Die deutsche Demokratie wirkt matt und müde. Die Parteien als Träger politischer Macht sind überfordert. Was tun? Einer der wichtigsten politischen Journalisten des Landes bleibt nicht bei der Analyse stehen: Sein Buch liefert überraschende Innensichten der Macht und eine ebenso überraschende (Wahl-)Empfehlung. Steingart will Mut machen. Er wirbt für eine Erneuerung der Demokratie.
Pünktlich zum 60. Geburtstag der Republik widmet sich Steingart in "Die Machtfrage" dem demokratischen System in Deutschland. Mit kühler Präzision beschreibt er die Kanzlerkandidaten und den Niedergang der Volksparteien. Sein alarmierender Befund: Die Demokratie ist erstarrt. Die Parteien sind nicht mehr repräsentativ für das Volk, das sie führen. Sie fremdeln mit der Lebenswirklichkeit, ihre Gestaltungskraft ist geschrumpft, ihr Machtwille allerdings ungebrochen. Deutschland habe sich in eine "Demokratie von oben" verwandelt, in der zunehmend "Politik ohne Volk" betrieben werde.
Pünktlich zum 60. Geburtstag der Republik widmet sich Steingart in "Die Machtfrage" dem demokratischen System in Deutschland. Mit kühler Präzision beschreibt er die Kanzlerkandidaten und den Niedergang der Volksparteien. Sein alarmierender Befund: Die Demokratie ist erstarrt. Die Parteien sind nicht mehr repräsentativ für das Volk, das sie führen. Sie fremdeln mit der Lebenswirklichkeit, ihre Gestaltungskraft ist geschrumpft, ihr Machtwille allerdings ungebrochen. Deutschland habe sich in eine "Demokratie von oben" verwandelt, in der zunehmend "Politik ohne Volk" betrieben werde.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2009Zorn und Form
Nichtwählen kann keine ernsthafte Empfehlung sein
Gabor Steingart, derzeit Spiegel- Korrespondent in Washington, ist enttäuscht von den Parteien und den Politikern in Deutschland. Die Wähler wendeten sich von ihnen ab, weil die sich vom Volk entfernt hätten. Ändern, so glaubt er, könne man nur etwas durch Wahlenthaltung. Steingart geht mit den oft unglücklich und glücklos agierenden politischen Protagonisten hart ins Gericht. Ob Kanzlerin, Herausforderer oder Minister: Abwiegler, Angeber sie alle. Abweichler nur in Nuancen oder in kleinen Kreisen, zu denen der Autor selbstverständlich Zugang pflegt. Das mag seine Verzweiflung nähren, die Analyse schärfen diese Schilderungen nicht.
Steingart blickt auf persönliche Erfahrungen zurück: seine Schwärmerei für Willy Brandt, seinen Respekt vor Helmut Schmidt. Für die Gegenwart hat er nur Enttäuschung parat. Er beklagt den Rückgang demokratischer Leidenschaft zugunsten der Mitläufer und der Zornigen. Gerne wüsste man mehr über die Zornigen, etwa die unter den US-Bürgern. Ihnen ist der Präsident Barack Obama zu verdanken, eine Ausnahmepersönlichkeit zweifellos. Wie er agiert – Steingart erlebt das aus der Nähe –, darüber hätte man gern mehr erfahren. Der Autor hat gute Gründe, Obama zu bewundern, aber leider bleibt er in diesen Passagen sehr knapp, zu knapp: Warum beschämt Obama deutsche Politiker? Was wäre geschehen, wenn man sich in den USA nach den desolaten Erfahrungen der Bush-Jahre zum Nichtwählen entschlossen hätte? Wäre Obama Präsident geworden, hätte er nicht Wähler erreicht, die sich längst von der Politik abgewandt oder sich mit ihr (noch) nie beschäftigt hatten? Menschen, die er jetzt für die Umgestaltung dieses wirtschaftlich und im politischen Ansehen der Welt zerrütteten Landes dringend braucht?
Wer wählt, stimmt zu, behauptet Steingart. Das war einmal, in der DDR etwa. Wie nach dem Mauerfall diese demokratische Errungenschaft als zivile Form der Mitbestimmung im Osten gefeiert wurde – das weiß doch auch der erfahrene Publizist Steingart. Wer nicht wählt, stimmt der Mehrheit derer zu, die wählen gehen, gleich welcher Partei. Dass ihm als Korrespondent manche Nachricht aus Deutschland wie aus einem fernen Land vorkommt, mag man ihm nachsehen. Sonst müsste es ihn beunruhigen, dass nach neuen Studien 20 Prozent der Bürger anfällig für fremdenfeindliches Gedankengut sind. Festzustellen, die neuen Nazis seien unschön für das demokratische Deutschland, aber ungefährlich für seine Stabilität, ist so fahrlässig wie die Ermunterung zum Nichtwählen.
Steingart behauptet, Wahlenthaltung sei nicht bequem, sondern eine Qual. Für ihn mag das gelten. Als intellektuelle Provokation wirkt das Argument dürftig. Der gemeine Nichtwähler faucht bestenfalls seinen Frust durch die Zähne. Meist weiß er, dass es nicht die Politiker aus den Parteien sind, die ihre Kommunen dem Verfall preisgeben aus Mangel an Kompetenz, wie es etwa in Köln unter OB Fritz Schramma der Fall war. Wie es auch nicht typisch ist, dass ein Ministerpräsident als selbstherrlicher Monarch auftritt, dessen unfallbedingt getrübte Sinne einem ganzen Land nachhaltig zu schaden drohen, wie Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus.
Doch einem solchen Gebaren sind die Bürger ja nicht hilflos ausgeliefert: Sie können dem Zorn durch Wählen – oder Abwählen – eine Form geben, und so verändern, gestalten. Diese Möglichkeit besteht für die Thüringer noch nicht lange. In der DDR waren sie Stimmvieh. Wer nicht gleich seinen Wahlzettel faltete und unter Blickkontakt in die Urne steckte, wer es gar wagte, eine Wahlkabine zu benutzen, wurde registriert. In Demokratien ist Nichtwählen kein aktiver Akt des stummen Protests. Hier paaren sich Resignation und Desinteresse. Kein schönes, kein stolzes Paar.
Seine Ferndiagnose beschließt Steingart mit Vorschlägen zur Erneuerung der Demokratie. Doch sie füllen schon lange die Meinungsseiten der Zeitungen, ob es dabei um den Abschied von Listen-Abgeordneten geht, um das Leistungsprinzip für Mandatsträger oder um den vom Volk gewählten Bundespräsidenten. Zum 60. Jahrestag scheint einigen das Grundgesetz lästig zu werden.
Quälen beim Lesen dieses Buches vielleicht nicht nur die „strukturell erschöpften Parteien” mit ihren „erschlafften
Politikern”, sondern vor allem die vorgeführten erschlafften Gedanken? Dass
die Wahlbeteiligung in Deutschland erschreckend zurückgeht, ist – bislang – nicht Steingarts Verdienst. Da die wenigsten Bürger hier ihren Alltag als „romantische Demokraten” bestreiten, werden sie es sich hoffentlich 2009 nicht nehmen lassen zu wählen oder – für den Erhalt der politischen Kultur – auch abzuwählen. MONIKA KÜNZEL
GABOR STEINGART: Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers. Piper. München 2009. 224 S., 14,95 Euro.
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Nichtwählen kann keine ernsthafte Empfehlung sein
Gabor Steingart, derzeit Spiegel- Korrespondent in Washington, ist enttäuscht von den Parteien und den Politikern in Deutschland. Die Wähler wendeten sich von ihnen ab, weil die sich vom Volk entfernt hätten. Ändern, so glaubt er, könne man nur etwas durch Wahlenthaltung. Steingart geht mit den oft unglücklich und glücklos agierenden politischen Protagonisten hart ins Gericht. Ob Kanzlerin, Herausforderer oder Minister: Abwiegler, Angeber sie alle. Abweichler nur in Nuancen oder in kleinen Kreisen, zu denen der Autor selbstverständlich Zugang pflegt. Das mag seine Verzweiflung nähren, die Analyse schärfen diese Schilderungen nicht.
Steingart blickt auf persönliche Erfahrungen zurück: seine Schwärmerei für Willy Brandt, seinen Respekt vor Helmut Schmidt. Für die Gegenwart hat er nur Enttäuschung parat. Er beklagt den Rückgang demokratischer Leidenschaft zugunsten der Mitläufer und der Zornigen. Gerne wüsste man mehr über die Zornigen, etwa die unter den US-Bürgern. Ihnen ist der Präsident Barack Obama zu verdanken, eine Ausnahmepersönlichkeit zweifellos. Wie er agiert – Steingart erlebt das aus der Nähe –, darüber hätte man gern mehr erfahren. Der Autor hat gute Gründe, Obama zu bewundern, aber leider bleibt er in diesen Passagen sehr knapp, zu knapp: Warum beschämt Obama deutsche Politiker? Was wäre geschehen, wenn man sich in den USA nach den desolaten Erfahrungen der Bush-Jahre zum Nichtwählen entschlossen hätte? Wäre Obama Präsident geworden, hätte er nicht Wähler erreicht, die sich längst von der Politik abgewandt oder sich mit ihr (noch) nie beschäftigt hatten? Menschen, die er jetzt für die Umgestaltung dieses wirtschaftlich und im politischen Ansehen der Welt zerrütteten Landes dringend braucht?
Wer wählt, stimmt zu, behauptet Steingart. Das war einmal, in der DDR etwa. Wie nach dem Mauerfall diese demokratische Errungenschaft als zivile Form der Mitbestimmung im Osten gefeiert wurde – das weiß doch auch der erfahrene Publizist Steingart. Wer nicht wählt, stimmt der Mehrheit derer zu, die wählen gehen, gleich welcher Partei. Dass ihm als Korrespondent manche Nachricht aus Deutschland wie aus einem fernen Land vorkommt, mag man ihm nachsehen. Sonst müsste es ihn beunruhigen, dass nach neuen Studien 20 Prozent der Bürger anfällig für fremdenfeindliches Gedankengut sind. Festzustellen, die neuen Nazis seien unschön für das demokratische Deutschland, aber ungefährlich für seine Stabilität, ist so fahrlässig wie die Ermunterung zum Nichtwählen.
Steingart behauptet, Wahlenthaltung sei nicht bequem, sondern eine Qual. Für ihn mag das gelten. Als intellektuelle Provokation wirkt das Argument dürftig. Der gemeine Nichtwähler faucht bestenfalls seinen Frust durch die Zähne. Meist weiß er, dass es nicht die Politiker aus den Parteien sind, die ihre Kommunen dem Verfall preisgeben aus Mangel an Kompetenz, wie es etwa in Köln unter OB Fritz Schramma der Fall war. Wie es auch nicht typisch ist, dass ein Ministerpräsident als selbstherrlicher Monarch auftritt, dessen unfallbedingt getrübte Sinne einem ganzen Land nachhaltig zu schaden drohen, wie Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus.
Doch einem solchen Gebaren sind die Bürger ja nicht hilflos ausgeliefert: Sie können dem Zorn durch Wählen – oder Abwählen – eine Form geben, und so verändern, gestalten. Diese Möglichkeit besteht für die Thüringer noch nicht lange. In der DDR waren sie Stimmvieh. Wer nicht gleich seinen Wahlzettel faltete und unter Blickkontakt in die Urne steckte, wer es gar wagte, eine Wahlkabine zu benutzen, wurde registriert. In Demokratien ist Nichtwählen kein aktiver Akt des stummen Protests. Hier paaren sich Resignation und Desinteresse. Kein schönes, kein stolzes Paar.
Seine Ferndiagnose beschließt Steingart mit Vorschlägen zur Erneuerung der Demokratie. Doch sie füllen schon lange die Meinungsseiten der Zeitungen, ob es dabei um den Abschied von Listen-Abgeordneten geht, um das Leistungsprinzip für Mandatsträger oder um den vom Volk gewählten Bundespräsidenten. Zum 60. Jahrestag scheint einigen das Grundgesetz lästig zu werden.
Quälen beim Lesen dieses Buches vielleicht nicht nur die „strukturell erschöpften Parteien” mit ihren „erschlafften
Politikern”, sondern vor allem die vorgeführten erschlafften Gedanken? Dass
die Wahlbeteiligung in Deutschland erschreckend zurückgeht, ist – bislang – nicht Steingarts Verdienst. Da die wenigsten Bürger hier ihren Alltag als „romantische Demokraten” bestreiten, werden sie es sich hoffentlich 2009 nicht nehmen lassen zu wählen oder – für den Erhalt der politischen Kultur – auch abzuwählen. MONIKA KÜNZEL
GABOR STEINGART: Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers. Piper. München 2009. 224 S., 14,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gabor Steingarts Aufforderung zum Nichtwählen taugt für die verärgerte Rezensentin Monika Künzel nicht einmal als intellektuelle Provokation. Für sie ist Wahlenthaltung kein Ausdruck wohldurchdachten Protestes, sondern einfach nur von "Resignation und Desinteresse" - und für jemanden wie den Autor, dem als Spiegel-Korrespondenten die Kommentarspalten der führenden Medien offen stehen auch eher ein kleiner Verzicht. Aber auch mit Steingarts Analyse der politischen Klasse hierzulande ist sie nicht einverstanden. Das Bild, das Steingart vom politischen Führungspersonal in Deutschland zeichnet, findet sie genauso unscharf wie das von Barack Obama, der angeblich hiesige Politiker beschämen müsste. Bleibt der Rezensentin noch festzuhalten, dass die Wahlbeteiligung bisher auch ohne dezidierte Aufforderungen stetig gesunken ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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