbarkeit seit 1993 nach und untersucht dabei auch Wahrheitskommissionen, die die „notwendigerweise täterorientierte Strafgerichtsbarkeit” um ein Forum ergänzen könnten, in dem die Opfer im Vordergrund stünden. Dass die internationale Strafgerichtsbarkeit selbst nach dem „Komplementaritätsprinzip” stets nur ergänzende Funktion hat, erläutert Claudia Cárdenas Aravena.
Die Anwendung völkerstrafrechtlicher Normen, in Deutschland seit 2002 durch das Völkerstrafgesetzbuch in die nationale Rechtsordnung eingefügt, obliegt zuerst dem Staat. Vielfach nimmt das Römische Statut Entwicklungen an den Ad-Hoc-Tribunalen auf, etwa durch die Einbeziehung der Strafbarkeit sexueller Gewalt, nicht nur gegen Frauen. Gerade hat der UN-Sicherheitsrat in einer bemerkenswert nachdrücklichen Resolution neben verstärkter Prävention auch die unnachgiebige strafrechtliche Verfolgung sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten gefordert – und Vergewaltigung als Kriegsverbrechen gebrandmarkt. In ihrem Beitrag zeigt Anja Seibert-Fohr, dass im internationalen Strafrecht erhebliche Nachbesserungen der Verfahrensregeln angezeigt sind, um hier den schweren psychischen Folgen der Taten und den Schutzbedürfnissen der Opfer gerecht zu werden.
Politische Vereinnahmungen und juristische Unschärfen des Genozidbegriffs, der neben dem noch immer nicht definierten Aggressionsbegriff die zentrale Kategorie des Völkerstrafrechts geworden ist, beschreibt William Schabas. Der in Galway lehrende Völkerrechtler vertritt eine restriktive Auslegung des Begriffs, weil die Rede vom Völkermord, dem „Verbrechen der Verbrechen”, immer die Gefahr politischer Instrumentalisierung birgt, nicht zuletzt zur Legitimation militärischer Interventionen ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats, im Sinne einer weit interpretierten „responsibility to protect”.
„Humanitäre Interventionen” und „neue Kriege”, hegemonialer Unilateralismus und Privatisierung des Militärischen kommen ebenso zur Sprache wie der von Herfried Münkler aufpolierte Begriff des Imperiums, der den Blick schärft für die Realität asymmetrischer Konstellationen der Macht. Normative Fragen beantwortet er nicht. Was ist Recht, was soll es sein? In einer Welt jenseits begründeter Gegenseitigkeitserwartungen wäre darüber dringend zu reden. Der eigenen postheroischen Nüchternheit sollte man sich dabei nicht schämen.
Sorgfältige Begrenzung
Dazu ermutigt auch der exzellente Beitrag des Kölner Völkerstrafrechtlers Claus Kreß. Er geht der Frage nach, ob der Geltungsbereich des Völkerstrafrechts auf die transnationale Gewalt Privater ausgedehnt werden sollte, also auf PKK, Hisbollah oder das entterritorialisierte Terrornetzwerk Al-Qaida. Kreß zeigt, dass die Überlegungen der US-Regierung und ihres Völkerrechtsberaters John B. Bellinger im Anschluss an die „Hamdan”-Entscheidung des Supreme Court von 2006 darauf abzielen, die Auseinandersetzung mit Al-Qaida als nicht-internationalen Konflikt zu qualifizieren, auf den sich Konfliktvölkerrecht mit „präventiv-festnahmebezogener Komponente” anwenden lässt. Für vorzugswürdig hält der Strafrechtler allerdings eine friedensrechtliche, „im Ausgangspunkt polizeirechtliche Lösung”, die als „Recht der Grenzsituation” auch gegenüber den internationalen Menschenrechtsinstitutionen als Notstandsrecht „bezeichnet und begründet” werden müsse.
Wo Fragen der Gefahrenabwehr das Nachdenken über Probleme der Strafverfolgung weit nach hinten gedrängt haben, kuriert Claus Kreß seine Leser von überzogener Weltrechtseuphorie – mit gutem normativem Grund. Denn das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gebietet nicht nur, was der amerikanische Supreme Court gerade auf der Grundlage der US-Verfassung bekräftigt hat: Dass auch mutmaßliche Terroristen ein Recht haben, ihre Inhaftierung von einem ordentlichen Gericht überprüfen zu lassen. Völkerrechtliche Rechtsstaatlichkeit erfordert auch, so lässt sich bei Kreß nachlesen, „dass der Geltungsbereich des Völkerstrafrechts seines besonderen weitreichenden Anspruchs wegen einer äußerst sorgfältigen Begrenzung bedarf”.
Hinter allen Ernüchterungen verbirgt sich in diesem Band eine Fortschrittserzählung. Das Hamburger Institut für Sozialforschung ist in den vergangenen Jahren einer der aufregendsten Orte Deutschlands geworden, um über Fachgrenzen hinweg Fragen von Recht und Macht zu bedenken und zu debattieren. Dabei bleiben transdisziplinäre Reibungen nicht aus. Aber das Gespräch geht weiter, und das ist auch ein Verdienst des Juristen und Sprachwissenschaftlers Gerd Hankel. Mit diesem Band hat er eine Pflichtlektüre für alle herausgegeben, die an aktuellen Fragen des Völkerrechts interessiert sind – und an seiner Zukunft. ALEXANDRA KEMMERER
GERD HANKEL (Hrsg.): Die Macht und das Recht. Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hamburger Edition, Hamburg 2008. 462 Seiten, 35 Euro.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wurde 1946 gegründet; andere internationale Strafgerichtshöfe kamen später hinzu. Foto: Robin Utrecht / dpa
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Trotz aller Ernüchterungen ist es eine Fortschrittserzählung: Neue Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht
Es hätte eine große Fortschrittserzählung werden können. Sie beginnt im Sommer 1995, als Gerd Hankel und Gerhard Stuby einen dicken Sammelband über „Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen” herausgaben, der dem hier zu besprechenden Buch vorausging. Der Band wurde unter Jurastudenten schnell zum Geheimtipp – und zur Pflichtlektüre. Denn im Sommer 1995, als sich der Name Srebrenica ins Gedächtnis einbrannte, endete in den Lehrbüchern die Geschichte des Völkerstrafrechts noch immer mit den Nürnberger Prozessen. 1993 und 1994 hatte der UN-Sicherheitsrat Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda eingerichtet. Die Zukunft dieser Gerichte, die 2009 ihre erstinstanzlichen Verfahren abschließen sollen, schien damals so unsicher wie ihre Rechtsgrundlage.
Dann aber überbot die Wirklichkeit in atemberaubendem Tempo die vorsichtigen Prognosen des Hamburger Sammelbandes, und bald schon war mein Exemplar des Buches ganz zerlesen, voller Bleistiftkommentare, eselsohrig und kaffeegefleckt. Viele der Aufsätze erleichterten die Navigation in der Flut der Ereignisse, denen bald eine Welle neuer Literatur folgte. 1998 wurde in Rom das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet. Schon am 1. Juli 2002 trat es in Kraft, als in New York die sechzigste Ratifikationsurkunde hinterlegt wurde, und im Sommer vor fünf Jahren konnte das neue Haager Weltgericht seine Arbeit aufnehmen.
Eine gefährdete Errungenschaft
Der hoffnungsvolle Überschwang, der die Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit anfänglich begleitet hatte, war längst großer Ernüchterung gewichen. Die bleibt. Seit dem 11. September 2001 sind Bedrohungen unübersehbar, die zu Neudefinitionen von Freiheit und Sicherheit drängen. Forsche Unworte wie „Feindstrafrecht” und „Bürgeropfer” sind salonfähig geworden. Ein schnittiger Neorealismus macht sich breit, der mit der Moral auch gleich das Recht davonjagt.
Den Haag hat Darfur nicht verhindert. Karadzic ist endlich verhaftet, doch Mladic und Kabuga leben weiter unbehelligt irgendwo in Freiheit. Im Irak und in Afghanistan kann von Strukturen stabiler, geschweige denn demokratischer Staatlichkeit keine Rede sein. Das völkerrechtliche Folterverbot ist, wie Monique Chemillier-Gendreau im vorliegenden Band treffend formuliert, eine „gefährdete Errungenschaft”. Und der Internationale Strafgerichtshof, dessen Ermittlungen erst begonnen haben, kann die Vereinigten Staaten, China und Russland weiterhin nicht zu seinen Unterstützern zählen. Nach der schönen neuen Weltordnung kam die neue Unübersichtlichkeit. Sie dauert an – aber sie eröffnet, in allen Begrenzungen, auch Handlungsmöglichkeiten.
Darum ist es gut, dass Gerd Hankel nun in der Hamburger Edition erneut einen völkerstrafrechtlichen Sammelband vorgelegt hat, der Orientierungen ermöglicht und zum Weiterdenken anregt. Grund und Grenzen des Völkerrechts sind neu zu bestimmen. Das Völkerstrafrecht spielt dabei eine entscheidende Rolle, wird aber selbst auch von veränderten Wertungen und Prinzipien beeinflusst. Der Band bildet diese Wechselwirkungen ab, indem er sechs Aufsätzen mit völkerstrafrechtlichen Themen in einem zweiten Teil sechs Beiträge zu aktuellen Problemfeldern des internationalen Rechts folgen lässt.
Den Überblick über „Völkerrechtsverbrechen und die Möglichkeiten ihrer Ahndung” eröffnet ein kriminalpsychologischer Beitrag von Frank Neubacher, der die „Neutralisierungen” analysiert, die bei Massenverbrechen das Opfer zum „Feind” umdefinieren und so den Weg in kollektive Verantwortungslosigkeiten ebnen. Volker Nerlich zeichnet die Entwicklung der internationalen und internationalisierten Strafgerichtsbarkeit seit 1993 nach und untersucht dabei auch Wahrheitskommissionen, die die „notwendigerweise täterorientierte Strafgerichtsbarkeit” um ein Forum ergänzen könnten, in dem die Opfer im Vordergrund stünden. Dass die internationale Strafgerichtsbarkeit selbst nach dem „Komplementaritätsprinzip” stets nur ergänzende Funktion hat, erläutert Claudia Cárdenas Aravena.
Die Anwendung völkerstrafrechtlicher Normen, in Deutschland seit 2002 durch das Völkerstrafgesetzbuch in die nationale Rechtsordnung eingefügt, obliegt zuerst dem Staat. Vielfach nimmt das Römische Statut Entwicklungen an den Ad-Hoc-Tribunalen auf, etwa durch die Einbeziehung der Strafbarkeit sexueller Gewalt, nicht nur gegen Frauen. Gerade hat der UN-Sicherheitsrat in einer bemerkenswert nachdrücklichen Resolution neben verstärkter Prävention auch die unnachgiebige strafrechtliche Verfolgung sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten gefordert – und Vergewaltigung als Kriegsverbrechen gebrandmarkt. In ihrem Beitrag zeigt Anja Seibert-Fohr, dass im internationalen Strafrecht erhebliche Nachbesserungen der Verfahrensregeln angezeigt sind, um hier den schweren psychischen Folgen der Taten und den Schutzbedürfnissen der Opfer gerecht zu werden.
Politische Vereinnahmungen und juristische Unschärfen des Genozidbegriffs, der neben dem noch immer nicht definierten Aggressionsbegriff die zentrale Kategorie des Völkerstrafrechts geworden ist, beschreibt William Schabas. Der in Galway lehrende Völkerrechtler vertritt eine restriktive Auslegung des Begriffs, weil die Rede vom Völkermord, dem „Verbrechen der Verbrechen”, immer die Gefahr politischer Instrumentalisierung birgt, nicht zuletzt zur Legitimation militärischer Interventionen ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats, im Sinne einer weit interpretierten „responsibility to protect”.
„Humanitäre Interventionen” und „neue Kriege”, hegemonialer Unilateralismus und Privatisierung des Militärischen kommen ebenso zur Sprache wie der von Herfried Münkler aufpolierte Begriff des Imperiums, der den Blick schärft für die Realität asymmetrischer Konstellationen der Macht. Normative Fragen beantwortet er nicht. Was ist Recht, was soll es sein? In einer Welt jenseits begründeter Gegenseitigkeitserwartungen wäre darüber dringend zu reden. Der eigenen postheroischen Nüchternheit sollte man sich dabei nicht schämen.
Sorgfältige Begrenzung
Dazu ermutigt auch der exzellente Beitrag des Kölner Völkerstrafrechtlers Claus Kreß. Er geht der Frage nach, ob der Geltungsbereich des Völkerstrafrechts auf die transnationale Gewalt Privater ausgedehnt werden sollte, also auf PKK, Hisbollah oder das entterritorialisierte Terrornetzwerk Al-Qaida. Kreß zeigt, dass die Überlegungen der US-Regierung und ihres Völkerrechtsberaters John B. Bellinger im Anschluss an die „Hamdan”-Entscheidung des Supreme Court von 2006 darauf abzielen, die Auseinandersetzung mit Al-Qaida als nicht-internationalen Konflikt zu qualifizieren, auf den sich Konfliktvölkerrecht mit „präventiv-festnahmebezogener Komponente” anwenden lässt. Für vorzugswürdig hält der Strafrechtler allerdings eine friedensrechtliche, „im Ausgangspunkt polizeirechtliche Lösung”, die als „Recht der Grenzsituation” auch gegenüber den internationalen Menschenrechtsinstitutionen als Notstandsrecht „bezeichnet und begründet” werden müsse.
Wo Fragen der Gefahrenabwehr das Nachdenken über Probleme der Strafverfolgung weit nach hinten gedrängt haben, kuriert Claus Kreß seine Leser von überzogener Weltrechtseuphorie – mit gutem normativem Grund. Denn das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gebietet nicht nur, was der amerikanische Supreme Court gerade auf der Grundlage der US-Verfassung bekräftigt hat: Dass auch mutmaßliche Terroristen ein Recht haben, ihre Inhaftierung von einem ordentlichen Gericht überprüfen zu lassen. Völkerrechtliche Rechtsstaatlichkeit erfordert auch, so lässt sich bei Kreß nachlesen, „dass der Geltungsbereich des Völkerstrafrechts seines besonderen weitreichenden Anspruchs wegen einer äußerst sorgfältigen Begrenzung bedarf”.
Hinter allen Ernüchterungen verbirgt sich in diesem Band eine Fortschrittserzählung. Das Hamburger Institut für Sozialforschung ist in den vergangenen Jahren einer der aufregendsten Orte Deutschlands geworden, um über Fachgrenzen hinweg Fragen von Recht und Macht zu bedenken und zu debattieren. Dabei bleiben transdisziplinäre Reibungen nicht aus. Aber das Gespräch geht weiter, und das ist auch ein Verdienst des Juristen und Sprachwissenschaftlers Gerd Hankel. Mit diesem Band hat er eine Pflichtlektüre für alle herausgegeben, die an aktuellen Fragen des Völkerrechts interessiert sind – und an seiner Zukunft. ALEXANDRA KEMMERER
GERD HANKEL (Hrsg.): Die Macht und das Recht. Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hamburger Edition, Hamburg 2008. 462 Seiten, 35 Euro.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wurde 1946 gegründet; andere internationale Strafgerichtshöfe kamen später hinzu. Foto: Robin Utrecht / dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dem Herausgeber Gerd Hanke flicht Alexandra Kemmerer einen hübschen Lorbeerkranz. Zwar erscheinen ihr die im Band versammelten Beiträge zum Völkerstrafrecht durch die Dringlichkeit von Überlegungen und Verbesserungen in diesem Bereich, die sie aufzeigen, ernüchternd. In dieser Großtat der Kompilierung aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung entdeckt Kemmerer allerdings so etwas wie eine Fortschrittserzählung. Die Chance, herrschende Unübersichtlichkeiten zu überwinden und die Grenzen des Völkerrechts neu zu bestimmen, indem die Wechselwirkungen zwischen veränderten Prinzipien und Wertungen und dem Völkerstrafrecht als entscheidendes Moment des Völkerrechts aufgezeigt werden, sieht Kemmerer in den Beiträgen gut genutzt. Ob in Sachen Wahrheitskommissionen oder "juristische Unschärfen" den Genozidbegriff betreffend. "Weltrechtseuphorie" ist es aber nicht, was der Rezensentin dabei aufgeht.
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