Severina schweigt. Sie schweigt seit jenem Tag, als Massimo sie verlassen hat, mit der Touristin, die keiner kannte. Doch eines Tages sieht sie jemanden die Bergflanke heraufkommen und weiß sofort, dass es niemand anderes ist als er. Und während Massimo den langen Weg vom Dorf auf die Alm zurücklegt, ist Zeit genug, das Gewesene, das Erlebte und das Kommende einer - vielleicht - gebrochenen Liebe in einer wunderbar poetischen Sprache zu vergegenwärtigen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001Die Puppe bleibt draußen!
Vom Tal des Schweigens zum Gipfel der Versöhnung: Bernd Schroeders Bergparabel / Von Felicitas von Lovenberg
Der Gipfel der Madonnina ist ein Felsen, der so heißt, weil man von dort bei klarem Wetter die Madonna auf dem Mailänder Dom sehen kann, herübergrüßend aus einer anderen Welt.
Nicht weit von dieser Stelle, in der kargen Höhe der norditalienischen Berge, lebt Severina mit ihrer Schwiegermutter auf einem Gehöft und schweigt. Nicht, daß sie stumm wäre. Seit dem Tag, als ihr Mann sie wegen einer hergelaufenen Mailänderin verließ und sie, rufend, im ganzen Dorf nach ihm gesucht, dann in ihrer ohnmächtigen Wut das gemeinsame Haus verwüstet hatte, sieht sie keinen Grund mehr zu reden. Nicht mit Bekannten aus dem Dorf, nicht mit ihrem Vater oder ihren Brüdern - mit niemandem. Am wenigsten mit Massimos Mutter, die Severina ebenso verabscheut wie diese sie.
Die Unfähigkeit vieler Männer zur Monogamie wird von Frauen seit jeher wortreich und lautstark kommentiert. Es hat etwas Bedrohliches, wenn eine Frau, die allen Grund hätte, ihrem Mann Vorwürfe zu machen, nichts sagt. Bernd Schroeder hat mit seinem dritten Roman eine wunderbare Miniatur über das Schweigen verfaßt, über das Verstummen einer Frau, der ein Schock die Kehle zugeschnürt hat und die sich in ihr Schweigen hineinsteigert wie andere Menschen in eine Sucht - je länger sie schweigt, um so weniger möchte sie sprechen.
Severina schweigt nicht beiläufig. Sie benutzt ihr Schweigen als Waffe, als Wall gegen die Außenwelt mit ihren Fragen und guten Ratschlägen. Ihre Wortlosigkeit ist ein Ereignis in dieser archaischen Bergwelt, die Schroeder eindringlich, ohne falsche Nostalgie schildert. Zunächst ist ungewiß, in welcher Zeit der Roman spielt; erst als Massimo alles stehen- und liegenläßt, um der anderen Frau nach Mailand zu folgen, wird deutlich, daß es die Gegenwart ist. Der parabelhafte Charakter der Erzählung bleibt dennoch gewahrt, denn diese Geschichte hätte sich zu jeder Zeit ereignen können.
Als Massimo Severina heiratet und nicht ihre schöne, kapriziöse Schwester Anna, staunen die Dorfbewohner. Denn Massimo ist etwas Besonderes, der "stattlichste, wunderbarste Mann ringsum", den man der unauffälligen Severina gar nicht zugetraut hätte. Für Massimo ändert sich durch die Ehe wenig: Er kann nicht treu sein, auch nicht Severina. Immer wieder zieht es ihn in andere Betten, selbst wenn er sich gerade noch fest vorgenommen hat, von der Bar aus direkt nach Hause zu gehen. Doch solange ihn sein Weg außer zu ihr nur in das mit Puppen vollgestopfte Bett Rosannas führt, bleibt Severinas Welt intakt: "Rosanna, das wußte Severina, konnte ihr nichts wegnehmen."
Wie alle im Dorf führten auch Severina und Massimo ein einfaches, hartes Leben. Die fragile Balance ist dahin von jenem Tag an, an dem Massimo einigen Touristen die Madonnina zeigt, dabei Renata kennenlernt und ihr verfällt. Doch der Rastlose findet auch in Mailand keine Ruhe. Nach einem Jahr entschließt er sich zur Rückkehr.
Bernd Schroeder erzählt diese einfache Geschichte in einfachen Worten. Unangestrengt und ungekünstelt kommt dieser kleine Roman daher. Seinen Sog entwickelt er durch Severinas Schweigen. Nebenher finden sich gelungene Charakterisierungen der Menschen aus dem Dorf: Der dicke Franco-Francone, der sich insgeheim wünscht, seine Frau wäre wenigstens ab und zu so schweigsam wie Severina; die einsame Rosanna, die bei Massimos Rückkehr in der Hoffnung, daß er auch in ihr Bett zurückkehren wird, ein Opfer bringt und all die Puppen wegwirft, die ihn immer gestört haben; die Wirtin Teresa, die als einzige Frau den Gesprächen der Männer am Tresen zuhört und sich einen schneidigen Liebhaber herbeiphantasiert. Keine der Figuren wird vom Autor bloßgestellt oder belächelt; Schroeder vermeidet jegliches Klischee von der Schlichtheit naturverbundener Gemüter. Die Städterin Renata ist kein mondäner Vamp, Severina kein Bauerntrampel. Daß der Roman an keiner Stelle altbacken wirkt, verdankt sich aber nicht zuletzt dem geschickten Spiel des Autors mit verschiedenen Zeitebenen.
Er läßt seine Geschichte von der Trennung und Wiederannäherung eines Paars einsetzen mit Massimos Schlag auf das Seil an der Bergstation. Das Geräusch kündigt oben auf dem Gehöft Waren an - oder einen Besucher. Severina weiß sofort, daß es Massimo ist, der dieses Mal auf das Seil geschlagen hat. Und er ist sich sicher, daß sie den hohen, sirrenden Ton, den nur er erzeugen kann, erkannt hat. Es bahnt sich ein Wiedersehen an, das entweder die Versöhnung oder den endgültigen Bruch bringen muß. In einer halben Stunde wird Massimo oben angelangt sein. Bis dahin vergeht ziemlich genau die Hälfte des Romans.
Während seines Aufstiegs fragt er sich, ob vielleicht ein anderer in dem Jahr seiner Abwesenheit seinen Platz eingenommen hat. Sie hatte es sich einen Moment lang gewünscht: "Wäre doch jetzt ein Mann da, einer, der ihm entschieden entgegentreten würde mit dem ganzen Recht dessen, der jetzt hier die Hühner schlachtet, das Holz schlägt, die Schafe schert, Wein und Lebensmittel aus dem Dorf heraufträgt und das Schuppendach restauriert." Sie denkt an die andere Frau, von der er kommt, dieses "Traumgebilde" aus einer ihr unbekannten Welt, und was er bei ihr gesucht und nicht gefunden hat. Ihm wiederum hat man unten im Dorf gesagt, Severina sei verrückt geworden. Sie selbst fragt sich hin und wieder auch, ob sie es wohl ist. Oder er? "Er war aus Severinas Leben gegangen, wie er in ihr Leben gekommen war: lächelnd, stolz, aufrecht, verrückt. Ist er vielleicht verrückt?"
Massimo ruft sich das Heimweh in Erinnerung, das er in Mailand empfunden hat, als er in die hohe Kuppel des Doms starrte, auf die riesige Madonna, die früher aus der Ferne so fragil winzig schien. Severina hadert mit dem Gott, der ihren kleinen Sebastiano hat sterben lassen. Er denkt an die Zeit, als der Sohn tot war und Severina trauerte. "Noch wochenlang deckte sie den Tisch für eine imaginäre Person am Tisch, monatelang stand die Wiege im Schlafzimmer, und den Winter über ging sie täglich zum Grab." Auch damals war sie verstummt.
Dann ist er oben angelangt: Von nun an läuft die Handlung vorwärts statt zurück. Die gemeinsame Geschichte jedoch geht nicht bruchlos weiter. Severina findet nicht gleich die Worte, um mit Massimo zu sprechen. Und er muß seinerseits erst eine Sprache finden, um zu ihr durchzudringen und ihr zu zeigen, daß er nicht nur in seine vertraute Umgebung zurückgekehrt ist, sondern auch zu ihr. So wird die Bürde und Notwendigkeit des Schweigens zu einer Herausforderung für beide. Ihre Versöhnung wird durch kein besonderes Ereignis besiegelt, sondern manifestiert sich in einem labilen Zustand zwischen Verzeihen und Vergessen. In ihm findet der Roman zu einem wunderbar schwebenden Schluß.
Bernd Schroeder: "Die Madonnina". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2001. 205 S., geb., 35,01 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Tal des Schweigens zum Gipfel der Versöhnung: Bernd Schroeders Bergparabel / Von Felicitas von Lovenberg
Der Gipfel der Madonnina ist ein Felsen, der so heißt, weil man von dort bei klarem Wetter die Madonna auf dem Mailänder Dom sehen kann, herübergrüßend aus einer anderen Welt.
Nicht weit von dieser Stelle, in der kargen Höhe der norditalienischen Berge, lebt Severina mit ihrer Schwiegermutter auf einem Gehöft und schweigt. Nicht, daß sie stumm wäre. Seit dem Tag, als ihr Mann sie wegen einer hergelaufenen Mailänderin verließ und sie, rufend, im ganzen Dorf nach ihm gesucht, dann in ihrer ohnmächtigen Wut das gemeinsame Haus verwüstet hatte, sieht sie keinen Grund mehr zu reden. Nicht mit Bekannten aus dem Dorf, nicht mit ihrem Vater oder ihren Brüdern - mit niemandem. Am wenigsten mit Massimos Mutter, die Severina ebenso verabscheut wie diese sie.
Die Unfähigkeit vieler Männer zur Monogamie wird von Frauen seit jeher wortreich und lautstark kommentiert. Es hat etwas Bedrohliches, wenn eine Frau, die allen Grund hätte, ihrem Mann Vorwürfe zu machen, nichts sagt. Bernd Schroeder hat mit seinem dritten Roman eine wunderbare Miniatur über das Schweigen verfaßt, über das Verstummen einer Frau, der ein Schock die Kehle zugeschnürt hat und die sich in ihr Schweigen hineinsteigert wie andere Menschen in eine Sucht - je länger sie schweigt, um so weniger möchte sie sprechen.
Severina schweigt nicht beiläufig. Sie benutzt ihr Schweigen als Waffe, als Wall gegen die Außenwelt mit ihren Fragen und guten Ratschlägen. Ihre Wortlosigkeit ist ein Ereignis in dieser archaischen Bergwelt, die Schroeder eindringlich, ohne falsche Nostalgie schildert. Zunächst ist ungewiß, in welcher Zeit der Roman spielt; erst als Massimo alles stehen- und liegenläßt, um der anderen Frau nach Mailand zu folgen, wird deutlich, daß es die Gegenwart ist. Der parabelhafte Charakter der Erzählung bleibt dennoch gewahrt, denn diese Geschichte hätte sich zu jeder Zeit ereignen können.
Als Massimo Severina heiratet und nicht ihre schöne, kapriziöse Schwester Anna, staunen die Dorfbewohner. Denn Massimo ist etwas Besonderes, der "stattlichste, wunderbarste Mann ringsum", den man der unauffälligen Severina gar nicht zugetraut hätte. Für Massimo ändert sich durch die Ehe wenig: Er kann nicht treu sein, auch nicht Severina. Immer wieder zieht es ihn in andere Betten, selbst wenn er sich gerade noch fest vorgenommen hat, von der Bar aus direkt nach Hause zu gehen. Doch solange ihn sein Weg außer zu ihr nur in das mit Puppen vollgestopfte Bett Rosannas führt, bleibt Severinas Welt intakt: "Rosanna, das wußte Severina, konnte ihr nichts wegnehmen."
Wie alle im Dorf führten auch Severina und Massimo ein einfaches, hartes Leben. Die fragile Balance ist dahin von jenem Tag an, an dem Massimo einigen Touristen die Madonnina zeigt, dabei Renata kennenlernt und ihr verfällt. Doch der Rastlose findet auch in Mailand keine Ruhe. Nach einem Jahr entschließt er sich zur Rückkehr.
Bernd Schroeder erzählt diese einfache Geschichte in einfachen Worten. Unangestrengt und ungekünstelt kommt dieser kleine Roman daher. Seinen Sog entwickelt er durch Severinas Schweigen. Nebenher finden sich gelungene Charakterisierungen der Menschen aus dem Dorf: Der dicke Franco-Francone, der sich insgeheim wünscht, seine Frau wäre wenigstens ab und zu so schweigsam wie Severina; die einsame Rosanna, die bei Massimos Rückkehr in der Hoffnung, daß er auch in ihr Bett zurückkehren wird, ein Opfer bringt und all die Puppen wegwirft, die ihn immer gestört haben; die Wirtin Teresa, die als einzige Frau den Gesprächen der Männer am Tresen zuhört und sich einen schneidigen Liebhaber herbeiphantasiert. Keine der Figuren wird vom Autor bloßgestellt oder belächelt; Schroeder vermeidet jegliches Klischee von der Schlichtheit naturverbundener Gemüter. Die Städterin Renata ist kein mondäner Vamp, Severina kein Bauerntrampel. Daß der Roman an keiner Stelle altbacken wirkt, verdankt sich aber nicht zuletzt dem geschickten Spiel des Autors mit verschiedenen Zeitebenen.
Er läßt seine Geschichte von der Trennung und Wiederannäherung eines Paars einsetzen mit Massimos Schlag auf das Seil an der Bergstation. Das Geräusch kündigt oben auf dem Gehöft Waren an - oder einen Besucher. Severina weiß sofort, daß es Massimo ist, der dieses Mal auf das Seil geschlagen hat. Und er ist sich sicher, daß sie den hohen, sirrenden Ton, den nur er erzeugen kann, erkannt hat. Es bahnt sich ein Wiedersehen an, das entweder die Versöhnung oder den endgültigen Bruch bringen muß. In einer halben Stunde wird Massimo oben angelangt sein. Bis dahin vergeht ziemlich genau die Hälfte des Romans.
Während seines Aufstiegs fragt er sich, ob vielleicht ein anderer in dem Jahr seiner Abwesenheit seinen Platz eingenommen hat. Sie hatte es sich einen Moment lang gewünscht: "Wäre doch jetzt ein Mann da, einer, der ihm entschieden entgegentreten würde mit dem ganzen Recht dessen, der jetzt hier die Hühner schlachtet, das Holz schlägt, die Schafe schert, Wein und Lebensmittel aus dem Dorf heraufträgt und das Schuppendach restauriert." Sie denkt an die andere Frau, von der er kommt, dieses "Traumgebilde" aus einer ihr unbekannten Welt, und was er bei ihr gesucht und nicht gefunden hat. Ihm wiederum hat man unten im Dorf gesagt, Severina sei verrückt geworden. Sie selbst fragt sich hin und wieder auch, ob sie es wohl ist. Oder er? "Er war aus Severinas Leben gegangen, wie er in ihr Leben gekommen war: lächelnd, stolz, aufrecht, verrückt. Ist er vielleicht verrückt?"
Massimo ruft sich das Heimweh in Erinnerung, das er in Mailand empfunden hat, als er in die hohe Kuppel des Doms starrte, auf die riesige Madonna, die früher aus der Ferne so fragil winzig schien. Severina hadert mit dem Gott, der ihren kleinen Sebastiano hat sterben lassen. Er denkt an die Zeit, als der Sohn tot war und Severina trauerte. "Noch wochenlang deckte sie den Tisch für eine imaginäre Person am Tisch, monatelang stand die Wiege im Schlafzimmer, und den Winter über ging sie täglich zum Grab." Auch damals war sie verstummt.
Dann ist er oben angelangt: Von nun an läuft die Handlung vorwärts statt zurück. Die gemeinsame Geschichte jedoch geht nicht bruchlos weiter. Severina findet nicht gleich die Worte, um mit Massimo zu sprechen. Und er muß seinerseits erst eine Sprache finden, um zu ihr durchzudringen und ihr zu zeigen, daß er nicht nur in seine vertraute Umgebung zurückgekehrt ist, sondern auch zu ihr. So wird die Bürde und Notwendigkeit des Schweigens zu einer Herausforderung für beide. Ihre Versöhnung wird durch kein besonderes Ereignis besiegelt, sondern manifestiert sich in einem labilen Zustand zwischen Verzeihen und Vergessen. In ihm findet der Roman zu einem wunderbar schwebenden Schluß.
Bernd Schroeder: "Die Madonnina". Roman. Carl Hanser Verlag, München 2001. 205 S., geb., 35,01 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein Roman aus den Bergen, den italienischen Alpen nahe der Schweizer Grenze. Und in den Bergen, so heißt es doch allgemein, ist man ausgesprochen wortkarg. Die Stadt dagegen beziehungsweise der Stadtmensch ist geschwätzig, wie man schon an seiner ungehemmten Nutzung des Handys sieht. Um "Leid und List des Schweigens" geht es für Manfred Papst in Schroeders Roman, dem er einen "unangestrengten archaisierenden Ton" attestiert, der ohne jede Geschwätzigkeit daherkommt. Obwohl nicht nur einer redet in diesem Buch, sondern zwei: ein Paar, das sich auseinandergelebt hat, sie oben in den Bergen, er unten in der Stadt, und während er den Berg nach oben zu ihr hinaufsteigt und sie dort auf ihn wartet, gehen imaginäre Dialoge hin und her, ziehen andere am erzählerischen Strang, hinter dem letztlich ein ganzes Dorf sich verbirgt. Dem Autor, bisher eher als Fernseh- und Hörspielautor hervorgetreten, sei ein plausibler Roman gelungen, schreibt Papst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Die Madonnina ist ein Roman von außerordentlicher, von großer Schönheit." Barbara Piatti, Der Bund Bern, 16.02.02